Wie der Soldat das Grammofon repariert - Saša Stanišic

  • Zitat

    Original von beisswenger
    Starke Diskussion über die Literatur, die schon fast literarisch anmutet. Ich frage mich gerade, ob es in einem US-amerikanischen Bücherforum eine vergleichbare Diskussion gäbe. Möglicherweise eher nicht.


    Ich stelle mir gerade vor, magali würde oben auf dem Speicher meine Bibliothek begutachten. Unten pfeift der Wasserkocher. Würde sie zwei Etagen nach unten steigen? Kaffee oder Bücher, das ist hier die Frage!


    Du würdest mir den Kaffee natürlich bringen, sonst würdest Du mich während des ganzen Besuchs ja nicht zu Gesicht bekommen.



    Die Diskussion hier hat natürlich das gewisse 'Eulen'-Etwas. Sage ich mal. :grin
    Ansonsten sind wir hier AmateurInnen.


    In US-Bücherforen kenne ich mich nicht aus, aber im englischsprachigen Raum überhaupt wird heftigst über solche Themen diskutiert.
    Hast Du allein die Diskussion im Guardian vefolgt, Anfang März, nachdem Kureishi öffentlich erklärt hat, daß 'Creative Writing' für die Tonne ist und 99,9% der TeilnehmerInnen unbegabt?
    Hinreißend. Dabei erfährt man mehr übers Schreiben, als man in einem Leben verkraften kann.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Es wäre mir eine große Ehre und für feines Gebäck würde ich auch sorgen, liebe magali.


    Ich meinte eher die Unterscheidung zwischen Hochliteratur, Unterhaltungsliteratur und Trivialliteratur, die wir so gerne vornehmen. Die US-Amerikaner give a shit ...



    Guardian


    Danke für den Tipp. Ich habe mir das gerade angeschaut. Zweifelsfrei ist Kureishi ein Provokateur (komische Spezies). Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte.

  • Natürlich ist Kureishi ein Provokateur. Hat er fein hingekriegt.
    :lache


    Was den Unterschied zwischen Literatur und Unterhaltung angeht und die Sache, daß bei US-AmerikanerInnen bzw. überhaupt im angelsächsischen Sprachraum kein Unterschied gemacht wird:


    das ist eine fromme Legende, die vor allem hierzulande kolportiert wird.
    Sie entspricht keineswegs den Tatsachen.
    Natürlich gab und gibt es auch dort diesen Unterschied und natürlich wurde und wird er gemacht, grundsätzlich.


    Früher arbeitete man vornehmlich mit Begriffen, wie 'high-brow' 'middle-brow' und 'low-brow', je nach BenutzerIn mehr oder weniger abschätzig gemeint.
    Seit gut zwanzig Jahren heißt es:


    literary fiction und commercial fiction. Und natürlich weiß jede/r, wohin Auster und wohin King gehört.


    Da lob ich mir den deutschen Begriff 'Unterhaltungsroman'. Unterhaltung hat doch noch etwas Positives.
    'Commercial fiction' dagegen sagt genau, was erwartet wird. Daß sich etwas in hohen Auflagen verkauft.
    Der reine Verkauf ist aber kein Argument für Literatur. Ich finde den Ausdruck 'commercial fiction' ziemlich gruselig.
    ;-)

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    K. Kraus

  • Ja, wobei mir in diesem Zusammenhang der Begriff Unterhaltungsliteratur besser gefällt als Unterhaltungsroman, denn auch Erzählungen, Kurzgeschichten ... gehören in dieses Genre.


    À propos Roman: Hier sollte man in Deutschland besser abgrenzen, denn die meisten so genannten 100 bis 200 Seiten-Romane sind ja wohl eher Erzählungen, auch wenn unter dem Titel meist ein wenig schönfärberisch Roman steht.

  • hmmm, ich bin jetzt ein wenig überrascht, dass diese Diskussion ausgerechnet bei Sasa Stansics Buch aufkommt. Ich fand es war durchaus unterhaltend und interessant geschrieben, hatte eine wichtige Geschichte zu erzählen UND dazu eine ungewöhnliche Form im Schreibstil. Ein Stil, der so sicherlich nicht bei anderen Autoren zu finden ist und damit ist es vielleicht tatsächlich als "Literatur" zu bezeichnen.


