Das goldene Notizbuch - Doris Lessing

  • ... oder: Josefa sucht die Literatur, Teil 2. Dieser Thread ist sozusagen eine Folgeerscheinung von diesem Thread, der wiederum aus diesem Thread hervorging. Die Josefa hat immer noch keine Ahnung, was "Literatur" bedeutet, aber immerhin hat sich Rumpelstilzchen bereit erklärt, ihr bei diesem Abschnitt der Reise das Patschehändchen zu halten. Nach dem ersten Eindruck könnte das auch echt notwendig werden.


    Meine Ausgabe des Buchs beginnt mit einem zweiundzwanzig Seiten starken Vorwort, das die Autorin 1971 verfasste - neun Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen des Romans und ein Jahr vor meiner Geburt - und über das ich mich, Literatur hin oder her, bis zur Mitte wirklich geärgert habe. Die Autorin beklagt sich darin zunächst einmal, wie völlig falsch ihr Roman doch verstanden worden sei. Tja. Kann ich objektiv wenig zu sagen. Hab ja noch gar nüscht gelesen. Subjektiv stehe ich auf dem Standpunkt, dass ein Autor in dem Moment, in dem er einen Text zum Lesen freigibt, die Deutungshoheit über sein Werk verloren hat - in dem Moment, in dem ich eine Geschichte lese, wird es meine. Punkt, und ich lasse mir das auch nicht streitig machen! - Witzigerweise schwenken die letzten Sätze des Vorworts dann genau auf diese Linie ein. Dazwischen liegen einige sehr bissige Bemerkungen zum Literaturbetrieb und besonders zur professionellen Literaturkritik, die vielleicht im eingangs verlinkten Thread zum Interview mit Sigrid Löffler ganz interessant gewesen wären.


    Und jetzt fängt die Geschichte endlich an. Wir treffen zwei Damen um die vierzig, beide ledige Mütter erwachsener Kinder im Jahr 1957 - zu einer Zeit also, als es noch ein kleiner Skandal und ein gesellschaftliches Statement war, als Frau alleine ein Kind großzuziehen, und nicht wie heute in erster Linie ein Fall für Hartz IV. Anna und Molly sind alte Freundinnen, von der Realität eingeholte Ex-Kommunistinnen und Lebenskünstlerinnen, die sich in Mollys Fall von zweitklassigen Schauspieljobs und in Annas Fall von den immer spärlicher tröpfelnden Tantiemen eines Romans ernähren. Dem einzigen Roman, den Anna je geschrieben hat. Sie führen ein längeres Gespräch mit Richard, Mollys Ex-Mann, der Tommy, seinem und Mollys zwanzigjährigem Sohn, einen Job in der Finanzwelt verschaffen möchte, in der Richard offenbar ein großes Tier ist. Tommy lehnt ab und möchte lieber "noch ein paar Monate nichts tun" und Muttern auf der Tasche liegen, wenn's recht ist.
    Es ist recht, und ich sage jetzt nicht, was meine Eltern mir in diesem Fall erzählt hätten.


    Was ich bereits sagen kann: die gesamte Personnage in dieser Geschichte ist mir so fremd wie der Mond. Ich glaube, ich warte jetzt mal auf meinen Blindenführer Rumpelstilzchen.

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Josefa ()

  • Rumpelstilzchen hat heute immerhin das Buch aus dem Buchladen abgeholt und wird heute Abend schonmal ein wenig hineinschnuppern.
    Über die Qualitäten als Blindenhund wird weithin spekuliert. Es geht das Gerücht, das Rumpelstilzchen brauche selbst einen.


    Schön Josefa, dann können wir ja loslegen!

  • Ich bin noch nicht weit genug, um wirklich etwas dazu zu sagen. Aber den Begriff "verkopft" werde ich mir mal auf alle Fälle schon mal notieren. Könnte sein, dass ich ihn noch brauche. :grin

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

  • Von Josefa gewarnt, habe ich mir das Vorwort geschenkt.


