'Die Stadt der Blinden' - Seiten 228 - 327

  • Sehr weit bin ich noch nicht in diesem Abschnitt, mir ging nur gerade etwas durch den Kopf, was ich nicht verlieren möchte:
    Die Frau des Arztes hat sehr viel Mut, vielleicht, bestimmt auch mit Verzweiflung gepaart. Sie tötet, um zu helfen. Sie tötet, weil das Töten etwas verändern kann. Wann darf man töten, wann ist Tyrannenmord erlaubt? Wie Bonhoeffer sinngemäß meinte, man muss Schuld auf sich laden, um größere Schuld zu verhindern?
    Die Frau ist an der Seite der Menschen, sie trägt die Schande der Frauen mit, sie teilt das Leid, weicht nicht von der Seite derer, die leiden müssen. Sie hilft, wo sie kann, mit Taten, mit Worten, mit Gesten. Kein Wunder, dass sie nicht blind ist.
    Ihr Mann ist zwar auch hilfsbereit, aber nicht in diesem Maße. Es kommt seine „Verpflichtung“ als Arzt hinzu, nämlich zu helfen. Außerdem hat er die Behören informiert, den Gang der Dinge in Bewegung gesetzt – ob er nun musste oder nicht. Kein Wunder, dass er blind wurde.
    Was ich damit meine: Der Kirchen-, Bibel- und Glaubenskritiker Saramago wollte meiner Meinung nach nicht nur zeigen, wie das menschliche Verhalten sich in Extremsituationen entwickelt, er wollte auch zeigen, dass es keines Gottes, keines Gottessohnes und keines Gottesglauben bedarf, um zu herauszustellen, zu was menschliche Fähigkeit im Mitleiden, im Zurseitestehen in der Lage ist. Mit einem anderen in Schmerz und Leid zu gehen, das ist außergewöhnlich, dass er die entsprechenden Fähigkeiten der Frau so herausstellt wie er es tut, im Grunde auch. Es ist, ob man sich Saramagos Meinung nun anschließt oder nicht, glaubwürdig erzählt.
    Seite 140: „Wo du hingehst, werde ich hingehen“ - ein weiterer, hier sehr deutlicher Verweis auf die Bibel (gemeint ist hier das Buch Rut). Frauensolidarität nennt man so etwas wohl heute. Auch wenn der Spruch für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr zum Trauspruch geworden ist. Man vergisst darüber zu leicht, wofür er stand.

  • Es gibt auf S. 209 schon einen Hinweis, da geht es noch darum, ob die Frauen tatsächlich gehen sollen. Da hebt die Frau des Arztes den Blick zur Schere an der Wand. Da habe ich mich schon gefragt, was sie wohl damit tun wird.


    Lipperin, dein Verweis auf Bonhoeffer passt hier gut, mit dem Schuld auf sich laden, um größere Schuld zu verhindern.
    Ich finde es auch besonders, dass es hier eine Frau ist, die tut, was getan werden muss. Ein positives Beispiel für die Rolle von Frauen in der Literatur. Ohne irgendeine Form von Heldenpose, von moralischem Gewäsch.

  • Auf S. 231 hört es sich so an, als ob der Tötungvorgang nicht von der Frau selbst ausgeht. Es heißt: "Die Hand hob langsam die Schere" und "Die Schere ... drehte sich um sich selbst, kämpfte gegen ... dann bohrte sie sich weiter vor ..."


    Ich hatte aber nicht den Einruck, dass die Tat reflexartig über die Frau gekommen war, sondern durchaus geplant und vorbereitet war.
    Die Frau hat die Tötung schon lange im Unterbewusstsein geplant, schließlich fiel ihr Blick immer wieder auf die Schere. Eine zeitlang verdrängte sie diesen Plan. Doch irgendwann war die Entscheidung gefallen. Sie geht bewusst an die Tat heran, doch in den Sekunden der Tötung hat sie sich kurzzeitig ausgeklinkt. Kurz danach steht sie aber voll und ganz dahinter. Sie würde es wieder tun, wenn es nötig wäre.