    Ist dieser Stil durchgehend gelungen? Meiner Meinung nach nicht. Die ersten Seiten fand ich absolut faszinierend. Aber auf die Dauer wurde es mir etwas zu viel des Guten.


    Aber selbst wenn der Stil nicht 100% gelungen ist, so bleibt für mich der Eindruck eines besonderen Buches. Das war auch die einhellige Meinung unseres Lesekreises. Es bleibt uns allen in Erinnerung.

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

  • @ Beatrix: Falls das irgendwie falsch rübergekommen sein sollte: ich wollte nicht anzweifeln, dass dieses Buch zur "Literatur" gehört. Im Gegenteil. Ich hab's gelesen, weil ich herausfinden wollte, was "Literatur" ist. Und damit bin ich grandios gescheitert.


    Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Doris Lessing vielleicht? Ihre Bücher sind anerkanntermaßen Literatur - und ich habe nie was von ihr gelesen.....


    Ich auch nicht. Hm. "Das goldene Notizbuch" vielleicht? Laut Kurzbeschreibung "ein großes Buch über weibliche Intellektualität" - na, das klingt doch voll nach mir :rofl.


    Übrigens hatte ich deine Frage nach den Anführungszeichen nicht vergessen, @ magali. Ich habe auch gerade im Buch danach gesucht, finde aber die Stelle nicht mehr. Es ging, meine ich, darum, dass es mithilfe der Anführungszeichen nicht möglich ist, etwas gedachtes Nichtgesagtes (oder vielleicht auch Gesagtes und Nichtgedachtes) wiederzugeben. Was im Zusammenhang damit, dass letztlich alles Geschilderte im Zwielicht vager Erinnerungen und Wunschvorstellungen bleibt und nichts "wirklich" ist, Sinn ergibt.


    Es macht es nur nicht besser. :rolleyes


    Und soll ich jetzt eingestehen, dass es bei mir keinen Kaffee gibt? Keine Kaffeemaschine in der Wohnung, keine Kaffeebohne, nicht mal 'ne Filtertüte? Ich glaube, ich halt' einfach die Klappe und verdrücke mich zurück zur "U"-Literatur, wo ich hingehöre ... Was mich eigentlich wirklich interessieren würde, ist die Sache mit Dumas. Kann man sich die Zugehörigkeit zur Literatur "ersitzen"? Wenn ja, wäre ich fast versucht, bei BoD anzufragen, ob ich die Datenhaltungskosten für meine Schreibereien für die nächsten hundertfünfzig Jahre im voraus bezahlen kann ... :engel

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

  • Danke für die Erklärung der fehlenden Anführungszeichen. Das klingt hochspannend.


    zu Deiner Frage:


    :rofl


    Literarischen Ruhm kann man sich ersitzen, aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, daß unter denen, die zu einem solchen Schicksal verdammt sind, keine BoDlerInnen sind. Nicht mal, wenn sie tot sind, und das ist beim 'Ersitzen' meist Voraussetzung.
    ;-)


    Einige wenige von Dumas' Büchern sind Klassiker der Unterhaltungsliteratur. Mit Literatur-Literatur hat das nichts zu tun. Um das mal zu klären.




    *räusper* Wie kann man ohne Kaffee leben? :gruebel


    :chen

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali
    keine BoDlerInnen


    Mist! Und dabei war ich so sicher, die Voraussetzung, in hundertfünfzig Jahren tot zu sein, erfüllen zu können ...


    Zum Kaffee: Ich habe jahrelang Kaffee getrunken. Viel, gern, schwarz mit Zucker. Dann habe ich bei meiner jetzigen Arbeitsstätte angefangen. Binnen eines Jahres hatte ich derartige Magenschmerzen, dass mir klar wurde, irgendwas musst du aufgeben. Den Job brauche ich noch, das Betriebsklima wird sich nicht nennenswert verbessern - also weg mit dem Kaffee. Ich trinke ihn allerdings gerne noch, wenn ich irgendwo auf Besuch bin, oder im Café. Als echtes Kolonialwaren-Luxusgut, sozusagen :-).