    Mein größtes Problem bei den ersten Seiten ist, die beiden Frauen zu sortieren. Von wem welcher Satz stammt. Interessant finde ich, dass Anna genau das auf Seite 32 sagt: ..."daß wir beide für eine Menge Leute praktisch austauschbar sind".


    Erst nachdem das Gespräch mit Richard schon weiter fortgeschritten ist, werden Anna und Molly für mich zu zwei ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten. Geholfen hat auch, dass die beiden auf S. 37, 38 beschrieben werden und äußerlich grundverschieden sind.


    Die Lebenswelt von Anna und Molly kann für uns gar nicht anders als fremd sein. 1957 in London. Ein Land, in dem Klassenunterschiede noch immer eine große Rolle spielen. Eine Zeit, in der eine Scheidung für eine Frau eine Schande ist.


    Das Thema der unterschiedlichen Sicht auf das Verhalten von Männern und Frauen kommt im Gespräch mit Richard gleich auf. Seine ständigen Affären sind ok, solange der Schein gewahrt wird. Aber kaum will ihn die Frau ernsthaft verlassen, wird er aktiv. Obwohl ihm schon lange nichts mehr an ihr als Person liegt.

  • Kein Vorwort? Oh, wie schade. Jetzt dachte ich, wir könnten rund um das Vorwort eine neue Diskussionsrunde rund um die Kritik an der Literaturkritik starten :grin.


    Es geschieht relativ wenig in dieser "Vorgeschichte". Vier Leute sitzen abwechselnd zusammen, reden und essen Erdbeeren (mit Sahne): Anna, Molly, Richard und Tommy. Dann geht Anna nach Hause. Das Ganze dauert sechzig Seiten.


    Worüber geredet wird: über mehr, als ich auf die Schnelle erfassen oder wiedergeben könnte. Da ist, wie Rumpelstilzchen schon gesagt hat, einmal Richards Verhältnis zu seiner viel betrogenen und betrunkenen Ehefrau. Da ist die gegenseitige Verständnislosigkeit, die zwischen den zwei "Welten" herrscht, aus der die Gesprächspartner kommen; zumindest Molly hat wirklich keine Ahnung, dass ihr Ex-Mann eine bedeutende Rolle in der Finanzwelt spielt - und Anna, die es zumindest ansatzweise begriffen hat, bedeutet es nichts, weil Richards Leistungen in ihrem Denken einfach keine sind. Da ist Tommy, der nach dem Willen des Vaters aufhören soll zu "grübeln", der nicht weiß, was er mit sich anfangen soll, der aber sicher ist, dass er die Welt und das Wertesystem seines Vaters ablehnt. Da ist der Gedanke der "Verantwortlichkeit", den Tommy ins Spielbringt und den ich nicht wirklich begriffen habe. Verantwortlichkeit des Künstlers gegenüber der Gesellschaft? (Hat die Gesellschaft da eigentlich ein Mitspracherecht?)


    Da ist auch die Verständnislosigkeit zwischen den beiden Frauen, die so unterschiedlich in ihrem Wesen sind, Mollys Enttäuschung darüber, dass Anna keinen zweiten Roman "produziert" - dasWort steht da tatsächlich. Anna könnte doch produzieren, während Molly dazu die Voraussetzungen (Talent? Energie? Tiefe? Festigkeit?) fehlen. Aber Anna tut es nicht, sondern schreibt für die Schublade.


    Es ist in erster Linie das Denken, dessentwegen mir diese Leute fremd sind. Tut mir leid, solche Leute kenne ich nicht. :-( Die Leute, die ich kenne, reden über Fußball, Gartenarbeit, den letzten Nachbarschaftsklatsch.
    Mir kommen sie alle erst einmal vor wie Reißbrettfiguren, deren Geschichte durch eingeschobene Hintergrundabschnitte und deren Äußeres mit zahlreichen Adjektiven erhellt wird. Erfunden, um etwas Bestimmtes zu verkörpern. Ich bin gespannt, ob das anhält.


    Was mir bis jetzt am besten gefallen hat, waren die Erdbeeren ...