    Danach fragt sie sich: "Und wann ist es nötig zu töten ... Wenn der schon tot ist, der noch am Leben ist ... Worte, nur Worte, nichts weiter."

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen


    Ich finde es auch besonders, dass es hier eine Frau ist, die tut, was getan werden muss. Ein positives Beispiel für die Rolle von Frauen in der Literatur.


    Das empfinde ich auch so!
    In unserer feministischen Bücherliste sind wenig neue Bücher von modernen Autoren. Das liegt wahrscheinlich in erster Linie darin, dass manche Autoren und Autorinnen im positiven Sinne so von Gleichberechtigung geprägt sind, dass es im großen ganzen integriert ist und nicht mehr als Hauptthema benötigt wird.
    Bei Saramago kann man das wohl auch sagen, obwohl seine meisten Protagonisten männlich sind. Er hat aber einige gute Frauenfiguren geschaffen, neben der Frau des Arztes in diesem Buch auch zum Beispiel Doktor Maria Sara aus Die Geschichte der Belagerung von Lissabon.

  • Eine großartige Szene finde ich auch den Beginn dieses Abschnitts:
    Die niederträchtigen Blinden tauchen auf, um neue Frauen abzuholen und erkundigen sich, ob sich die Frauen aus dem ersten Saal vom Ansturm erholt hätten. Dabei fällt der Satz: "...sicher war eine von ihnen nicht viel wert", den die Frau des Arztes wiederholt, als sie vom Tod der schlaflosen Frau berichtet.
    Diese Bewertung dieses Satzes durch die "Boten" als schamlos, den sie selber vorher in so widerwärtiger Form gebraucht haben.
    In einer so kleinen Szene, so viel auszusagen, das ist auch etwas Besonderes.

  • Nein, ihre Meinung war das sicher nicht. Zuerst war ich selber schockiert. Warum sollte sie so etwas sagen?
    Ich denke, sie wollte die drei provozieren, ihnen eine Reaktion entlocken. Vielleicht sogar die Hoffnung auf eine menschlichere Reaktion. Die natürlich ganz anders kam, nämlich in der heuchlerischen Empörung der Boten. Ich bin mir gar nicht so ganz sicher warum, aber das konnte ich kaum fassen. Diese Kerle wagen es, das Wort Schamlosigkeit auch nur zu denken. Da kriege ich Mordgelüste.
    Andererseits ist das ja nur eine Möglichkeit, die der Erzähler in Erwägung zieht. Es ist ja nirgends gesagt, dass sie das dachten. Es wird nur ihre zögerliche Reaktion beschrieben.

  • Ich mach mal einen kleinen Sprung.
    Die Blinden sind frei. Auch die Stadtbevölkerung ist blind. Die Schranken sind gefallen.
    S. 294 Es gibt keinen Unterschied zwischen drinnen und draußen, zwischen hier und dort, zwischen den wenigen und den vielen, zwischen dem, was wir erleben, und dem, was wir noch erleben werden ...


    Es tauchen verwilderte Hunde auf (S.285).
    Da viel mir sofort der Vergleich mit Hunden (S. 76) wieder ein.
    Ein Hund begleitet sie. Einerseits ist er ein verwilderter, streunender Hund, doch auch zwischendurch "erinnert er sich, wer er ist", leckt der Frau die Tränen ab. Doch dann ist er wieder "ein rauhes, unwilliges Tier, wenn er keine Tränen trocknen muss". (S. 291)
    S.295 Der Hund "folgt der Frau des Arztes und nicht dem Geruch nach totem Fleisch, er begleitet Augen, von denen er sehr wohl weiß, dass sie lebendig sind".
    Dieser Hund erinnert sich durch die Tränen der Frau an seine vorherige Familie, an sein früheres Leben und kehrt in seinen Verhaltensweisen wieder dahin zurück, wenn auch die jeweilige Situation so ist wie früher.
    Auch die Menschen fangen wieder an ihr früheres Leben zu suchen.