    Ich stehe dann mal parat für ein weiteres Experiment. Ihr müsst mir nur sagen, was für ein Buch - von alleine werde ich's ja nicht als Literatur erkennen. :wave

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

  • Zwar war ich fest entschlossen, mich in diesem Forum auf keine Diskussion mehr einzulassen (und bin's weiterhin), aber hier kann ich nicht widerstehen und bitte, kurz einwerfen zu duerfen:


    Wenn Dich die Diskussion im englischsprachigen Raum (die eine etwas andere Tradition hat und zudem schwerpunktmaessig anders aussieht, weil die Erzaehltradition eine andere ist - das sorgt u.a. fuer einen sehr viel breiteren Bereich, den wir aus deutschem Winkel als "Grauzone" empfinden) interessiert, wenn Du gern historische Romane liest und wenn Du genau diesen Grenzbereich bzw. die Ueberschneidungen und Streitfaelle spannend findest, empfehle ich Dir einen Versuch mit Hilary Mantel.
    Und wenn Du ein aktuelles deutsches Beispiel lesen moechtest, das ebenfalls Elemente beider "Seiten" verwendet, in den Grenzbereich faellt und stark narrativ ist, empfehle ich "Visby" von Barbara Slawig. Die Autorin ist hier vertreten und sicher zu einem Gespraech bereit.


    Mir gefaellt die Bezeichnung "commercial fiction" deutlich besser als "Unterhaltungsliteratur", weil ich mit Unterhaltungsliteratur vor allem das Problem habe, dass sie mich nicht unterhaelt. Und Unterhaltung ist Teilzweck jeder Literatur. Wenn sie nicht unterhaelt, kann sie das, was sie sonst noch koennte, nicht einmal anfangen.
    "Commercial fiction" hingegen benennt klar den Entstehungsgrund. Damit kann ich etwas anfangen.


    Unterscheidungsmerkmale gibt es viele und kaum eines ist unumstritten. Ein geeichtes Messgeraet gibt es nicht. Interessant finde ich, sich zum Beispiel verwendete Mittel anzusehen und zu vergleichen. Die Lieferung sogenannter Identifikationsfiguren ist zum Beispiel eines, das recht eindeutig auf sog. Unterhaltung verweist. Verfremdungen, die Illusionen (wie sie die sog. Unterhaltung gern erzeugt) im Leser massiv angreifen, unterbrechen oder ganz zerstoeren, verweisen in aller Regel auf sogenannte Hochliteratur.
    Usw.


    Dass Autoren literarischer Romane grundsaetzlich keine Geschichte erzaehlen ('Ulysses' ist auch eine!), ist ein Geruecht, dass sich in Deutschland irgendwie hartnaeckig haelt, ich habe aber aus meinem Schiefwinkel den Eindruck, selbst dort stirbt es allmaehlich den Ehrentod. Richtig ist hingegen zweifellos, dass diese Geschichten andere dramaturgische Entscheidungen fordern als ihre kommerziellen Cousins und dass die Erzaehlung der Geschichte nicht alleiniger oder auch nur hauptsaechlicher Zweck ist. Der literarische Roman weist ueber die Geschichte hinaus, das ist zwar ein bisschen plakativ, aber recht griffig, finde ich.


    Bei Deinem Experiment wuensche ich Dir viele Entdeckungen.
    Charlie (jetzt wieder weg)

  • Josefa, ich lese gerade nochmal : Die Eleganz des Igels. Da gibt es eine tolle Stelle passend für dich. Renée, die concierge, sitzt mit ihrer Freundin beim Tee. Da sie aber den Duft des Kaffees so lieben, haben sie eine Tasse gekocht, die dann nie getrunken wird.....


    Das mit den weggelassenen Anführungszeichen ist wirklich interessant. Und dann gerade im Zusammenhang damit, wenn man die Wirklichkeit von Erinnerung bezweifelt.


    Also, ich bleibe bei dem Doris Lessing Vorschlag. Da ich kein Buch kenne, ist mir : Das goldene Notizbuch so lieb wie jedes andere.....ich schaue mal nach, ob es nicht womöglich im Schrank steht.
    Ich kann nur nicht gleich loslegen - ich bin mit der Hörrunde Schätzing mehr als gut beschäftigt. Aber so ab Anfang April lese ich gerne mit.