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

    Dieser Beitrag wurde bereits 2 Mal editiert, zuletzt von Josefa ()

  • Das Vorwort lese ich dann zum Schluss......dann passt das auch mit der Literaturkritik.


    Wie gesagt, als ich soweit war, die beiden Frauen gut auseinanderhalten zu können, kam ich ganz gut voran. Ich denke, den beiden ist Alltagskram einfach unwichtig. Sie haben sich entschieden, das übliche Eheleben sei nichts für sie. Sie kommen mir aber ein wenig so vor, als hätten sie das, was sie eigentlich wollen, auch noch nicht gefunden. Und vor lauter Nachdenken darüber, was richtig ist, kommen sie auch nicht dazu, das zu finden, was sie tatsächlich wollen.
    Tommy bringt dann Bewegung in die Dreiergruppe. Gerade durch seine Andersartigkeit, durch seine Langsamkeit ( diese andauernde Betonung der Geschwindigkeit auf Seite 65....) zeigen die Erwachsenen Seiten, die sie sonst nicht gezeigt hätten.
    Er ist zwischen zwei völlig gegensätzlichen Eltern gefangen, ist klug genug zu sehen, dass beide unglücklich sind und will weder in die eine noch in die andere Falle tappen. Er weigert sich, den Erwartungen beider zu entsprechen.
    Was mir an ihm gefällt, ist seine Gabe, die Erwachsenen mit ihren eigenen Wertvorstellungen zu konfrontieren und ihnen zu zeigen, dass ER sie ernst nimmt.
    Die Frage der Verantwortung hat er, wenn ich mich richtig erinnere zuerst in Bezug auf die Sozialisten aufgeworden ( S. 73), er sagt, die Sozialisten hätten aufgehört, moralische Verantwortung zu übernehmen, ein moralische Kraft zu sein..


    Das lässt bei mir zwei Gedanken anklingen: Einmal den der politischen Utopien, die damals noch nicht ganz so tot waren wie heute bei uns. Man hatte noch Vorstellungen, die Welt zu verbessern und musste mit Schrecken ansehen, dass diejenigen, von denen man sich Fortschritt erhofft hatte ( Kommunisten zB ) tatsächlich nicht besser waren. ( Molly und Anna unterhalten sich später nochmal über den 20. Parteitag und Ungarn )
    Und das zweite ist - Tommy spricht an, dass Anna den Abscheu,den sie fühlt nicht wahrhaben will, nicht ausspricht. Mir ist schon bei der Erwähnung der Psychoanalyse, die die beiden Frauen gemacht haben, Fritz Perls mit seiner Gestalttherapie eingefallen. Der hat in diesem Zusammenhang ganz deutlich gesagt, was er von intellektuellem Geschwafel über Gefühle hält, nämlich gar nichts. Als "Mindfucking" hat er das bezeichnet und mir scheint, Tommy zielt in seiner Kritik in eine ähnliche Richtung.

  • Gut. Mir wird immerhin klar, dass ich überhaupt nicht begreife, wovon die Leute da reden. Dazu fehlt mir auch das Hintergrundwissen; ich weiß weder etwas über die Geschichte des Kommunismus noch über Gestalttherapie.


    Bei Tommys Ansprache über die "Verantwortlichkeit" blieb bei mir vor allem der letzte Satz hängen:

    Zitat

    "Aber du schreibst und schreibst, ganze Notizbücher voll, und sagst darin, was du über das Leben denkst, aber du schließt sie ein, und das ist nicht sehr verantwortungsbewußt."


    Wovor empfindet Anna Abscheu? Dem Kommunismus, der sich kompromittiert und totgelaufen hat? Der eigenen Vergangenheit? Der Naivität, sich für die Sache engagiert zu haben, oder dem eigenen Scheitern? Der Welt (ihrer oder der Richards oder beiden)?


    Diese Leute reden sehr viel und werfen sich gegenseitig viele Wörter zu. Ich verstehe nur Bruchstücke davon.