  • Die Frau des Arztes ist jetzt vom Glück begünstigt. Oder ist es Vorsehung? Sie findet den Lagerraum eines Geschäfts. Da es dort auf Grund des ausgefallenen Stroms stockfinster ist, erlebt sie zum erstenmal Blindheit am eigenen Leib.
    Es fallen ihr zufällig Streichhölzer in die Hände und als sie sich in der Stadt verirrt hatte, steht da ein Stadtplan.
    Es fällt auch der Satz: "Es ist wie alles im Leben, nur Gemach, die Zeit löst alle Probleme."


    Ich bekomme jetzt langsam auch das Gefühl, dass es wieder bergauf geht. Doch wie kann eine langfrisige Lösung ausschauen, wenn die Blindheit noch länger anhält?

  • made, man kann es Glück nennen. Allerdings ist das Leben doch leichter, wenn man sehen kann. Sie denkt auch viel klarer als die meisten Blinden, was kein Wunder ist.
    Die kleine Gruppe ist jetzt frei, das Leben ist trotzdem eine traurige Angelegenheit. Hatte man in der "Irrenanstalt" vielleicht noch die Hoffnung, draußen gäbe es bessere Zustände, dann ist die jetzt verflogen. Alles ist zusammengebrochen.
    Da immer noch weiterzumachen, das finde ich eine große Leistung. Die Menschlichkeit zu behalten, gegenüber der alten Wohnungsnachbarin.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Sie denkt auch viel klarer als die meisten Blinden, was kein Wunder ist.


    Was man auch wieder im übertragenen Sinn sehen kann. Diese Blindheit ist ja genau diese geistige Eingeschränktheit, die aus der Angst entsteht. "blind vor Angst" heißt es immer wieder, aber auch "blind vor Bedrohung und Geilheit". Und der alten Frau hat die Einsamkeit auf den Verstand geschlagen.
    Die Frau des Arztes ist anscheinend die einzige, die frei von einnebelnden Faktoren ist.

  • Vielleicht meint der Autor nichts Konkretes. Es gibt viele Situationen oder Ursachen, die blind machen.
    Angst, Drohung, Vorurteile, Unwissenheit, Manipulationen, Werbung, Propaganda, Unwissenheit, Verletzungen, Hass, Armut, ...
    Dann behandeln wir unsere Mitmenschen ungerecht, laufen falschen Werten hinterher, setzen falsche Prioritäten im Leben, legen uns falsche Freunde zu.

  • S. 299 Die alte Frau isst rohes Fleisch! Und auch die Hühner gewöhnen sich schon an Fleisch!
    :yikes


    Das hätte sie früher bestimmt nicht von sich gedacht. Es trifft so ein, wie es im Buch früher schon angekündigt wurde. Die Menschen kennen sich selbst nicht mehr. Deshalb sind sie namenlos. Und in gewissen Sinn tot.
    S. 306 ... wir sind blind, weil wir tot sind, oder, wenn du willst, wir sind tot, weil wir blind sind ...

  • Die Frau des Arztes warnt die junge Frau davor, wieder zu ihrem früheren Leben zurückkehren zu wollen. Denn die Menschen haben sich verändert. "... durch die Erblindung ist man nicht mehr der, der man einmal war."
    "die Gefühle ... gehörten zu den Augen, mit denen wir geboren wurden, ohne Augen werden die Gefühle anders sein ... (S. 307).


    Auch hier wird wieder zurückgegriffen auf Aussagen vom Anfang, wo gesagt wurde, dass die Augen der Spiegel der Seele sind. Und wenn die Augen sich verändern, verändert sich dann auch die Seele? Das habe ich anfangs nicht geglaubt. Doch jetzt betrachtet sich keiner mehr als so menschlich, wie er es vorher zu sein glaubte. (S. 311)


    Die Gruppe beschließt zusammenzubleiben, sie müssen neue Pläne machen. Auch wenn sie nicht langfristig planen können, ganz ohne Zukunft macht die Gegenwart keinen Sinn.

