Lesungen bei Berlitz waren bisher immer besondere Ereignisse und auch diese war keine Ausnahme. In diesem Fall kannte ich das Buch schon, hatte es vor kurzem als englisches ungekürztes Hörbuch gehört und die deutsche Übersetzung von Juliane Gräbener-Müller vermittelt auch heikle Textpassagen einfühlsam und passend.
Sahar Delijani stellte ihren weitgehend autobiographischen Roman "Kinder des Jacarandabaums" vor.
Im eher kühlen Klima Teherans können die tropischen Jacarandabäume nicht gedeihen. Die Großmutter der Autorin hatte mehrfach vergeblich versucht, einen Jacarandabaum wachsen zu lassen. So steht der titelgebende Baum für eine Utopie, ist ein Symbol für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft - jene Hoffnung, die ihre Eltern und die anderen Anhänger der Revolution im Iran hegten. Anfangs sei es keine islamische Revolution gewesen, niemand habe geglaubt, dass die Anhänger zu ihren ersten Opfern werden könnten.
Im Alter von 12 Jahren zog sie mit ihrer Familie von Teheran in die USA, heute lebt Sahar Delijani in Turin.
Wie die Hauptfigur ihres Romans wurde auch Sahar Delijani im Gefängnis in Teheran geboren. Das Schicksal ihrer Familie seit nichts besonderes, sie teile es mit Tausenden anderen Iranern. Sie wolle zeigen, welche Folgen die gescheiterte Revolution für das Leben der normalen Menschen hatte und vor allem für deren Kinder. So nahm die Autorin ihre eigene Familiegeschichte als Grundgerüst des Romans, in dem auch deutlich wird, wie aus einer Revolution voller Hoffnung eine Diktatur entstand. Die Verhaftungswellen 1983 und die Massenhinrichtungen 1988 trafen auch ihre Familie und heute sieht sie das Evin-Gefängnis als Symbol für die damalige Entwicklung und Ungerechtigkeit, für politische Gefangene. Schon vor der Revolution wurde das Gebäude als Gefängnis genutzt, in dem auch politische Häftlinge gefangenhalten wurden. Derzeit gäbe es rund 800 politische Gefangene im Iran, von denen ein Großteil im Evin-Gefängnis inhaftiert sei.
Als Kind habe sie als aufregend empfunden, im Gefängnis geboren zu sein und sie habe keinerlei Erinnerung an ihre Monate dort. Die Freunde ihrer Mutter machten Witze darüber, dass sie schon als Gesetzlose (outlaw) zur Welt gekommen sei. Heutzutage denke sie, ihr Körper repräsentiere die damalige Unterdrückung.
Für die 30 Frauen in der Zelle ihrer Mutter sei ein Säugling in vieler Hinsicht positiv gewesen. Hoffnung und eine neue Aufgabe hätten den Gefängnisaufenthalt verändert. Kurz vor ihrer Geburt habe ein wahre Aufbruchstimmung und Zuversicht im Iran geherrscht, was daran deutlich zu erkennen sei, dass rund zwei Drittel der heutigen Bevölkerung dort in ihrem Alter sei. Es habe nie einen vergleichbaren Babyboom gegeben.
Im Alter von wenigen Monaten wurde zu ihren Großeltern gegeben und sah ihre Mutter das erste Mal mit 1,5 Jahren wieder. Das erste Treffen verlief unbefangen, spätere wohl eher problematisch. Vermutlich auch deshalb, weil oft lange Monate oder gar ein ganzes Jahr zwischen den Treffen lag. Ihrem Vater begegnete sie das erste Mal mit 3,5 Jahren und sie hat nur eine einzige Erinnerung an ihn. Er hob sie hoch und sie brach in Tränen aus, weil sie panische Angst vor seinem riesigen Schnurbart hatte.
Mitte der 80er Jahre war der Iran durch den Krieg mit dem Irak stark geschwächt und die Auswirkung auf ihre Familie und den Rest der allgemeinen Bevölkerung war vernichtend. Kaum etwas Essbares in den Geschäften, junge Männer wurden ohne Waffen an die Front geschickt. Nachdem die militärischen Anführer hingerichtet wurden und die Waffen aufgebraucht bzw. verschwunden waren, blieben nur die Körper der Bevölkerung als Kriegsmittel. Hier spürte man deutlich die Fassungslosigkeit der Autorin über das Vorgehen der damaligen Regierung.
Auf die Frage, warum sie so ein komplexes Geflecht an Figuren geschaffen habe, antwortete Sahar Delijani, dass sie zeigen wollte, wie eine große Familie aus Personen entstehen kann, die nicht miteinander verwandt sind. Wie Familie aus gemeinsamen Erlebnissen, Liebe und Schmerz entstehen können. Sie selbst nannte frühere Mitinsassen ihrer Eltern Onkel und Tante, während die eigenen Verwandten größtenteils gestorben waren. Die Figur des Amir im Roman sei aus ihrem eigenen Vater und einem Onkel entstanden.