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Josefa ()

  • Die Gestalttherapie hat womöglich gar nichts damit zu tun....es war eine Assoziation an Aussprüche von Ausbildern.... :-]


    Ich denke, es ist ganz einfach auch eine Frage des Geburtsjahres. Ich bin Jahrgang 58, zu jung, um die Ereignisse 68 so richtig mitzukriegen. Aber alt genug um selbst zu Schul-und Ausbildungszeiten unendliche Diskussionen um Theorien und Umsetzung, um Terrorismus, Radikalenerlass und Nato-Doppelbeschluss zu führen.
    Diese Diskussionen im Buch erinnern mich an diese Zeit. Da musste über alles diskutiert werden.


    Für mich vermischen sich in dieser ersten Passage eigene Erinnerungen mit dem Geschehen im Buch. Ob es tatsächlich Abscheu ist, die Anna empfindet, kann ich auch nicht sagen, mir fällt dazu mehr ein Gefühl des Versagthabens und der Ratlosigkeit ein.

  • Gestern habe ich noch den Abschnitt "Notizbücher" begonnen. Das fällt mir schwer zu lesen. Bisher ist es mehr eine Art Tagebuch, eine kurze Inhaltsangabe von Annas Roman, ihre spätere Meinung dazu.
    Allgemeines über die Kunst. Viel über die eigene Befindlichkeit.
    Interessant wird es für mich immer dann, wenn das Geschriebene etwas aus meiner eigenen Erfahrungskiste anstößt oder mich an andere Lektüre erinnert.
    Anna überträgt ihr eigenes Gefühl der Aufspaltung auf den gesamten Kunstbetrieb, auf die gesamte Gesellschaft. Ob das so zutreffend ist, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls scheinen die Stunden bei der Analyse sie nicht gerade glücklicher zu machen.
    Ob es wohl damals den Begriff "Sugardaddy" schon gab? Der Name Mother Sugar für die Analytikerin finde ich in dem Zusammenhang ja sehr spannend.

  • Witzigerweise ist bei mir das Gefühl genau anders herum: mir fällt das Lesen leichter, seitdem wir im ersten Notizbuch sind. Dürfte damit zusammenhängen, dass jetzt nur noch Anna "spricht" und ich nur noch ihren Gedankengängen zu folgen brauche. In dem ausführlichen Dialog zuvor habe ich einfach nicht kapiert, worüber die Leute reden, auch bei mehrmaligem Lesen nicht. Sagt vermutlich viel über meine geistigen Kapazitäten aus :rolleyes.


    Nicht, dass ich im ersten Notizbuch viel mehr begreifen würde.


    Die Zusammenfassung des Filmprojekts, das aus Annas einzigem Roman entstanden ist, leitet wieder direkt über zu dem Abscheu, den Anna vor ihrem eigenen Werk empfindet. Und zu dem nächsten Punkt, den ich wieder nicht begriffen habe: dem Grund dafür. Sie sagt, sie verabscheue die "verlogene Nostalgie", die die treibende Emotion gewesen sei, aus der heraus der Roman entstand. Nun kann ich aus einem doppelt verfremdeten Resümee (zwei wertende Beschreibungen des für einen Film aufbereiteten Buchinhalts) natürlich wenig zu Annas Roman sagen. Was empfindet sie daran als "nostalgisch" und "verlogen"? Hält sie die Begeisterung für den Kommunismus dafür, oder die Art und Weise, in der sie ihr Buch geschrieben hat?


    Ist nicht jeder Roman, jede "Geschichte" (etwas, das geschehen und also vergangen ist) irgendwie nostalgisch (Vergangenem nachhängend)? - Vielleicht will sie wirklich darauf hinaus. Darauf, dass die Wahrheit sich in etwas Verlogenem (was eine Erzählung per se immer ist) nicht wiederspiegeln lässt. Da ist außerdem eine lange Passage über "Tatsachenromane", die nur geschrieben werden, um die Neugierde zu befriedigen auf die anderen Teile einer Gesellschaft, in die die Menschheit zersplittert ist und die immer weniger voneinander wissen. Da beklagt sich Anna, dass sie ihre Emotionen bannen muss, sonst wird, was sie produziert, wieder eine "Geschichte".


    Ich frage mich: was für ein Typ Mensch bin ich, wenn alles, was ich von einem Buch erwarte, ist, dass es mir eben das erzählt. Eine Geschichte.


    Und es gibt noch eine Passage mit "Mother Sugar", in der sie zu ihrer eigenen Beschämung feststellt, dass "der Künstler" schreibt wegen seiner Unfähigkeit zu leben. Wozu die Öffentlichkeit in Gestalt der Psychotherapeutin nickt mit gönnerhaftem Lächeln. - Darf ich die an dieser Stelle aus meiner Sicht dringend notwendige Frage stellen: was zum Geier ist ein "Künstler"?


    Das ist alles dezent zu hoch und - ich wiederhole mich - zu fremdartig für mich. Am besten hineinversetzen konnte ich mich bis jetzt in den Milchmann und - der taucht allerdings auf Seite 154 erst auf - in George Hounslow.


    Zurück zum Text: Anna beschreibt nun die Dinge, die zum Entstehen ihres Romans führen, Ereignisse rund um eine kleine Gruppe mehr oder minder (meist minder) überzeugter Kommunisten während des Zweiten Weltkriegs in Südafrika. Dabei werden die Ideen, über die diskutiert wird, bestenfalls am Rande gestreift. Dafür schildert sie sehr ausführlich die einzelnen Mitglieder der Gruppe. Das hat mir am besten gefallen bisher. Ich stelle mal wieder fest, wieviel Spaß es mir macht, ausführliche Beschreibungen einzelner Personen zu lesen.

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

  • Wir scheinen gerade in der gleichen Ecke zu lesen.
    Die Beschreibung der einzelnen Gruppenmitglieder gefällt mir auch gut. Anna hat einen scharfen Blick für ihre Mitmenschen, interessanterweise auch für die Dynamik in der Gruppe. Das passt so gar nicht zu der Anna, die mit einem Mann zusammen ist, den sie nicht leiden kann. Eine mir ziemlich unverständliche Tatsache.
    Ich fand ihre Feststelllung auf S. 101 aufschlussreich: "Dennoch bin ich unfähig, den einzigen für mich interessanten Roman zu schreiben: ein Buch, das von einer intellektuellen oder moralischen Leidenschaft durchdrungen ist, das stark genug ist, um Ordnung zu schaffen." Sie verlangt von sich selbst und allen Romanen etwas Unmögliches. Die Erschaffung des Steins der Weisen. Deshalb schreibt sie keinen Roman mehr. Mit weniger kann sie sich nicht zufrieden geben.


    Ein Teil ihres Abscheus scheint mir auf der Ablehung ihrer eigenen Zersplitterung zu beruhen. Und der seltsame Ausspruch, Künstler schrieben aus ihrer Unfähigkeit zu leben heraus, scheint mir auch dazu zu passen. Als hielte sie sich selbst für unfähig zu leben.


    Tja, ein Künstler. Mir gefällt ja immer noch der Ausspruch des guten alten Beuys, nachdem jeder Mensch ein Künstler ist. In einem gewissen Sinn hat er recht, finde ich.
    Aber das meint sie hier ja nicht. Die Aufgabe des Künstlers ist es ( sinngemäß auf S. 100 zu finden), eine Form für bestehende Probleme und Spannungen in der Gesellschaft zu finden. Etwas sichtbar zu machen. Das alleine reicht ihr ja aber nicht - s.o. - es muss auch noch moralisch beurteilt und in eine zu einer moralischen Ordnung führenden Form gebracht werden.


    Jemand, der solche Forderungen aufstellt und sie natürlich selber nicht erfüllen kann, könnte sich schon alleine dafür verabscheuen.


    Ziemlich selbstvernichtend, finde ich. Und hoffe, sie wird mit zunehmendem Alter milder und freundlicher zu sich.....sie ist in diesem Abschnitt ja noch sehr jung und ich erinnere mich da selbst an einige Seltsamkeiten.....natürlich nicht in solchen intellektuellen Höhenflügen.