  • Seite 251 ist eine dieser jetzt mehrfach vorkommenden Stellen, an denen ich den Eindruck habe, es gibt nicht nur zwei oder drei Erzählstimmen, sondern manchmal wird das „wir“ gebraucht wie der Chor in einer griechischen Tragödie. Es hat einen eigenartigen Effekt, manchmal habe ich das Gefühl, Saramago wolle auffordern, „mitzusprechen“, wolle nicht nur die Geschichte erzählen, sondern man soll sich wenigstens in Teilen mit ihr identifizieren, solle sie erleben.


    Seite 256: „... auch das ist Blindheit, in einer Welt zu laben, in der die Hoffnung aufgehört hat“. Mal ganz abgesehen davon, dass jeder Atemzug, jeder Schritt ein gewisses Maß an Hoffnung hat, blieb die Frau des Arztes sehend, weil sie – auch – für die Hoffnung steht?


    Die Frau, die für den Brand sorgt – es wird zwar nicht so genau gesagt, zumindest lese ich es nicht so, aber ich gehe davon aus, es ist die, die gesagt hat „wo du hingehst ...“.


    Die „Befreiung“ aus der Irrenanstalt liest sich wieder einmal wie ein Bericht aus einem KZ. Schwach, zerlumpt, viele sind tot, einige leben so lange, bis sie in Freiheit sind und sterben dort. Auch die Beschreibungen aus der Stadt – wie nach einem Krieg. Die Menschen irren umher, hungrig und müde, sie sind – noch – blind. Blind von dem, was sie hingenommen haben, hinnehmen mussten? Man fragt sich voller Beklommenheit, was denn wohl passiert, wenn das Essen noch knapper wird, wenn sich wieder „solche“ organisieren, dann bleibt zumindest die Blindheit und der Terror geht weiter.
    Es werden im Schlussteil dieses Abschnitts einige Fragen aufgeworfen, die so leicht nicht zu beantworten sind. Da erscheint es mir gut, dass es Fragen und Gegenfragen gibt, die Blindheit gibt den nötigen Raum für Nachdenklichkeit, so man denn nachzudenken wünscht und nicht nur lamentiert. Die Frage, ob sich die Menschheit durch das Augenlicht definiert, ist sicher zu stellen, aber die Antwort, die die Frau des Arztes selbst gibt, ist mir ein wenig zu kurz. Die Menschheit ist trotzdem eine Menschheit, nur eine andere, andere Werte werden in den Vordergrund geraten, ein anderes Miteinander wird sich etablieren. „Wir kehren zur primitiven Horde zurück“ (Seite 310), das ist vielleicht doch auch eine Chance und nicht nur schlecht.
    Stellenweise kommt es mir vor wie die Erschaffung einer neuen Welt. Chaos herrscht, es muss sich erst bilden, was gebildet werden soll. Es gibt jemanden, der resp. die den Überblick behält. Und es tun sich immer wieder kleine Wunder auf.

  • Ich kann wieder gar nicht viel Neues beitragen.
    Mir schwirrt die ganze Zeit eine Überschrift im Kopf herum- "Zusammenbruch"
    Die geordnete Welt bricht zusammen, die Lebensmittelversorgung, die Stromversorgung, das Bankensystem, die Werteordnung, die Selbstachtung... Eine Art Apokalypse oder der Vorhof zur Hölle.
    Erschreckend und spannend zugleich.


    Ein weiterer Gedanke kam mir. Wenn die Erblindung als Metapher anzusehen ist, also Blindheit vor Mitgefühl, Verantwortung, Mitmenschlichkeit und diese Gedanken quasi ansteckend waren, vielleicht schafft es ja auch die Sehkraft der Frau, die anderen wieder mit ihrer Mitmenschlichkeit und ihrer Wärme anzustecken, im positiven Sinn.


    Ist nicht manchmal ein Zusammenbruch nötig, damit Neues entstehen kann?

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin