Zum Buch:
Christoph Heins Geschichten, zwischen 1977 und 1990 entstanden und bislang zum größten Teil unveröffentlicht, zeigen die ganze Spannweite seines Erzählens: eindringlich berichtend, heiter und anekdotisch.
Sie loten den Spielraum des Einzelnen aus. Welche Entfaltungsmöglichkeiten hat er und wie viel Verantwortung will er übernehmen, wann und mit welchen Mitteln wird er sich widersetzen. Fragen, die so sehr an den Nerv der Gesellschaft rühren, dass einige dieser Erzählungen in der DDR nicht veröffentlicht werden konnten. Fragen, die geblieben sind.
Zum Autor:
Christoph Hein wurde 1944 geboren. Seine Kindheit verlebte er in einer sächsischen Kleinstadt, besuchte das Gymnasium in Westberlin. Seit 1960 lebte er wieder in der DDR, arbeitete als Montagearbeiter, Buchhändler und Regieassistent. Er studierte Philosophie in Leipzig und Berlin, arbeitete danach als Dramaturg und Autor an der Volksbühne Berlin. Seite 1979 ist er freischaffender Autor und veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Theaterstücke etc. Hein ist Mitglied der Akademie der Künste zu Berlin, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und der Sächsischen Akademie der Künste in Dresden.
Meine Meinung:
Gebundenes Buch, insgesamt 190 Seiten, großzügiger und augenfreundlicher Druck. 1. Auflage von 1994.
Insgesamt 16 Erzählungen unterschiedlicher Länge sind in diesem schmalen Buch enthalten, Erzählungen, die es in sich haben, deren Entstehungsjahr aber nicht angegeben ist. Einerseits bedauere ich letzteres sehr, andererseits verstehe ich angesichts der Angriffe und Peinlichkeiten, die in Bezug zur Veröffentlichung von Christa Wolfs „Was bleibt“ 1990 auftraten, dass man sich vielleicht Angriffe ähnlicher Art zu ersparen suchte, indem man jegliche Datumsangabe unterließ. Nicht, dass ich annehmen würde, eine Jahreszahl unter einem Text würde auch nur das Geringste an seiner Qualität ändern, es hätte – vielleicht nicht nur – mir geholfen, Hein besser einzuschätzen, mich der politischen Dimension der einzelnen Erzählungen zu vergewissern.
16 Erzählungen also, ganz lakonisch erzählt, fast ohne Emotion, die bleibt dem Leser überlassen. 16 Entwürfe, das Leben zu erzählen aus einem Land, das nicht mehr ist und überdeutliche Spuren hinterlassen hat. 16 Mal bekommt man keine Hilfe, keine Erklärung, nur das Beschriebene, kein Gramm mehr, keine Interpretation eines wie auch immer gearteten Erzählers, weil der Autor wohl weiß, was er dem Leser zumuten kann, weil er auch weiß, dass der Leser weiß, was der Autor sagen will, zu sagen hat.
Da erzählt einer, wie das vor sich gegangen ist, in einer landwirtschaftlichen Genossenschaft beispielsweise, mit ihren Strukturen, mit der Partei, die entscheidet und sich einmischt, mit und ohne Sachkenntnis, mit den Finanzen, die nicht stimmen, mit der Pflicht zur Arbeit und den Verboten, mit der Entfremdung in den Familien und der Kälte, die immer mehr zunimmt. Sawetzki heißt der Protagonist der ersten, dem Buch den Titel gebenden Erzählung, der sich nicht mehr anders zu helfen weiß, als ein Kalb öffentlich abzuschlachten, um auf Probleme aufmerksam zu machen, die da sind, die beredet werden, aber nicht gelöst werden können, weil die, die das müssten, nicht nur kein Geld, sondern auch keine Ahnung haben, und die, die das könnten, nicht mehr wollen, gleichgültig werden, die machen, was sie müssen, aber nicht mehr, weil sich nichts ändert, weil sie nicht gefragt werden, weil ihr Sachverstand nichts gilt – zu viel „weil“, um vorwärts zu kommen, um einen Aufschwung zu sehen. Zu fruchtbar sind die Kühe der LPG, es gibt Ställe, aber nicht genug, es gibt Futter, aber bei weitem nicht ausreichend, weil nicht ausreichend Geld da ist, so magern sie ab, die Kühe, und der Schlachter mag sie nicht, in diesem Zustand, dem mageren. So gibt es kein „Aufrücken“ der Kälber in die anderen Ställe, so bleibt der Kreislauf stecken, bildet einen eigenen, eine Spirale der Frustration, bis man aufgibt oder aufbegehrt. Und wenn einer aufbegehrt, wie Sawetzki, dann beschließt die Partei, so wissen wir aus einem Lied oder einem Gedicht, „die hat immer recht“ – von wem war es noch gleich*?
