Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah
S. Fischer 2014. 608 Seiten
ISBN-13: 978-3100006264. 24,99€
Originaltitel: Americanah
Übersetzerin: Anette Grube
Verlagstext
Die große Liebe von Ifemelu und Obinze beginnt im Nigeria der neunziger Jahre. Dann trennen sich ihre Wege: Während die selbstbewusste Ifemelu in Princeton studiert, strandet Obinze als illegaler Einwanderer in London. Nach Jahren kehrt Ifemelu als bekannte Bloggerin von Heimweh getrieben in die brodelnde Metropole Lagos zurück, wo Obinze mittlerweile mit seiner Frau und Tochter lebt. Sie treffen sich wieder und stehen plötzlich vor einer Entscheidung, die ihr Leben auf den Kopf stellt. Adichie schreibt bewundernswert einfach, grenzenlos empathisch und mit einem scharfen Blick auf die Gesellschaft. Ihr gelingt ein eindringlicher Roman, der Menschlichkeit und Identität eine neue Bedeutung gibt.
Die Autorin
Chimamanda Ngozi Adichie ist eine der großen jungen Stimmen der Weltliteratur. Ihr Roman „Blauer Hibiskus“ war für den Booker-Preis nominiert, „Die Hälfte der Sonne“ erhielt den Orange Prize for Fiction 2007. Insgesamt wurde Adichies Werk in 37 Sprachen übertragen und sie steht auf der renommierten Liste der „20 besten Schriftsteller unter 40“ des „New Yorker“. Für „Americanah“ erhielt sie den Heartland Prize for Fiction sowie den renommierten National Book Critics Circle Award for Fiction 2013. Sie wurde 1977 in Nigeria geboren und lebt heute in Lagos und in den USA.
Inhalt
Ifemelu stammt aus Nigeria und lebt seit über 10 Jahren in den USA. Aufgewachsen ist sie mit einem anglophilen Vater und in der Überzeugung, das wahre Leben würde an anderen Orten stattfinden. Nun hat sie sich durchgebissen, ist auch eine „Americanah“ geworden, eine in die USA ausgewanderte Afrikanerin. Obwohl sie sich als populäre Bloggerin und Stipendiatin der Universität Princeton den Traum vieler Nigerianer von der green-card erfüllen konnte, will Ifemelu nach Nigeria zurückkehren. Ihre Entscheidung zelebriert sie mit dem Besuch in einem afrikanischen Friseursalon, um sich die Haare neu flechten zu lassen. Die Gedanken der Kundin im Haarsalon schweifen zurück zu ihrem Start in den USA und den wichtigsten Menschen in ihrem Leben: ihrem Jugendfreund Obinze, ihrem Partner Blaine, ihrer Tante Uju und deren Sohn Dike. Ifemelus neue Frisur markiert wie ein radikal veränderter Haarschnitt die Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt.
„Ifemelu schlug ihren Roman auf, „Zuckerrohr“ von Jean Toomer, und überflog ein paar Seiten. Sie wollte das Buch schon seit einiger Zeit lesen in der Annahme, dass es ihr gefallen würde, da Blaine es nicht mochte. Ein preziöses Werk, hatte er es genannt in diesem leise nachsichtigen Tonfall, den er anschlug, wenn sie über Literatur sprachen, als wäre er überzeugt, dass sie in einer kleinen Weile und mit ein bisschen mehr Einsicht akzeptieren würde, dass die Bücher, die er bevorzugte, die besseren waren, Bücher geschrieben von jungen und relativ jungen Männern und vollgepackt mit Dingen, eine faszinierende, verwirrende Anhäufung von Markennamen, Musik, Comicheftchen und Symbolen, von rasch abgehandelten Gefühlen, und jeder Satz war sich stilvoll seiner eigenen Eleganz bewusst. Sie hatte viele davon gelesen, weil er sie empfohlen hatte, aber sie waren wie Zuckerwatte, die nur einen flüchtigen Eindruck auf ihrer Zunge hinterließen.“ (S. 20)
Ifemelus Situation als nichtamerikanische Schwarze in den USA entwickelt Chimamanda Ngozi Adichie aus deren Begegnungen mit engsten Vertrauten. Tante Uju nimmt Ifemelu bei sich in den USA auf, als die dem Chaos an der bestreikten Universität Lagos entfliehen will und anfangs nicht weiß, wie sie Miete und Studiengebühren aufbringen soll. Niemand zu Hause in Nigeria würde genau wissen wollen, unter welch unwürdigen Umständen Uju für die Anerkennung ihres nigerianischen Studienabschlusses schuftet und zugleich den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn verdient. Ifemelus Jugendliebe Obinze versucht in England mit allen Tricks die Einwanderungsbestimmungen zu unterlaufen und muss sich sagen lassen, dass allein die Flucht eines Afrikaners vor Krieg legitim ist, nicht aber die Flucht vor Korruption und Chancenlosigkeit. Ihre Beziehung zu Obinze, die Ausdruck in einem anzüglichen Spitznamen findet, bricht Ifemelu kurz nach ihrer Ankunft in den USA ab. Ein für das schwierige Verhältnis zwischen Auswanderern und Zurückgebliebenen bezeichnender Schritt. Ihr afroamerikanischer Partner Blaine, Juraprofessor in Yale, fördert und ermutigt seine Partnerin im Ivy League-Milieu der amerikanischen Ostküste.
