Nadeem Aslam: Der Garten des Blinden
Deutsche Verlags-Anstalt 2014. 432 Seiten
ISBN-13: 978-3421045881. 22,99€
Originaltitel: The blind man's garden
Übersetzer: Bernhard Robben
Verlagstext
Pakistan in den Monaten nach dem 11. September: Jeo ist mit Naheed, der großen Liebe seines Lebens, verheiratet, die auch sein Adoptivbruder Mikal begehrt. Als Jeo sich auf den Weg macht, in Afghanistan verwundeten Zivilisten zu helfen, begleitet Mikal ihn, doch ein Komplott führt die beiden unversehens zwischen die Fronten, Jeo stirbt, und Mikal gerät in Gefangenschaft.
Auch in das Leben der Familie zu Hause bricht der Krieg ein. Ihr Vater Rohan, gläubiger Muslim und Gründer einer liberalen Schule, sieht sein Lebenswerk durch Fundamentalisten bedroht, und Naheed tut alles, um die mühsam erkämpfte Freiheit der Frauen nicht wieder zu verlieren. Sie trauert um Jeo, gibt aber die Hoffnung nicht auf, dass Mikal eines Tages zurückkehrt.
Ebenso schonungslos wie poetisch beschreibt der vielfach ausgezeichnete Autor Nadeem Aslam in "Der Garten des Blinden" eine sehr gegenwärtige, dabei zeitlose Welt um Liebe und Krieg, Verlust und Verrat und um die tiefsten Beweggründe menschlichen Handelns.
Der Autor
Nadeem Aslam wurde 1966 in Gujranwala, Pakistan, geboren und musste mit 14 Jahren das Land wegen des Widerstands seines Vaters gegen das Zia-Regime verlassen. Er studierte in England Biochemie und Literatur und lebt heute in London als Schriftsteller. Nadeem Aslams Romane wurden vielfach ausgezeichnet; „Atlas für verschollene Liebende“ wurde u.a. für den renommierten Booker-Preis nominiert. Seine Bücher erscheinen in einem Dutzend Länder. "Der Garten des Blinden" ist sein vierter Roman und steht auf der shortlist für den DSC Prize for South Asian Literature 2014.
Der Übersetzer
Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Salman Rushdie, Peter Carey, Ian McEwan, Patricia Highsmith und Philip Roth. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.
Inhalt
Das Gegenteil von Krieg ist Zivilisation
Rohans Garten in Heer im nördlichen Pakistan, in dem die Bäume so hoch sind wie 10 Männer, ist Zeugnis einer untergehenden Welt. Hier wächst noch ein Schulholzbaum, aus dessen Holz früher die Schultafeln gefertigt wurden. Rohan erlaubt in seinem Garten einem Vogelbegnadiger, Vögel in Fallen zu fangen, die dessen Kunden später zur Vergebung ihrer Sünden freilassen werden. Der alte Mann erblindet; er wird die geradezu unwirkliche Schönheit seines Gartens nicht mehr lange sehen können. Rohan verliert in den Tagen nach dem 11. September 2001 sein Augenlicht, mit seiner Schule das mit seiner verstorbenen Frau gemeinsam geschaffene Lebenswerk und seinen Sohn. Obwohl Jeo sein Medizinstudium noch nicht beendet hat, will Rohans Sohn sich in Peschawar als Sanitäter für Verletzte des Kriegs zwischen den USA und Afghanistan melden. Seinem Vater verschweigt Jeo, dass er aus Peschawar direkt ins afghanische Kriegsgebiet reisen wird. Jeo will dort helfen, wo die Not am größten ist. Mikal, Jeos Freund und Adoptivbruder, wird Jeo als Beschützer begleiten und "ihm die Verwundeten vom Schlachtfeld holen". Zurück bleibt beim schon lange verwitweten Rohan Jeos junge Frau Naheed. Jeo weiß nichts davon, dass auch Mikal Naheed liebt. Rohans Schule wurde nicht im Frieden an einen Nachfolger abgegeben; Major Kyra, der neue