Fliegen tut not, Leben nicht
Wir schreiben das Jahr 1910. Das geglückte Experiment des Menschen, sich mit Hilfe einer motorisierten Maschine in die Lüfte zu erheben, wagt nun den nächsten Schritt: Was bislang eine mutigen Wahnsinnstat war, soll nun ein wirtschaftlich ertragreiches Geschäft werden. Zu diesem Zweck wurde ein Jahr zuvor in Johannisthal bei Berlin ein Flugplatz für motorisierte Luftfahrzeuge gegründet. In jener Zeit hatte ein Flugplatz nicht nur die Aufgabe, den Flugbetrieb abzuwickeln, er war gleichzeitig Produktionsstätte, Experimentierfeld und Übungsgelände. Konstrukteurs-Firmen schießen wie Pilze aus dem Boden und lassen sich auf dem neuen Gelände nieder. Darunter auch die „Flugmaschine Wright GmbH“, die deutsche Vermarktungsgesellschaft der berühmten Flugpioniere aus den USA.
Die junge, aus Dresden stammende Kunsthochschulabsolventin Amelie Hedwig Beese, die von allen nur „Melli“ genannt wird, hat in ihrer Jugendzeit über die Presse miterlebt, wie der ewige Traum des Menschen in Erfüllung gegangen ist, der Schwerkraft zu trotzen und sich mit Hilfe einer Maschine in die Lüfte zu erheben. Sie wird von der allgemeinen Euphorie abgesteckt, die dieses Ereignis auslöst. Seitdem will sie nur noch eines: Selbst Pilotin werden. Die einzige Tochter eines Architekten ist eine sehr charakterstarke, durchsetzungsfähige Persönlichkeit. Sie hat es abgelehnt, den damals für die Frau vorgeschriebenen Weg einer Hausfrau und Mutter zu beschreiten. In Deutschland ist es ihr nicht möglich gewesen, ein Studium zu absolvieren. Deshalb ist sie nach Schweden gegangen und hat in Stockholm an der Akademie der Künste Bildhauerei studiert. Mit großem Erfolg. Ihre Skulpturen sind in der Kunstszene inzwischen sehr geschätzt und preisgekrönt.
Doch nun hört sie, dass die Französin Raymonde de Laroche als erste Frau einen Pilotenschein gemacht hat und nun gibt es für Melli kein Halten mehr. Sie muss es ihr gleichtun und beschäftigt sich ab sofort nicht mehr mit den schönen Künsten sondern studiert Mathematik, Ingenieurswissenschaften und Maschinenbau. Der neue Flugplatz in Johannisthal sucht Flugschüler und sie ist entschlossen sich dort ihren Traum zu erfüllen. Schweren Herzens bittet sie ihre Eltern um Unterstützung, denn die Ausbildung soll 4000 Reichsmark kosten, das entspricht zu dieser Zeit einem fünffachen durchschnittlichen Jahreseinkommen. Die Eltern sind zwar gut situiert aber nicht wirklich reich und dennoch erfährt sie von ihnen jede nur erdenkliche Unterstützung für das ungewöhnliche Vorhaben.
Als sie bei den ansässigen Konstrukteursfirmen vorspricht, reagiert man ablehnend, denn das Fliegen ist in Deutschland eine reine Männerdomäne. Der angehende Pilot muss schließlich nicht nur die Maschine steuern können, er ist gleichermaßen auch Maschinenschlosser und Konstrukteur, jemand der schwere körperliche Arbeit verrichten muss. Nachdem sie auch von der Firma der Wrights abgehlehnt worden ist, findet sie schließlich einen Platz bei der Firma „Ad Astra“. Ihr Fluglehrer ist Robert Thelen, ein gefeierter deutscher Flugpionier. Auch er ist nicht begeistert davon, eine Frau zu unterrichten, doch durch ihre Hartnäckigkeit erfährt sie zögerliche Unterstützung und nach Wochen des Drängens darf sie mit ihrem Lehrer einen ersten gemeinsamen Übungsflug absolvieren. Aber ein herber Rückschlag folgt schon beim zweiten Versuch. Während des Fluges setzt der Motor aus, sie stürzen ab. Wie durch ein Wunder überleben beide. Melli erleidet jedoch einen mehrfachen Fußbruch.
Während der Genesung wird ihr gegen die Schmerzen Morphium verschrieben, was später zu einer lebenslangen Abhängigkeit führt. Sie konstruiert in dieser Zeit ein detailgetreues Flugmodell der Wright-Maschine und will nichts weiter, als so bald wie möglich wieder in ein Flugzeug zu steigen. Als sie auf den Flugplatz zurückkehrt muss sie jedoch erfahren, dass es in absehbarer Zeit keine weiteren Flüge geben wird. In dem Aberglauben, dass die Anwesenheit einer Frau in der Maschine Unglück bringe, lehnt Thelen es ab, weiter mit ihr zu fliegen. Außerdem hält er es inzwischen für unverantwortlich, Melli dem Risiko eines erneuten Absturzes auszusetzen. In gegenseitigem Einvernehmen wird der Ausbildungsvertrag aufgelöst.
Melli geht nach Weimar, wo sie ein paar Flugstunden ablegen darf. Erstmalig wird es ihr ermöglicht, ein Flugzeug allein über längere Zeit zu steuern und sie erlebt das Gefühl wie es ist, die Entscheidung über Leben und Tod unmittelbar in der eigenen Hand zu halten. Für die Ablegung ihres Pilotenscheins findet sie aber auch dort keine Unterstützung. Enttäuscht kehrt sie nach Johannisthal zurück und wendet sich in ihrer Verzweiflung an den Eigentümer des Flugplatzes Georg von Tschudi. Es gelingt ihr, ihn davon zu überzeugen, welche Zugkraft der Flugplatz haben könnte, wenn er die erste deutsche Flugpilotin präsentieren würde. Für den September 1911 ist eine große Flugshow geplant und Tschudi ist sich bewusst, dass eine Frau im Flugzeug ein enormer Zuschauermagnet wäre.
Er verschafft ihr einen Ausbildungsplatz bei der Firma Rumpler unter der deutschen Fliegerlegende Hellmuth Hirth als Fluglehrer. Während die Benachteiligung der Pilotin bei Thelen noch aus Besorgnis um ihr Wohlergehen geschehen war, äußert sich dieselbe bei Hirth in offener Verachtung. In dieser Haltung wird er von männlichen Flugschülern bei Rumpler massiv unterstützt Melli erhält kaum die Gelegenheit zu Probeflügen, nur die Protektion ihres Gönners Tschudi und des Eigentümers Rumpler ermöglichen es ihr, überhaupt in die Luft aufzusteigen, wenn auch nur mit der in die Jahre gekommenen „Rumpler-Taube“. Ihre Gegner schrecken jedoch auch nicht vor lebensgefährdenden Sabotageakten zurück, um der angehenden Pilotin Steine in den Weg zu legen. Immer wieder wird die Maschine vor einem Testflug von Unbekannten manipuliert. So muss sie auch ihren ersten Prüfungsflug, den sie kaum ausreichend vorbereitet ablegt, wegen eines Kraftstofflecks direkt nach dem Abheben abbrechen. Der Benzintank war manipuliert worden, wie sich später herausstellt.
Doch auch davon lässt sich Melli Beese nicht aufhalten. Um noch rechtzeitig vor der Flugshow ihren Pilotenschein zu machen, greift sie zu einer List. Es ist der frühe Morgen des 13. September 1911, ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag, als sie auf dem Gelände erscheint. Ihre Kollegen sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf dem Gelände oder sie sind wie Hirth bei einer auswärtigen Flugveranstaltung unterwegs. Melli findet auf dem Gelände Unterstützer. Es sind in Pilotenkreisen angesehene Ausbilder, die ihr helfen. Sie beurkunden amtlich, dass sie die zum Bestehen der Prüfung geforderten Flugrunden mit ihrer Rumpler-Taube bravourös ablegt. Nun ist sie die erste anerkannte Pilotin des deutschen Reiches und ihrer Teilnahme an der Flugshow steht scheinbar nichts mehr im Wege.
Doch auch hier weht ihr ein heftiger Gegenwind ins Gesicht. Einige angesehene Piloten drohen dem Veranstalter mit einer Absage, wenn sie gemeinsam mit einer Frau starten müssten. Aber Tschudi bleibt standhaft und so startet sie im Oktober zu einem Flug, der gleich zwei Weltrekorde für Frauen aufstellt: Zwei Stunden und zwanzig Minuten ist sie unterwegs und erreicht eine Flughöhe von 825 Metern. Als einzige Frau erreicht sie den fünften Platz unter vierundzwanzig Teilnehmern.
