Seelensee
Selene scheint ein fröhliches 8jähriges Mädchen zu sein. In der Schule hat sie immer ein strahlendes Lächeln auf den Lippen und mit ihrem schulterlangen, blonden Locken und ihren strahlend blauen Augen, ist sie einem Engel gleich. Sie ist sehr klug und geistig weiter entwickelt als andere Kinder in ihrem Alter, was wohl an ihrer strengen Erziehung liegen mag.
Nach der Schule, wenn ihr Vater noch nicht zu Hause ist, geht sie immer mit den Hunden spazieren und läuft mit ihnen und den warmen Sommerwind um die Wette.
Doch heute ist Freitag und ihr Vater wird schon zu Hause sein wenn sie von der Schule kommt. Heute wird sie nicht mit den Hunden und den Wind um die Wette laufen. Schon nach Schulschluss, als sie mit ihrer Freundin und Nachbarin Diana auf den Schulbus wartet, ist sie sehr still und spricht nur sehr wenig mit Diana. Während Diana ihr den neusten Klatsch und Tratsch in der Schule erzählt, denk Selene nur an daran, was heute wieder passieren wird wenn sie zu Hause ist. In ihr steigt die Angst auf, Angst nach Hause zu fahren und wünscht sich insgeheim nicht nach Hause zu müssen. Als sie im Schulbus sitzen, ist Selene so tief in ihren Gedanken versunken, dass sie die pausenlos plappernde Diana nicht mehr hört.
Zu Hause angekommen, trennen sich ihre Wege. Selene geht durch das große, neu gebaute Tor auf den Hof, doch niemand, auch die Hunde, ist zu sehen.
„Papa ist wohl noch mit den Hunden spazieren.“ denkt sie sich und geht ins Haus.
Sie geht durch die Küche in das kleine Gästewohnzimmer wo sie ihre Schultasche abstellt, um später dort ihre Hausaufgaben zu machen.
Ihre Mutter ist noch auf Arbeit und kommt erst gegen Abend wieder nach Hause, daher muss Selene das Essen für sich und ihren Vater kochen.
Heute stehen Nudeln mit Tomatensoße auf dem Plan und sie geht in die Küche um das Essen vorzubereiten, damit es fertig ist wenn ihr Vater mit den Hunden zurück ist.
Auf den Küchentisch sieht sie einen kleinen Zettel und etwas Geld liegen, sie muss also heute noch einkaufen gehen, aber das wird sie nach dem Essen machen.
Das Essen ist gerade rechtzeitig fertig, als ihr Vater grad mit den Hunden zurück kommt. Sie bereitet den Esstisch vor, damit ihr Vater sich gleich an den Tisch setzen kann wenn er rein kommt. Als er die Küche betritt, sagt er keinen Ton zu Selene, auch keine Begrüßung. Aber das kennt sie schon von ihm, immer dann wenn er schlecht gelaunt ist ist er so. Er setzt sich an den Tisch und lässt sich das Essen auffüllen. Nun sitzen sie beide am Tisch und essen, niemand sagt etwas, denn während des Essens darf nicht geredet werden.
Nach dem Essen dann sagt er schließlich:
„Wenn du einkaufen gehst bring mir Bier mit.“
„Ja Papa“
Mehr sagen sie nicht.
Selene räumt den Tisch ab, nimmt das Geld und den Einkaufszettel und fährt mit dem Fahrrad in das 2km entfernte Dorf um dort einzukaufen. Es ist nicht viel was sie einkaufen muss, aber durch die 8 Bierflaschen ist der Beutel sehr schwer für sie, was ihr die Fahrt nach Hause erschwert.
Zu Hause angekommen räumt sie den Einkauf weg, geht wieder in das Gästewohnzimmer wo an einer Wand ein Arbeitsplan für sie hängt. Alle anfallenden Arbeiten sind mit einer Uhrzeit versehen die sie einhalten muss.
„15 bis 16 Uhr Hausaufgaben mit Papa.“ liest sie leise vor sich hin.