    Josefa, für mich ist ebenfalls das Hauptkriterien für einen guten Roman, ob er eine gute, mich berührende Geschichte erzählt. Will ich philosophische Vorlesungen haben, gibt es ausreichend Fachbücher.... :wave

  • Das ist genau, was mich so irritiert, Rumpelstilzchen. Anna benutzt den Begriff "Geschichte" regelrecht abwertend.


    Ein Roman soll, ihrer Ansicht nach, offenbar eine allgemeingültige, orts- und zeitunabhängige Wahrheit transportieren. In den Worten eines Katholiken: sie will Gott auf Papier bannen. Naja. Da kann man nur viel Spaß wünschen ...


    Ich frage mich nur, woher kommt dieser Anspruch. Ist das irgendeine Vorstellung aus kommunistischen Kreisen? Kann ich mir irgendwie nicht vorstellen; schließlich gab es doch auch so etwas wie eine "Arbeiter- und Bauernliteratur", also eine Form des Schreibens, die gezielt kommunistische Ideen in Romanform gießen sollte. Und wenn es Annas persönliche Fixierung ist, warum reitet sie dann ständig auf dem Kommunismus herum?


    Oder hängt dieser Abscheu vor sich selbst vielleicht eher damit zusammen, dass sie und ihre damaligen "Freunde" nie wirklich überzeugt waren von den Ideen, für die sie kämpften? Denn das ist ja schon etwas, das sie alle verbindet. Sie schwingen zwar große Reden, machen die Nächte durch, geben sich liberal und progressiv, wechseln Partner und hin und wieder sexuelle Orientierung (aber anscheinend eher, "weil man ja kein Spießer ist", als weil sie danach ein Bedürfnis haben), verzetteln sich in Diskussionen und Parteikämpfen - aber jeder hat schon Pläne für die "Zeit danach". Niemand glaubt wirklich an einen Umsturz der Weltordnung. Mit den Schwarzen, die im südafrikanischen Szenario die unterdrückten proletarischen Massen bilden, redet niemand. Man redet über sie. Wie hätten solche Typen wie Willi oder Paul, die Anführer der Gruppe, auch mit einfachen Leuten reden sollen?


    Interessant finde ich auch, dass Anna von diesem einen Buch, vor dem sie sich so ekelt, seit Jahren lebt. Vor dem Geld, das sie damit verdient, ekelt sie sich anscheinend nicht. Darf ich das auch als etwas verlogen empfinden?

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

  • Josefa, zum Glück gibt es unterschiedliche Vorstellungen von guten Büchern. Wäre Annas Vorstellung allgemeinverbindlich, würde ich aufs Lesen dankend verzichten......
    Inzwischen bin ich im roten Notizbuch angekommen. Je weiter ich lese, desto trauriger werde ich.
    Es hat wohl auch etwas mit den enttäuschten Hoffnungen und politischen Utopien zu tun.
    Diese Blindheit und Sklaventreue gegenüber der Partei, die unbedingte Parteinahme - da kriege ich heute noch einen Kloß in den Hals.


    Ich glaube aber, dass diese Suche nach einer Wahrheit, der Wunsch sich wieder "ganz" zu fühlen weit über Politik und die kommunistische Partei hinausgeht. S.216 ist da ein gutes Beispiel " ...als ich der Partei beitrat, ein Bedürfnis nach Ganzheit, nach einem Ende der gespaltenen, zerteilten und unbefriedigenden Lebensweise von uns allen gewesen sein muss"


    Vielleicht handelt es sich um ein allgemeines Lebensgefühl nach dem zweiten Weltkrieg. Oder es hat auch etwas mit der Persönlichkeit von Doris Lessing zu tun, die ja selber im Iran geboren, in Afrika aufgewachsen und schließlich nach England gezogen ist.


    Mir fällt auf, dass sich dieses Gefühl, zerrissen, gespalten zu sein auch in der Form des Buches findet.
    Zeitlich und inhaltlich zerrissen, aufgeteilt.

  • So weit bin ich noch gar nicht. Ich habe gerade erst das "schwarze Notizbuch" beendet. Und kaue noch ziemlich an der Geschichte um George und Jackson. Oder vielmehr an dem, was diese Geschichte über sämtliche Beteiligten verrät.