    Was ist denn eine BoDlerin???

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Was ist denn eine BoDlerin???


    BoD= books on demand
    Also Jemand, der auf eigene Kosten bei einem "Verlag" veröffentlicht
    (s. dazu Beiträge hier im Forum, vor allem von Tom)
    :knuddel1 :wave

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • meine völlig unliterarischen Gedanken zum Thema:


    ich finde Charlies Einwurf zum Protagonisten als Identifikationsfigur interessant. In vielen Büchern, die ich jetzt mal als Laie zumindest als so was Ähnliches wie Literatur betrachten würde, sind die Helden alles andere als Sympathieträger (mir fällt da spontan Rokland von Helgason und Der Hals der Giraffe von Schalansky ein)
    Was natürlich nicht bedeutet, dass ein Buch zwangsläufig Literatur ist, nur weil der Held ein Kotzbrocken ist. Ich habe gerade ein ziemliches mieses Buch gelesen, in dem, wenn ich's recht bedenke, der Autor versuchte, seinem Buch eine gewisse Literazität (gibt's das Wort?) zu verleihen, in dem er seine Helden mit absonderlichen, tendentiell unsympathischen Neigungen ausstattete.


    Und zum Thema Lesefluss: das ist eine zweischneidige Sache. Klar erleichtert es das Lesen, wenn man quasi ins Buch hineingesogen wird. Allerdings passiert es zumindest mir manchmal, dass ich mich dann einlullen lasse, anfange, oberflächlich zu lesen und dabei zu übersehen, was für einen Mist ich da eigentlich vor mir habe. Das ging mir so mit den purpurnen Flüssen, ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen und habe erst am Schluss gemerkt, was für ein Humbug und grandiose Zeitverschwendung dieses Buch eigentlich ist.


    Mir ist es manchmal sogar lieb, wenn der Lesefluss stockt, inhaltlich oder formal, wenn ich aus dieser Lesetrance gerissen werde. Ich lese gerade "Tokio, besetzte Stadt", und schaffe da nicht mehr als zehn, zwanzig Seiten am Stück, trotzdem lese ich es sehr gerne. Manche Leute rennen gerne durch den Wald, wenn sie sich anstrengen wollen, ich lese halt gerne anstrengende Bücher.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Also, bevor das womöglich jemand in den falschen Hals kriegt: die Anspielung auf BoD sollte ein Witz sein. Und zwar auf meine Kosten, bezogen auf meine Scheiberei. Nicht, dass sich jemand auf den Schlips getreten fühlt!


    @ Rumpelstilzchen: Mir geht's immer so ähnlich, wenn meine Kollegin sich einen Kaffee aufbrüht. Ich rieche das auch unheimlich gerne!


    Dann merken wir uns "Das goldene Notizbuch" einfach mal für April vor, oder? Vielleicht hat ja noch jemand Lust, uns Gesellschaft zu leisten?


    Mir ist gerade auch siedend heiß eingefallen, dass ich Maikäfer so halb mal eine Runde Felix Dahn versprochen hatte. Was mich zu einer Frage bringt ... *zu Magali schiel* Öhm... Literatur? Felix Dahn? Nicht, oder? Nee. Kann ich mir nicht vorstellen. Nach keiner Definition. Oder? Hm? :gruebel


    Zitat

    Original von Charlie
    Der literarische Roman weist ueber die Geschichte hinaus, das ist zwar ein bisschen plakativ, aber recht griffig, finde ich.


    Das Witzige (oder Traurige?) ist, dass ich diese Unterscheidung "U" oder "E" eigentlich bei meiner Bewertung von Büchern tatsächlich mache. Allerdings weitgehend ohne Kriterien dafür (die ich als Laie und Nur-Leser wohl auch nicht haben kann). Ich habe dabei tatsächlich nicht mehr als nur diesen Satz: etwas an dem Buch muss größer sein als nur die Geschichte. - Fakt ist, ein Buch wie "Das Schwert des Normannen" (ich hoffe, Ulf Schiewe verzeiht mir, dass sein Buch hier immer als Beispiel herhalten muss!) kann auf meiner Bewertungsskala eigentlich nicht mehr als acht Punkte kriegen. Das ist das Maximum. Damit es mehr werden, muss an dem Buch etwas Besonderes sein. Entweder ein Thema, das ich - aus irgendeinem Grund - für wichtig halte, oder Sprache, die ich - aus irgendeinem Grund - als "schön" empfinde.