Besitzer von Haus und Grundstück, steht auf der Seite der Taliban und Rohan ist fortan in seinem Häuschen nur geduldet. Rohans Schule samt Lehrern und Schülern wird zum Spielstein geldgieriger Warlords, die Kinder zu ihren Geiseln. Kyra sorgt dafür, dass Jeo noch am ersten Tag seines idealistischen Einsatzes an die Taliban verkauft und getötet wird. Mikal überlebt und will aus dem Einflussbereich des Warlords auf gefährlichen Wegen zurück zu Nadeem flüchten, die als Witwe zum Freiwild gieriger Männer geworden ist. In diesem moralischen Niemandsland wechselt Mikal seine Rolle von der Geisel, zum Gefangenen der USA bis zum Botengänger und Retter eines amerikanischen Soldaten, der wiederum als Rächer seines Bruders unterwegs ist. In diesem Krieg gibt es keine klaren Frontlinien, unklar ist den handelnden Personen häufig, auf welchem Stammesgebiet sie sich gerade befinden und welcher Warlord Geschäfte mit ihnen machen wird. Auch Rohan begibt sich auf eine heimliche Mission, er will den Sohn des Vogelbegnadigers aus der Hand der Taliban befreien, die für jede Kindergeisel mehr Lösegeld beanspruchen als ein ehrlicher Arbeiter in 20 Jahren zusammensparen kann.
Fazit
"Der Garten des Blinden" ist ein sprachlich virtuoses, verstörendes Buch voller Gewalt, Folter und Erniedrigung. Als westlicher Leser versteht man vermutlich nicht alle Bilder und Gleichnisse, die Nadeem Aslam für seine Leser zeichnet. Sehr anrührend zeigt Aslam die Situation muslimischer Frauen, die ihre getöteten Männer nicht betrauern dürfen und selbst wie eine Ware verschachert werden. Zentrales Thema des Buches ist u. a. Rohans Erblindung, die je nach persönlicher Sicht als schicksalhafte Erkrankung, Folge eines Kriegs, eines Traumas, der bitteren Armut oder als Strafe Allahs gesehen werden kann. Verstörend wirkt der krasse Kontrast zwischen Nadeems üppig wuchernden Sprachbildern und den schnöden kriminellen Taten, die die Figuren, angeblich im Namen Allahs, erleiden müssen.
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Zitate
"Die Lampe vor sich hertragend, geht er [Rohan] zur Rückseite des Hauses, das mitten im Garten steht. Vor Beginn der Bauarbeiten hatte er die Städte Mekka, Bagdad, Córdoba, Kairo, Delhi und Istanbul aufgesucht, die sechs Orte früher Pracht und Hoffnung des Islam. Aus jedem brachte er eine Handvoll Staub mit, den er im weiten Bogen auswarf, um dann zuzusehen, wie ihm Glaube, Urteil und Wahrheit aus der Hand wehten und sanft zu Boden sanken. In Gestalt eines Halbmondes, einer Sensenklinge, wurde entlang dieser reinigenden Linie dann das Fundament ausgehoben." (Seite 14)
"Der amerikanische Soldat trägt den Schneeleoparden im Hemd, als er irgendwann gegen drei Uhr früh die internationale Grenzlinie der afghanischen Provinz Paktika überquert und Südwaziristan betritt. Der kleine Kopf guckt aus seinem Kamiz, dessen obere zwei Knöpfe offen gelassen wurden. Es weht ein kreidiger Wind. Der Mann geht in die Nacht, die durchzogen ist mit den Plänen von Teroristen, den Absichten von Generälen, der Mathematik des Krieges. Er trägt einen schweren Rucksack und an der Hüfte ein Holster mit einem großen Thuraya-Satellitentelefon. Für den Fall, dass er das Thuraya aufgeben muss, steckt ein zweites, kleineres Satellitentelefon in der Tasche der Shorts, die er unter der Hose trägt." (Seite 352)
8 von 10 Punkten