Sie schaut auf die große Wanduhr aus Holz mit dem Messingfarbenen Ziffernblatt und dem großen Messingpendel. Die Zahlen der Uhr sind römisch und sie hat manchmal Probleme sie zu lesen, aber heute brauch sie nicht lange um zu erkennen, dass es fünf Minuten vor drei ist. Das lesen der Uhr hat sie in der Schule noch nicht gelernt aber ihr Vater brachte es ihr bei, wie auch das Lesen, noch bevor sie zur Schule kam.
Selene bereitet alles auf dem großen runden Tisch aus Kiefernholz vor, damit sie und ihr Vater mit den Hausaufgaben beginnen können.
Sie möchte lieber ihre Hausaufgaben alleine machen, da ihr Vater, der sehr streng ist, immer sehr böse mit ihr wird, wenn sie etwas nicht versteht oder falsch gemacht hat.
Nach den Hausaufgaben macht sie das Haus sauber, putzt die Zuckerrüben, die auf dem Hof unter einer Plane liegen, damit sie nicht nass werden und bereitet danach das Futter für die fünf Rinder vor.
Währenddessen kommt auch ihre Mutter von der Arbeit nach Hause und hilft ihr dabei.
Nachdem sie ihre heutigen Aufgaben erledigt hat bereitet sie das Abendessen für sich vor, denn abends muss sie immer alleine Essen. Nach dem Essen geht sie ins Bad und macht sich fertig zum schlafen gehen. Nur noch ins Wohnzimmer und Gut-Nacht sagen, dann geht´s ins Bett. Sie liegt noch lange wach in ihrem dunklen Zimmer, denn sie hat Angst einzuschlafen, dann hört sie wie die Tür auf geht und ein Lichtstrahl erhellt kurz das Zimmer. Die Tür schließt sich es ist wieder dunkel und sie hört wie er immer näher kommt und sich zu ihr in das Bett legt.
Er bleibt nicht lange, nur einige Minuten, aber Selene kommt es vor wie eine Ewigkeit.
Nachdem er sich genommen hat was er wollte, geht er wieder und lässt Selene still weinend und von seinem Schmutz befleckt zurück.
Am nächsten Morgen steht Selene schon sehr früh auf, sie hat die ganze Nacht, wie fast jede Nacht, kaum geschlafen.
Sie geht ins Bad, wäscht sich, zieht sich an und geht mit den Hunden spazieren.
Das macht sie jeden Morgen, aber nur an den Wochenenden, in der Woche, bevor sie zur Schule geht, geht sie nur morgens in den Stall, wo die Hunde schlafen, erzählt ihnen was sie erlebt hat und verabschiedet sich von ihnen bis zum Nachmittag. Heute erzählt sie ihnen alles was in der Nacht zuvor passierte während sie die Hunde von ihren Ketten losbindet.
Die Hunde freuen sich, wedeln mit den Schwänzen und schlabbern Selene im Gesicht. Normalerweise freut sie sich darüber, denn so weiß sie, dass ihre einzigen Freunde sie lieb haben. Aber heute weicht sie ihnen aus und stößt sie vorsichtig zurück. Sie geht mit ihnen auf das große Feld wo die Hunde ausgelassen herumtoben. Sie selbst geht langsam hinter ihnen her. Heute läuft sie nicht mit ihnen um die Wette, sie ist wahrhaftig nicht in der Stimmung dazu. Nur ab und zu ruft sie sie, wenn sie aus ihrer Sichtweite sind.