    Aber eigentlich hilft mir das nicht weiter bei meinem Versuch, für mich zu definieren, was zum Geier das große L-Wort eigentlich bedeutet :grin. Zumal es mir ohnehin am liebsten wäre, etwas mehr von dem, was anscheinend "literarisch" ist, in der "bloßen" Unterhaltungsliteratur wiederzufinden. Insofern vielen herzlichen Dank für die Lesetipps! Sind notiert! :-)


    Zitat

    Original von Charlie
    Die Lieferung sogenannter Identifikationsfiguren ist zum Beispiel eines, das recht eindeutig auf sog. Unterhaltung verweist. Verfremdungen, die Illusionen (wie sie die sog. Unterhaltung gern erzeugt) im Leser massiv angreifen, unterbrechen oder ganz zerstoeren, verweisen in aller Regel auf sogenannte Hochliteratur.


    An Verfremdungen war das Buch wirklich reich. Bei der Identifikationsfigur würde ich zögern. Es ist ein Ich-Erzähler, ein sehr witziger, altkluger, sympathischer Junge, der Dinge tun und sagen darf, die man vielleicht selbst gern täte oder sagte. Ganz sicher jemand, der zur Identifikation einlädt. Andererseits bin ich nicht ganz sicher, was "Identifikationsfigur" in diesem Zusammenhang bedeutet; ich brauche beim Lesen nicht notwendigerweise eine Figur, mit der ich mich identifizieren kann, aber definitiv eine, die mich fasziniert. Wenn die fehlt, wird es für mich sehr schwierig (wie gesagt, ich bin zunächst mal glasklarer U-Leser :grin).


    @ DraperDoyle: Was den Lesefluss angeht, da bin ich ohnehin eher Langsamleser. Auch bei "bloßer" Unterhaltungsliteratur. Mir sind zum Beispiel (offenbar als einziger Teilnehmerin) auch einige sprachliche Unsauberkeiten in der letzten Leseunde aufgefallen, obwohl ich den Roman sehr spannend fand und ihn begeistert gelesen habe (oder alle anderen waren nur höflicher als ich und haben nichts dazu gesagt ... ist mir immer noch etwas peinlich ...)


    "Mist" literarischer Natur lese ich relativ oft. Teilweise sogar gern. Ich habe eine Schwäche für die "Forgotten Realms"-Romane von R.A.Salvatore, die ich auf englisch lese. Ich lese immer wieder mal Bücher von Autoren-"Kollegen", die ihre Bücher selbst veröffentlicht haben, mit allen gelegentlichen Macken und Schwächen, die das mit sich bringt. Ich komme sozusagen vom entgegengesetzten Ende des literarischen Spektrums. :grin Wenn ich mir mal ein Buch schnappe, das (nach welcher Definition auch immer) unter "Literatur" fällt, muss ich mich aber gewaltig nach der Decke strecken!


    Aber anstrengen ... nee. Also, echt nicht. Da fange ich ja lieber wieder mit der Kaffeetrinkerei an ...

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

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  • Der April ist notiert! Wir können das auch noch verschieben, ich bin meist ziemlich flexibel. Und das Buch muss ich wohl besorgen, bei einem flüchtigen Blick war es nicht aufzufinden.


