Aus der Verlagsinformation zum Buch:
Ein alternder Schriftsteller namens Fjodor Michailowitsch reist 1869 von Dresden nach Petersburg, um die näheren Umstände des Todes seines Stiefsohns Pawel zu erfahren. Ist Pawel von der zaristischen Polizei getötet worden, handelt es sich um Selbstmord oder sind gar die Anarchisten um Sergej Netschajew für Pawels Tod verantwortlich? Der zwischen Trauer und Schuldgefühlen hin- und hergerissene Fjodor verstrickt sich zusehends in die Petersburger Verhältnisse, die die seines Sohnes waren und nun seine eigenen werden: Er zieht in Pawels ehemaliges Zimmer, schlüpft in dessen Anzug, stellt Pawels Wirtin, der sinnlichen Anna Sergejewna, nach und verbringt einige wilde, verzweifelte Nächte mit ihr. Coetzee schildert Euphorie und Alpdruck, die einem epileptischen Anfall vorausgehen, mit ebenso großem psychologischem Einfühlungsvermögen wie Fjodors vergebliche Versuche, den Tod des Sohnes zu verwinden. Die wahre Trauerarbeit leistet Dostojewskij schließlich schreibend: An Pawels Schreibtisch beginnt er, die ersten Seiten der „Dämonen“ zu skizzieren.
Über den Autor:
J. M. Coetzee wurde 1940 in Kapstadt geboren. Er war in seiner Heimatstadt als Literaturprofessor tätig. Für seine Romane wurde er zahlreich ausgezeichnet, unter anderem mit dem Booker Prize. 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur zuerkannt.
Übertragen wurde der Roman von Wolfgang Krege.
Meine Meinung:
Taschenbuchausgabe, 3. Auflage 2003. Insgesamt 256 Seiten, recht kleiner Druck.
Ein Mann trauert, er will Klarheit über den Tod seines Sohnes. Weil er trauert, will er den Lebenswegen seines Sohnes nachspüren, Wegen, von denen er glaubt, sie zu kennen. Er trauert, er muss nach und nach erkennen, dass der, um den er trauert, vielleicht niemals Wirklichkeit war, sondern in seinem Wesen so nur in seiner Vorstellung existierte. Ein Mann muss sich einer Lebenslüge stellen, das ist ein anderer Grund zur Trauer, es ist auch Nährboden für ein großes literarisches Ereignis. Der Beginn der Geburt eines Romans bildet den Abschluss eines anderen, des vorgestellten.
Mehr als der Auszug aus der Verlagsinformation und dem vorstehende Absatz sei über den Inhalt des Romans von Coetzee nicht verraten, obwohl es mir schwer fällt, nicht über den Justizrat zu sprechen, nicht über Matrjona, nicht über die Gespräche und Diskussionen, die mit eben dem Justizrat, die mit Netschajew, nicht über die Gedanken des Mannes, der als Issajew nach Petersburg reist und sich als Dostojewskij entpuppt.
Coetzee hat mir ein eindrückliches Bild gemalt, von dem Petersburg resp. Russland in einer politisch nicht gerade ruhigen Zeit, von den ärmlichen Verhältnissen, in denen Pawel sich bewegte und die für die Zeit des Romans die Welt der Hauptfigur darstellt, von den politischen Diskussionen, die dort und damals geführt worden sind, von der Gedanken- und Vorstellungswelt eines Epileptikers und eines Dichters. Es ist sicherlich nicht von Nachteil, den einen oder anderen Roman Dostojewskijs gelesen zu haben, man erkennt die Figuren wieder. Coetzee, so scheint mir, hat sie sich entliehen, um auf seine Weise sein Bild von dem großen russischen Literaten zu zeichnen. Es war für mich das einzige Problem an dem Roman, dass die Protagonisten letztlich eben genau das blieben, nämlich Menschen aus den Romanen eines anderen Schriftstellers, für mich wurden sie nicht zu Coetzees Geschöpfen.
Von der schönen, klaren Sprache war ich sehr angetan, das Buch hat etliche Sätze, die ich mir angestrichen habe, sie erscheinen mir voller Schönheit, Wahrheit und einiger Zeitlosigkeit. "Lesen", so heißt es einmal (Seite 53), "heißt sich dreingeben und nicht Distanz wahren und spötteln" - genauer kann man mein Lesemotto wohl nicht in Worte fassen. Vielleicht ist sie - die Sprache - manchmal ein bisschen zu direkt, einen Hauch zu modern; das Nach- und Aufspüren der Verweise - nicht nur, aber in der Hauptsache - auf Dostojewskij hat dies für mich aber in den Hintergrund treten lassen.
Kennt man (noch) kein Werk von Dostojewskij, kann man das Buch durchaus lesen, es verliert allerdings viel von seiner Komplexität und vermutlich auch von seinem Anspruch. Ob es dann ein auch nur vergleichbarer Lesegenuss ist, vermag ich nicht zu beurteilen, dazu bin ich den Büchern und den Figuren von Fjodor Dostojewskij viel zu sehr verfallen.
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