Als sie das Feld überquert haben und das Haus nicht mehr zu sehen ist, kommt sie an einem Graben entlang der um diese Jahreszeit immer ausgetrocknet ist. Doch diesmal ist es nicht so. Ein kleiner Wasserfluss bahnt sich seinen Weg durch das ausgedorrte Gras. Die Wellen glitzern in der Morgensonne wie kleine Kristalle und die Hunde tollen ausgelassen im Wasser herum, während Selene die funkelnden, kleinen Wellen beobachtet. Langsam steigt sie den Graben hinunter, hockt sich nieder und hält ihre kleine Hand in das Wasser. Die Wellen stricheln sanft ihre Finger und sie sieht wie eines ihrer lockigen Haare vom lauen Sommerwind sanft auf die Wellen getragen wird. Sie steht auf und beschließt den Wellen, die ihr Haar tragen, zu folgen. Auf die beiden Hunde brauch sie nicht zu achten, denn sie weiß sie werden ihr folgen. Ab und zu verliert sie das Haar aus den Augen aber dennoch geht sie weiter. Der kleine Bach mündet in einem kleinen See auf dem zwei Schwäne schwimmen und ihr fällt auf, dass sie sich nicht von der Stelle bewegen. Sie setzt sich an den kleinen See, weit genug entfernt, dass sie nicht nass wird und beobachtet das Glitzern der kleinen Wellen. Tief in ihren Gedanken versunken, hört sie auf einmal eine sanfte, weibliche Stimme.
„Hallo Selene, ich habe dich erwartet.“
Erschrocken aus ihren Gedanken gerissen blickt Selene um sich, doch außer die, noch immer an derselben Stelle schwimmenden, Schwäne und die beiden tollenden Hunde auf dem Feld, ist niemand zu sehen.
Wieder richtet sie ihren Blick auf den stillen See und versinkt in ihren Gedanken.
„Selene, hörst du mich?“
Selene schaut sich nochmals, aus ihren Gedanken gerissen, um, doch noch immer ist niemand zu sehen.
„Wo bist du?“ fragt Selene.
„Ich bin hier, direkt vor dir.“
Selene schaut auf den See.
„Ich sehe dich nicht.“
„Ich bin es, der See. Du schaust grade zu mir herüber.“
Selene findet es sehr merkwürdig was grad passiert.
„Seit wann kann ein See reden?“ fragt sie.
„Das konnte ich schon immer, nur gab es bisher keinen Grund und auch keine Möglichkeit zu dir zu sprechen.“
„Kann denn jeder See reden?“ fragt Selene neugierig.
„Nein, nur ganz besondere Seen.“
„Bist du denn ein besonderer See?“
„Ja, das bin ich. Ich bin der Seelensee.“
„Der Seelensee? Was bedeutet das?“
„Siehst du das Glitzern der Wellen auf mir?“
„Ja.“
„Jedes einzelne Glitzern ist eine Seele die aus ihrem Körper geflohen ist und zu mir gebracht wurde.“
Selene tritt dichter an den See, hockt sich nieder, hält ihre Hand in das kühle, seichte Wasser und fragt:
„Sag mir, hast du meine Seele gesehen?“
„Ja, sie ist hier bei mir. Dort zwischen den beiden Schwänen, dort wo es so hell funkelt, das ist deine Seele, Selene.“
„Warum ist sie hier? Wie kommt sie hier her?“
„Deine Seele ist aus deinem Körper geflohen, weil sie die Schmerzen nicht ertragen konnte die ihr und deinem Körper zugefügt werden.“
„Aber wie kommt sie hier her?“
„Die Schwäne haben sie vor einigen Wochen zu mir gebracht. Als sie eines Nachts über dein Haus hinweg flogen haben sie sie gefunden und brachten sie zu mir.“
„Woher wusstest du, dass ich zu dir komme?“
„Nun, du kommst fast jeden Tag hier her, doch nie warst du alleine hier, daher ich konnte ich nicht mit dir reden. Aber heute bist du alleine hier und meine Wellen führten dich zu mir.“
„Woher wusstest du dass ich heute zu dir komme?“
„Weißt du noch, als der Wind eines deiner Haare auf die Wellen legte und diese es zu mir trugen?“
„Ja.“
„Als dein Haar die Wellen berührte, haben diese es mir erzählt. Und da deine Seele bei mir ruht trugen die Wellen das Haar zu mir und führten dich hier her.“