    Ich denke auch gerade über die Identifikationsfigur nach. Und ich glaube, es ist das, was Josefa geschrieben hat, nämlich die Faszination. Das kann auch eine Figur sein, die unsympathisch ist und dennoch geht sie nicht aus dem Kopf. Sie muss die Mühe wert sein, über schwierige Passagen im Buch hinweg auszuhalten.
    Mein Beispiel für solch ein Buch ist das letzte von Jirgl: Nichts von euch auf Erden.
    Der Buchhändler hatte mich schon gewarnt, das sei aber schwierig. Kunst eben.
    Manchmal war ich auch versucht, das Buch in die Ecke zu werfen, vor allem wegen der ungewohnten, sperrigen Sprache. Schließlich hat die sich im 23. Jahrhundert ja auch fortentwickelt....und dennoch es zog mich immer wieder hin.
    Das ging soweit, dass ich mir manche Passagen laut vorgelesen habe.
    Es ist ein Buch, das mich heute noch beschäftigt - das ist für mich auch immer ein Zeichen für ein "gutes" Buch - es landet nicht gleich im Vergessen.

  • Ich habe zufällig heute Abend diese interessante Diskussion entdeckt. Eigentlich wollte ich ja weiter meinen aktuellen Carofiglio-Krimi lesen, und jetzt hänge ich hier fest. :lache


    Was für ein Segen es ist, wenn einem (als Kind und Jugendlichem) die Eltern nicht reinreden, weil sie selber gar nicht wissen, was Literatur ist. Ich habe von Kindheit an alles gelesen, was mir in die Finger kam und auch nur halbwegs interessant zu sein schien. Ob das, was ich las, Literatur ist, habe ich mich nie gefragt. In der Schule bekam ich ja einiges davon serviert, was definitiv als Literatur angesehen wird, und iwie hat sich dabei ein Gefühl dafür entwickelt, was ich als Literatur empfinde.
    Besonders eingeschlagen hat bei mir Dürrematts Die Physiker. Ein Drama, das sowohl sowohl spaßig als auch sehr raffiniert ist, sprachlich zugleich saftig bis derb und doch auch wieder tiefsinnig und scharfsinnig. Zudem führt es höchst anschaulich und auf verblüffende Art und Weise zu den ganz großen Fragen, die damals aktuell waren und es heute noch immer sind. So etwas schon im Alter von 15 Jahren zu lesen sorgt ganz von selbst dafür, dass man hohe Erwartungen an Literatur entwickelt.


    Nichtsdestotrotz las und lese ich immer weiter querfeldein alles, was mir gerade zusagt, auch wenn's nur um Entspannung und Unterhaltung geht.


    Gelesen habe ich u.a. auch Doris Lessings Goldenes Notizbuch, welches sehr fein beobachtet ist, aber mir zu sehr ins Depressive tendierte und zu wenig Spannung bot , um das alles auszuhalten und ganz bis zum Ende dranzubleiben. Zu langweilig auf Dauer. War einfach dem, was ich selbst in meinem Tagebuch schrieb, tendenziell zu ähnlich. Vielleicht war ich auch einfach zu jung? Da ich aber auch einige andere Romane von ihr begonnen und wieder beiseite gelegt habe, ist es eher keine Frage des richtigen Zeitpunktes.
    Ich habe den Wunsch, von Literatur nicht übermäßig hingehalten und gelangweilt zu werden. Ich kann sehr lange ausharren, wenn ich das Gefühl habe, dass das wichtig ist, dass es notwendig ist und zu irgendetwas führt, was von Bedeutung ist. So in Richtung Erkenntnisgewinn oder überraschende Wende oder unerwartete Einsichten. Zuviel herumrühren im immer gleichen Brei, gemeint sind damit zu viele noch so tolle Formulierungen, nur um zu zeigen, dass man (frau) toll formulieren kann, befriedigt mich hingegen keineswegs. Solcherlei Angeberei kann ich mir nicht mehr antun, da breche ich ab, egal, ob andere Das Buch für hohe Literatur halten. Ich komme immer mehr dahin, nur noch Bücher zu lesen, die mich nicht unnötig und übermäßig nerven. Und es gibt davon viel mehr, als ich früher gedacht habe. Weiter unten ein paar Beispiele.
    Kafka zu lesen heißt, sich auch mit allen möglichen Spielarten von Depressionen, Alpträumen und Realitätsverschiebungen auseinanderzusetzen, auf eine ganz eigenwillige, skurille und darum wesentlich interessantere Art und Weise, so dass ich Das Schloß ganz gelesen habe, obwohl sich nicht immer alles sofort erschließt und vieles sehr dunkel und verzweifelt wirkt. Aber es ist so interessant, w i e er schreibt, wie er das alles ineinanderfließen lässt, dazu diese eigenwilligen Gedankengänge... Viele Szenen sind auch nach knapp 30 Jahren in meinem Kopf lebendig, und wie schon andere hier schrieben, ist das oft ein Merkmal von Literatur. Und die Aussage dieses Werkes werde ich nie vergessen, solange mein Hirn nicht von der Demenz zerfressen wird. Jedesmal, wenn ich mich wieder einmal in irgendeinem Amt mit all den umständlichen Prozeduren herumschlagen muss, denke ich an Kafkas Schloss und kann mich über die Absurdität des Ganzen amüsieren.