Als es 1988 zu kurzen Gerichtsprozessen für die politischen Häftllinge kam, wurde schnell klar, dass ihre Antworten auf die gestellten Fragen nicht wichtig waren. Es ging darum, wie reuig sie wirkten. Bis heute ist nicht bekannt, wie viele hingerichtet wurden, geschätzt zwischen 4-12.000, die dann in flachen Massengräbern beerdigt wurden. Rund zehn Jahre später kamen Bulldozer und der Inhalt der Gräber verschwand. Sie weiß bis heute nicht, wohin die Knochen ihres Vaters verschwunden sind.
Marian, die Mutter im Roman, flüchtet sich in tiefes Schweigen. Aus Angst spricht sie nie über das, was geschah, erzählt der Tochter nichts vom Schicksal ihres Vaters. Sie hat den Eindruck, die Geschichte selbst (history) hätte ihr Leben übernommen und würde jetzt alles bestimmen. Dass sie selbst keinen Einfluss mehr auf die Ereignisse hätte. So versucht sie, das Schicksal wieder in den Griff zu bekommen, indem sie der Tochter nichts erzählt. Will den Fluss der Ereignisse unterbrechen und verhindern, dass die Tochter in die Fußstapfen des Vaters tritt.
Die Autorin sieht diese Kinder als eine verletzte Generation, oder verbrannt von den Eltern mit Wunden, die sich nicht schließen können, weil die verlorenen Elternteile nicht zurückkommen können. Ihre Eltern hätten sich entschieden, "eine Revolution zu machen" ohne ihre ahnungslosen Kinder zu fragen. Heutzutage würden sie von den überlebenden Eltern die "Generation der Hoffnung" genannt, doch viele Kinder können ihren Eltern nicht vegeben. Sie fühlen sich verraten, glauben, die Eltern hätten der Revolution einen höheren Stellenwert eingeräumt als den eigenen Kindern und seien hohe Risiken eingegangen, für die jetzt ihre Kinder bezahlen würden.
Bei ihr selbst sei es anders, denn sie habe mit ihrer Mutter immer wieder ausführlich über die damalige Zeit gesprochen und sich irgendwann entschieden, darüber zu schreiben. Wobei ihre Mutter anfangs nicht gerne darüber sprach und so nutzte Sahar Delijani ihre Chance als auf einem gemeinsamen Flug nach Vancouver die "bitte anschallen" Zeichen aufleuchteten. Sie habe ihr Notizbuch gezückt und diesmal sei ihre Mutter von der eigenen Tochter befragt worden.
Nicht nur durch ihre intensive Recherche hat Sahar Delijani das Gefühl, die Geschichte würde sich wiederholen. Sie begann bereits bevor dem arabischen Frühling mit der Arbeit an "Die Kinder des Jacarandabaums", doch die damaligen Ereignisse begleiteten sie ständig. Wieder wurden Menschen erschossen, wieder die Hoffnung auf eine bessere Zukunft... Die neue Revolution gab nicht den Impuls zu Entstehung des Buchs, aber sie zeigte ihr ein passendes Ende.
Noch heute reist sie in den Iran, besucht Freunde und Verwandte. Als sie 2011 dort war, spürte sie eine Welle der Traurigkeit. Als mit einigen Freunden das Gespräch auf die Niederschlagung der Proteste kam, musste die Gruppe vom Hinterhof ins Haus gehen, weil ein starkes Misstrauen gegenüber möglicherweise lauschenden Nachbarn herrscht. Einerseits war sie schockiert, andererseits planten ihre Freunden drinnen bereits die nächsten Schritte und jetzt könne man das Ergebnis sehen. Bei den Wahlen habe der moderate Kandidat gewonnen - die Hoffnung liege jetzt auf Wandel durch Reformen, statt wieder eine neue gefährliche Revolution.
Der arabische Frühling im Iran habe die Menschen erschreckt und habe ihr deutlich gemacht, dass sie genau überlegen muss, was und wie sie etwas sagt.
Derzeit arbeitet sie in Paris an ihrem zweiten Buch, in dem es um die Kinder der Revolution geht, um den Einfluss der politischen und gesellschaftlichen Ereignisse auf deren Leben.
Die Geschichte des ersten Buchs ereignete sich in kompletter Stille. Ihre Großmutter durfte noch nicht mal eine Beerdigung für Sahar Delijanis Vater abhalten. Alles musste in Stille und hinter verschlossenen Türen geschehen, der Name des Evin-Gefängnisses durfte nie genannt werden.
So ist es für sie jetzt die größte Befriedigung, dass heute alles laut ausgesprochen wird und auch der Name des Gefängnisses in Gesprächen genannt werden kann, sowie die Ereignisse dort.
Eine engagierte Autorin, auf deren zweites Buch ich schon sehr gespannt bin.