„Aber was wäre wenn meine Seele nicht bei dir wäre?“
„Dann hätten die Wellen das Haar wieder an Land getragen.“
„Ich verstehe.“
Selene hockt nachdenklich am See und betrachtet das Funkeln zwischen den Schwänen die sich noch immer nicht von der Stelle bewegten. Sie findet auch dies sehr merkwürdig und fragt den See:
„Warum bewegen die Schwäne sich nicht, Sind die nicht lebendig?“
„Die Schwäne sind meine Wächter, sie tragen jede geflohene Seele zu mir und bewachen sie.“
„Wenn meine Seele geflohen ist, ist sie denn jetzt auch frei?“
„Nein kleine Selene, sie ist noch nicht frei. Sie ist noch immer an deinen Körper gebunden.“
„Wie kann meine Seele denn frei werden?“
„Möchtest du es wirklich wissen?“
„Ja, das möchte ich.“
„Nagut. Solange ein Mensch lebt, ist seine Seele an ihm gebunden. Auch wenn sie geflohen ist, so ist sie noch immer nicht frei. Erst wenn der Mensch stirbt, egal wie jung oder alt er ist, ist seine Seele frei und wird zu einem funkelnden Stern am Himmel.“
„Ich muss also sterben, damit meine Seele frei ist?“
„Ja, so ist es.“
Selene steht auf, schaut über das Feld wo die beiden Hunde sich in der Sonne ausruhen und denkt über das gesagte nach. Denkt daran was passieren wird, wenn sie wieder nach Hause kommt. Sie ist schon sehr lange weg, ihr Vater wird schon sehr wütend sein und auf sie warten oder mit dem Gürtel in der Hand nach ihr suchen. Wenn sie nach Hause kommt wird er sie böse bestrafen, denn sie darf nicht so lange weg bleiben. Bei den Gedanken daran bekommt sie Angst, Angst nach Hause zu gehen.
Schließlich richtet sie ihren Blick wieder auf den See.
„Ich möchte, dass meine Seele frei ist.“ sagt sie entschlossen.
„Möchtest du das wirklich? Hast du es dir genau überlegt, denn es gibt dann kein zurück mehr.“ Sagt der See, während die Schwäne auf Selene zuschwimmen.
„Ja, das habe ich. Aber was ist mit den Hunden und meiner Mama?“ fragt Selene besorgt.
„Die Hunde werden den Weg nach Hause alleine finden und wenn nicht, werden meine Wächter sie begleiten. Und deine Mutter, nun, auch ihre Seele ist bereits bei mir, aber es ist ihre Entscheidung, ob sie sie befreien will oder nicht.“
„Aber sie wird sehr traurig sein, wenn ich nicht mehr nach Hause komme.“ sagt Selene besorgt.
„Sie weiß, dass es dir überall besser geht als zu Hause.“
Die Schwäne haben bereits das Ufer erreicht und schauen Selene an.
In der Ferne hört Selene ihren Vater rufen:
„Selene! Selene, wo bist du! Komm sofort hier her!“
Angst durchfährt ihren Körper, ihr bleibt nicht mehr viel Zeit zum nachdenken.
Als sie sich noch einmal umschaut steht einer der Hunde hechelnd und schwanzwedelnd neben ihr. Sie nimmt ihre kleine rote Spange aus dem Haar die ihr Pony hält und befestigt sie an dem zotteligen Fell des Hundes. Sie kniet zu ihm nieder, schaut ihm in die Augen und sagt:
„Sag Mama, dass sie keine Angst um mich haben braucht und dass ich sie lieb hab. Geb gut auf sie acht.“
Während sie das sagt, stupst sie dem Hund mit dem Zeigefinger auf die kalte, schwarze Nase.
Nun richtet sie sich auf und geht zu den Schwänen.
„Möchtest du es wirklich?“ fragt der See sie nochmals.
„Ja.“
„Dann komm zu mir. Meine Wächter werden dich begleiten.“
Ein letztes Mal dreht Selene sich um, sieht die am Ufer aufgeregt hin und her rennenden, kläffenden Hunde und winkt ihnen ein letztes mal zu. Noch immer hört sie ihren wütenden Vater rufen, er kommt immer dichter, Angst steigt in ihr auf und ihr Entschluss festigt sich immer mehr.
Die Angst treibt sie tiefer in das Wasser, sie weiß, sie wird nie zurückkehren.
poem