    Tilia Salix hat ja vorher das Wort "verkopft" verwendet. Das empfinde ich jetzt nicht mehr so. Wenn ich dafür, bezogen auf den "Kommunismus" dieser Aktivisten-Gruppe, ein anderes daneben stellen darf: Kopfgeburt. Man ist offenbar Kommunist, weil das irgendwie schick klingt. Und modern. Fortschrittlich. Weil man große Reden schwingen kann und wunderbare Theorien aufstellen und sich moralisch überlegen fühlen. Der eigene Glaube geht dabei nie weiter als bis an die Oberfläche. Zur Rettung der Menschheit wird diskutiert und palavert bis zum Umfallen. Für den konkreten Menschen gibt es keinen Funken Gefühl. Wer den aufbringen will, gilt als sentimental.


    Ich verstehe jetzt, was Anna in dieser Hinsicht mit "verlogen" meint. Und ich verstehe ihren Selbstekel. Ein Haufen Kids mit Geld in der Tasche, völlig abgehoben von der Welt, in der die anderen Leute leben, spielt Weltenrettung, zum eigenen Amüsement, und verzieht sich, nachdem das Unheil angerichtet ist, wieder zurück aufs sichere eigene Terrain.
    Pfui Deibel.


    Das wäre dann wahrscheinlich das Buch gewesen, das sie, rückblickend, eigentlich hätte schreiben wollen. Und das sie nicht schreiben konnte, weil sie an diese Zeit - zu ihrer Beschämung - trotz allem zu viele "gute", nostalgische Erinnerungen hat.

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

  • Ich denke, du bist zu hart mit dieser Gruppe. Sie sind ja, bis auf Willi und George, der aber erst später dazu kommt, sehr jung. Die jungen Männer sind alle Soldaten während ihrer Fliegerausbildung. Da ist eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ziemlich normal. Sie kennen ja allesamt nichts als die Schule und die abgehobene Welt der Uni.
    Und zu der Zeit war das ein Leben, das mit dem Lebenskampf normaler Leute nichts zu tun hatte.
    Der Blick der damals noch Kolonialherren auf die einheimische Bevölkerung ist wieder ein anderes Thema. Ich habe in letzter Zeit einige Bücher gelesen, die mir diese zeitlich und örtlich so ganz andere Perspektive deutlich gemacht hat.
    In dieser Zeit ist England noch eine bedeutende Kolonialmacht gewesen und Herrendenken und Rassenwahn war keinesfalls auf Deutschland begrenzt. Da war es weit vom theoretischen Denken, auch Schwarze seien Menschen, zu tatsächlicher


    Der erste Abschnitt, "Ungebundene Frauen" spielt ja viel später als die folgenden Eintragungen in den Notizbüchern. Da gibt es, glaube ich, ganz andere Gründe für Abscheu und Ekel.
    Ich bin inzwischen ein ganzes Stück weiter, S.262


    Gut gefällt mir bisher das rote Notizbuch, ich warte aber mal, bis du auch dort angekommen bist.


    edit: ich meine oben natürlich nicht das rote, sondern das gelbe Notizbuch!

  • Bist du sicher, dass es ein Rassenproblem ist, und nicht eher ein Klassenproblem? Oder, wie auch Anna zu denken scheint, wenn sie ihre Freunde in "gute" und "schlechte" Menschen unterteilt, einfach eine Frage des Charakters? - Paul und Willi benehmen sich gegenüber Mrs. Boothby und George genauso herablassend und verächtlich wie gegenüber Jackson. Und die wären weiß.


    Fakt ist, die Anführer der Gruppe sind nicht in der Lage, für irgend jemanden einen Funken Gefühl aufzubringen als für sich selbst. Sie sehen alles aus einer "höheren Warte". Da sehe ich das Problem. Und nach dem wenigen, was ich vom "roten Notizbuch" bisher gelesen habe (bin erst auf Seite 216) ist die Geschichte in Mashopi ein hübscher Vorgeschmack auf die Erfahrungen, die Anna danach im großen Maßstab machen wird.