Melli Beese wird in der Presse gefeiert, aber sie sieht sich noch nicht am Ziel ihrer Wünsche. Nicht die Jagd nach Rekorden ist es jetzt, was sie jetzt antreibt, sie will die Fliegerei zu einem erfolgreichen Geschäft entwickeln. Sie gründet gemeinsam mit dem sächsischen Flugpionier Herrmann Reichelt die „Flugschule Melli Beese GmbH“. Einer ihrer ersten Schüler ist der Franzose Charles Boutard, der bald darauf als Teilhaber einsteigt. Neben der Ausbildung von Piloten und Pilotinnen, widmen sie sich der Konstruktion von Fluggeräten. Melli Beese konstruiert ihre eigene Version der Rumpler-Taube, die Melli-Beese-Taube, die wesentlich billiger ist als das Original, bei deutlich verbesserter Sicherheit. Ein weiteres Patent erwirbt sie sich mit einer sensationellen Erfindung: Den Plänen zur Konstruktion eines Flugbootes.
Ihr Leben scheint auch privat auf dem Höhepunkt angekommen zu sein, als sie sich in ihren Compagnon Boutard verliebt und die beiden im Januar 1913 heiraten. Damit wird sie automatisch französische Staatsbürgerin. Aber dieser Schritt hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt stattfinden können. Kurz bevor sie 1914 ihr Flugboot fertigstellen und einen Probeflug absolvieren kann, bricht der erste Weltkrieg aus. Boutard wird als Feind des Reiches inhaftiert, das Vermögen der Firma beschlagnahmt. Melli Beese darf den Flugplatz nicht mehr betreten. Ihr Mann wird zwar nach einiger Zeit entlassen, aber sie werden nach Wittstock verbannt und stehen dort unter Hausarrest. Zunächst erkrankt Charles an Tuberkulose und dann ist auch Melli davon betroffen. Ihre Morphiumsucht gewinnt in dieser verzweifelten Lage die Überhand.
Nach dem Kriegsende scheint sich das Schicksal noch einmal zum Guten zu wenden. Das deutsche Reich hat den Krieg verloren und sie stehen auf der Seite der Gewinner. Das Paar strengt eine Klage auf Schadensersatz an und bekommt nach zähen Verhandlungen 80 000 Reichsmark zugesprochen. Die Fliegerei bietet aufgrund der Auflagen des Versailler Vertrages in Deutschland keine wirtschaftliche Grundlage mehr. Deshalb stecken sie das Geld in die Automobilindustrie. Doch diese Investition geschieht wiederum zum falschen Zeitpunkt. Die Inflation, die mit der großen Weltwirtschaftskrise einhergeht, macht ihr gerade erkämpftes Vermögen fast vollständig wieder zunichte.
Noch einen letzten Versuch sollte es geben, das Blatt zum Guten zu wenden. Melli Beese plant mit ihrem Mann Charles Boutard um die Welt zu fliegen und dieses Abenteuer für Jedermann in einem Film miterlebbar zu machen. Dadurch sollen die Kosten des Projektes wieder eingespielt werden. Mit großem Eifer geht das Ehepaar an diese Aufgabe, erste Investoren werden gefunden und ein Probefilm gedreht. Doch dann muss Melli ihren abgelaufenen Pilotenschein erneuern. Bei der erforderlichen Prüfung erleidet sie eine Bruchlandung. Nun gerät auch das Filmprojekt ins Stocken, es werden nicht genügend Investoren gefunden.
Es ist nicht bekannt, was dazu führte, dass in dieser Situation auch die Ehe scheitert. War es die Morphiumsucht Mellis, die hoffnungslose wirtschaftliche Situation des Paares oder eine Mischung aus beidem? Melli Beese lebt noch einige Monate einsam in einer Pension in Berlin-Halensee, bevor sie eine letzte Entscheidung trifft: „Leben und Tod in eigener Hand“, das ist immer die Maxime der Pilotin gewesen. Am 21. Dezember 1925 entscheidet sie sich für den Tod. In ihrem Abschiedsbrief hinterlässt sie in Abwandlung eines alten Seemansspruches die Worte: „Fliegen tut not, Leben nicht“.