Der Ministerpräsident - Joachim Zelter

  • Nanu, gibts zu diesem Buch noch keine Eulenrezension? Dann mach ich mal den Anfang.


    Kurzbeschreibung (Ama):
    Dass er einen Autounfall hatte, dass dabei einiges passiert sei, insbesondere in seinem Kopf und mit seinem Gedächtnis. Dass er zehn Tage im Koma gelegen habe und erst seit Kurzem wieder wach sei ... Und: dass er Claus Urspring heiße und er Ministerpräsident sei und es auch bleiben werde - ein politischer Begriff, ein Inbild der Vertrautheit und Unverrückbarkeit, der kurz vor einem alles entscheidenden Wahlkampf stehe ...
    All das und noch einiges mehr erfährt Claus Urspring, ein von Wahlkampfhelfern und politischen Beratern Getriebener, ein soufflierter und inszenierter Mensch, der seit seinem Unfall kaum mehr weiß, wer er einmal war und was mit ihm eigentlich ist.


    Der Autor:
    Joachim Zelter 1962 in Freiburg geboren, studierte und lehrte englische Literatur in Tübingen und Yale. Seit 1997 freier Schriftsteller


    Meine Meinung:
    Der Held dieser Satire ist nicht zu beneiden. Er ist gleich im doppelten Sinne ein Gefangener: Zum einen ist er ein Gefangener der Gegenwart, denn sein Gedächtnis ist nach einem schweren Autounfall noch voller großer Lücken. Bis auf sehr einfache Punkte wie Wochentage und Jahreszeiten ist seine Erinnerung praktisch verschwunden. Seine Ärztin bemüht sich, ihm einfühlsam die eine oder andere Erinnerung zu entlocken. Doch dazu wird ihm kaum Zeit gegeben, denn er ist zudem Gefangener der Politik. Er ist Ministerpräsident von Baden-Württemberg und schon bald beginnt der Wahlkampf zur nächsten Landtagswahl. Bis dahin muß er wieder auf den Beinen sein und sich seinen Wählern stellen. Um politische Freunde, Gegner und nicht zuletzt den Wähler von seiner (kaum voranschreitenden) Genesung zu ‘überzeugen’, läßt sich sein Berater allerhand einfallen und zeigt damit immer offener, wie sehr die Politik ein reines Showprogramm ist. Pose ist wichtiger als Argumente, Emotion ist nur erlaubt, wo sie den Umfragen nützt, und Parteiprogramme können problemlos den gesundheitlichen Gegebenheiten angepaßt werden.


    Der Ministerpräsident selbst ist dabei in der Rolle des kleinen Kindes. Er ist unselbstständig, er tut, was man ihm sagt und hin und wieder stellt er herrlich naïve Fragen. Verstehen tut er das ganze sowieso nicht so recht. Und so wird auch der Leser nicht mit Polit-Sprech überfordert, da der Ministerpräsident als Ich-Erzähler nur weitergibt, was er verstanden hat. Der einzige mir aufgefallene gravierende Unterschied zu einem Kind ist der fehlende Egozentrismus. Urspring beschreibt alles, läßt aber die eigenen Gefühle komplett und die eigene Meinung meist außen vor. Das verdeutlicht noch mehr seine Rolle als passiver Part, der fremdgesteuert wird und damit immer wieder zwischen die Interessen von Ärztin und politischem Berater gerät, die natürlich beide nur sein bestes wollen...


    Ein wirklich bewegendes, eindrückliches Buch – obwohl es nicht mal 200 Seiten hat, fand ich es sehr inhaltsstark. Absolute Leseempfehlung, volle Punktzahl ohne Abstriche.

    "Wie kann es sein, dass ausgerechnet diejenigen, die alles vernichten wollten, was gut ist an unserem Land, am eifrigsten die Nationalflagge schwenken?"
    (Winter der Welt, S. 239 - Ken Follett)