    "Wir verlassen die Partei deshalb nicht, weil wir es nicht ertragen können, unserem Ideal von einer besseren Welt Auf Wiedersehen zu sagen." - Ich kann das enorm schwer nachvollziehen, weil ich - leider - zu allem und jedem Distanz halte. Nichts fällt mir so leicht. Weshalb Anna nicht zwischen ihrem Ideal und dem Namen trennt, den sie ihm gegeben hat, fällt mir schwer zu verstehen.

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

  • Es ist beides, sowohl ein Rassen- als auch ein Klassenproblem. Wo beides zusammentrifft, gibt es nicht mehr einfach Beziehungen zwischen Menschen.


    Mit der höheren Warte beschreibst du das Problem sehr genau. Es geht nicht um die Menschen, sondern um die Idee. Wie es Menschen damit geht, spielt gar keine Rolle. Der Zweck heiligt die Mittel.
    Es gibt außerhalb dieses Zwecks kein gut und böse mehr.


    Und Anna lebt eine Zeitlang in und mit der Partei. Ich stelle mir das ein wenig wie in einer Sekte vor. Es ist unendlich schwer, sich zu trennen. Dem eigenen Urteil wieder zu vertrauen. Die Konsequenzen zu ziehen. An einer Stelle wird ja auch gesagt, dass das Verlassen der Partei auch der Verlust aller Beziehungen mit sich bringt. Von deinem bisherigen Leben bleibt nichts übrig.
    Und welche Blüten die Zugehörigkeit und der Glaube an die reine Lehre treiben kann, zeigt der Besuch in Berlin.

  • Inzwischen bin ich bei "ungebundene Frauen 2" angekommen.


    Josefa, bist du schon im blauen Notizbuch angekommen? Die Ausschnitte aus den Zeitungen? Immerhin helfen sie mir, die Handlungen aus den anderen Notizbüchern zeitlich besser einzuordnen.
    Ich fühle mich angesichts des zeitlichen Hin-und Her in den einzelnen Notizbüchern ebenfalls hoffnungslos wirr und zerrissen.

  • Nein, ich habe gerade erst das "gelbe Notizbuch" beendet. Das rote hat ja recht abrupt geendet und ließ mich etwas ratlos zurück - viele kurze Tagebucheinträge, in denen anekdotenhaft das schwierige Verhältnis zur Partei und die immer mehr erkaltende Begeisterung für den Kommunismus erzählt wurde.


    Zwischen dem schwarzen und dem roten Notizbuch gibt es, so unterschiedlich sie sind, für mich ein starkes verbindendes Element - den Gegensatz zwischen Ideologie und Idee, zwischen der Arbeit an einer gesichtslosen besseren Gesellschaft und konkretem Mitgefühl für konkrete Schicksale.


    Das gelbe Notizbuch bringt da eher einen thematischen Bruch, kommt mir vor. Es hat mir sehr gut gefallen, obwohl es um ein Thema geht, von dem ich noch weniger verstehe als von Politik: Liebe. Es sind Fragmente eines Romans, den Anna begonnan hatte, sowie spätere Überlegungen dazu. Die Handlung ist vergleichsweise banal: eine Frau wird, nach vorangegangener unglücklicher Beziehung, die Geliebte eines verheirateten Mannes, der sie, was von Anfang an abzusehen ist, am Ende verlässt.


    Was ich noch nicht verstanden habe, ist, in welcher Beziehung dieses Notizbuch zu den beiden anderen steht. Es gibt zwar oberflächliche Beziehungen (Anna verarbeitet darin die gescheiterte Beziehung zu jenem Michael, der im "roten Notizbuch" etliche Male erwähnt wurde) und Fortführungen begonnener Gedanken (das Proletariat interessiert sich mehr für Modezeitschriften als für die Revolution), aber irgendwie ... wie hängt dieser sehr private Teil mit den anderen zusammen?


    Liebe bedeutet Naivität. Das sind Sätze. Ich habe zum ersten Mal bewußt über die eigentlich Bedeutung von "Naivität" nachgedacht.

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.