Da ist eine Jugendliche aus einer anderen Erzählung, „Die Vergewaltigung“ heißt sie, 17 Jahre ist sie, die Jugendliche, sie muss erleben, wie sich die Großmutter „opfert“ zur Vergewaltigung durch sowjetische Soldaten, zwei an der Zahl, damit sie, die Jugendliche und die Schwiegertochter der Großmutter verschont bleiben. Da muss sie mit ansehen, wie die Großmutter geschlagen wird, muss sich anhören, wie diese hinterher beschwichtigt, ob sie sich denn ein Bein gebrochen habe, fragt sie die jüngeren Frauen. Was bleibt da bei der jungen Frau hängen, die dann ihren Weg macht bis hin zur stellvertretenden Staatssekretärin? Was lässt sie berichtend schwärmen vor anderen, späteren Jugendlichen von der Opferbereitschaft der sowjetischen Armee, von der Erntehilfe, von den Freundschaften. Wie indoktriniert der Weg in der Partei, die „immer recht hat“ – und nicht nur dort, sondern auch im alltäglichen Leben des real existierenden Sozialismus -, um den eigenen Mann, der anmahnt, sie hätte auch die dunkle Seite ansprechen sollen, als „Faschisten“ (Seite 138) zu bezeichnen? Was für eine moralische Fragwürdigkeit in den Antworten der Frauen, wenn man auch der ersten eine Art Trost für die Jüngeren zusprechen möchte, wie viel Kraft ist da aufzuwenden, um zu verdrängen, was sich kaum verdrängen lässt.
Das sind nur zwei der Erzählungen, die mich allesamt beeindruckt haben. Beeindruckt, weil da einer so radikal ehrlich erzählt. Er erklärt nicht, sondern wie ein Chronist kommt mir Hein vor. Beeindruckt war ich aber auch, weil das Verhalten der Menschen gar nicht so sehr DDR-spezifisch daherkommt, weil es so übertragbar ist. Vielleicht hat der Autor solches beabsichtigt, der Verlag solches erkannt und auch – so wage ich mir vorzustellen – aus diesem Grunde eine Jahreszahl zu den Erzählungen nicht genannt. Weil man im Jahr der Veröffentlichung, 1994, als DDR-Autor sehr unter Beobachtung stand, von allen Seiten. Und weil man sich, so glaube ich, hüten sollte, Verhalten wie beschrieben allein dem Leben in einem sozialistischen Land zuzuordnen. Man kennt Entmündigung in Betrieben und nicht nur dort, das hierarchische Denken mit einhergehenden Problemen, sozialer Kälte, Denunziantentum und ähnliches mehr auch in kapitalistischen resp. westlichen und anderen Ländern, auch dort – und das finde ich nicht im Mindesten verurteilenswert – gibt es immer wieder Menschen, die aufbegehren, die sich wehren, gegen Parteien, „die immer recht“ haben.
Ein lesenswertes Buch eines Schriftstellers, der dieser Tage 70. Jahr alt wird. Dazu meinen Glückwunsch und zum Buch sowieso, das zwar vom Leben in einem vergangenen Land erzählt, aber nicht im Mindesten veraltet daherkommt.
* Louis Fürnberg war es, der meinte, dass die Partei „immer recht“ habe.
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