Die Schlüsselszene im Friseursalon spiegelt die komplizierte Hierarchie der Rassen und Volksgruppen in den USA. Die Kundin als erfolgreiche Akademikerin mit Papieren tritt der Friseurin, einer Neuangekommenen ohne Papiere, entgegen. Auch Ifemelu musste lernen, dass auf der Hühnerleiter der amerikanischen Gesellschaft angesehener ist, wer länger im Land lebt oder wer sich die für einen Job nötigen „Papiere“ beschaffen kann. Ifemelu wird zur erfolgreichen Bloggerin schwarzafrikanischer Befindlichkeit in den USA. Über das liberale Paralleluniversum des politisch korrekten Amerika gibt es Entlarvendes zu bloggen. Ifemelu muss sich z. B. von wohlwollenden, karitativ eingestellten Weißen Afrika erklären lassen und deren Idealisierung von Armut dulden. Im amerikanischen Englisch, das gebildete Einwanderer für schlampig halten, darf ein schwarzer Mensch nicht schwarz und ein Übergewichtiger nicht dick genannt werden. Doch "schwarz" wurde die Einwanderin aus Nigeria erst in dem Moment, als sie in die USA einreiste. Ifemelu wird nach der politischen Bedeutung ihrer Frisur gefragt, Uju darf als amerikanische Ärztin keine Zöpfchen tragen. Ihre Patienten gestehen einer schwarzen Frau, die ihr Krankenzimmer betritt, höchstens zu die Krankenschwester zu sein, aber nicht die Ärztin. Eine Nation spricht über Michelle Obamas „Attachments“, nicht über ihren Beruf. Krauses afrikanisches Haar steht bei Adichie als Metapher für das absurde Lavieren der US-Amerikaner zwischen Ethnie und Rasse. Afrikanische Haare dürfen nicht so wachsen, wie sie es von Natur aus tun, sie müssen in schmerzhaften, gesundheitsschädlichen Prozeduren geglättet werden. Wenn Ifemelu mit ihrem krausen Haar als Kundin abgelehnt wird, erlebt sie den Friseursalon als Ort der Diskriminierung.
„Ich mag Amerika. Es ist das einzige Land auf der Welt, in dem ich abgesehen von Nigeria leben könnte. Einmal haben ein paar von Blaines Freunden und ich über Kinder geredet, und da wurde mir klar, sollte ich jemals Kinder haben, möchte ich nicht, dass sie in Amerika aufwachsen. Ich möchte nicht, dass sie Erwachsene mit „Hi“ begrüßen, sie sollen „Guten Morgen“ und „Guten Tag“ sagen. Ich will nicht, dass sie „gut“ murmeln, wenn sie jemand fragt, wie es ihnen geht. Oder fünf Finger heben, wenn man sie nach ihrem Alter fragt. Ich möchte, dass sie „Mir geht es gut, danke“ und „Ich bin fünf Jahre alt“ sagen. Ich möchte keine Kinder, die ständig gelobt werden müssen und einen Stern erwarten, wenn sie sich anstrengen, und im Namen der Selbstdarstellung Erwachsenen gegenüber pampig werden. Ist das schrecklich konservativ? Blaines Freunde haben das behauptet, und für sie ist „konservativ“ die schlimmste Beleidigung von allen." (S. 576)
Ifemelus Gefühl der Fremdheit nach langer Abwesenheit gegenüber Nigeria bei ihrer Rückkehr überrascht kaum. Sie kann die Codes ihrer Heimat noch nicht wieder entschlüsseln. Ihre Freundinnen kreisen wie Glamour Girls allein um das zentrale Thema, wie sie sich einen einflussreichen Mann angeln können. Auch ihre Jugendliebe Obinze ist wieder zurück in Nigeria – ob die Beziehung zu ihm Ifemelu leichter wieder in Nigeria Fußfassen lassen wird?
Fazit
Ein sprachlich virtuoser Roman, der seine Leser mitten in interkulturelle Paarprobleme katapultiert und aus der Distanz einer Einwanderin klarsichtig wie amüsant US-amerikanische Widersprüche entlarvt.
10 von 10 Punkten