    Christa Wolfs Kassandra und Kein Ort. Nirgends sind eine ganz andere Art Literatur. Beide Romane haben mich schwer beeindruckt.


    Auch beim zweiten Lesen vor etwa einem Jahr immer noch eine unglaubliche Wucht entfaltet hat 1984.


    Das alles sind aber nicht oder nicht mehr meine Lieblingsbücher.


    In den letzten Jahren sind es oft recht kurze Romane, manchmal als Jugendbuch deklariert, manchmal nicht. Wobei die Kriterien, nach denen das entschieden wird, mir undurchschaubar erscheinen.


    Vor einem halben Jahr in einem offenen Bücherschrank entdeckt und inzwischen gelesen habe ich Der gelbe Vogel, und das ist eins dieser Bücher, die ich als die höchste Form der Literatur empfinde: ganz einfach in Aufbau und Sprache, aber jedes Wort und jeder Satz sitzt und es wird ein wirklich schweres Thema auf eine scheinbar ganz einfache Weise behandelt. In dieser Einfachheit jedoch kommen erst all die wirklichen Facetten des Themas zum Vorschein. In diesem Roman wird eine so intensive Wirkung erzielt, dass ich mir die Frage gar nicht stellen muss, ob es hier um Literatur geht.


    Auch Paula Fox gehört zu den Autorinnen, die mit scheinbar einfachen Worten und sehr feinfühliger Beobachtung kurze Romane schreibt, die sich einprägen, die niemals kitschig sind und die weit entfernt sind von 08/15 Gefühlsduselei mit Spannungskurve. Die Themen und Perspektiven sind oft gerade die, die nur schwer wirklich glaubwürdig 'rüberzubringen sind, nämlich die Sicht auf einen oft recht kurzen Lebensabschnitt aus der Sicht eines Kindes. Dazu gehören Paul ohne Jakob, Ein Bild von Ivan und Ein Dorf am Meer, wobei ich das letztgenannte ganz besonders gut finde.


    Und auch Karlijn Stoffels Rattenfänger ist aus meiner Sicht Literatur vom Feinsten. Was diese Autorin auf ca. 200 Seiten in Bildern, Szenen und knappen, aber wunderbar ins Schwarze treffenden Dialogen zustande bringt, schaffen andere auf 700 Seiten nicht.


    Bei dem, was so alles als hohe Literatur besprochen und ausgezeichnet wird, kommen meiner Meinung nach auch etliche Romane vor, die ich als gekünstelt oder künstlich empfinde oder als überambitioniert. Manchmal ist es auch so, dass das, was in den Feuilletons hochgepriesen und als neu oder experimentell angekündigt wird, doch nur ein etwas veränderter Aufguß von dem ist, was andere Autorinnen schon weit früher geschaffen haben. Jüngere Feuilletonist/innen kennen vermutlich vieles nicht (mehr), das über den üblichen Kanon hinausgeht.
    Ich denke da bspw. an Aller Tage Abend. Darin waren m.E. schöne experimentelle Ideen, ja, aber das Ganze ist einfach völlig überladen. Der Roman hat mich weder berührt noch erreicht, obwohl ich es eigentlich sehr mag, wenn in Texten und mit Texten auch formal experimentiert wird. Aber weniger ist oft mehr. Und es muss emotional etwas bei mir ankommen. Gelingt das nicht, ist wie kalter, abgestandener Kaffee - einfach schal.
    Da las ich doch lmit viel viel mehr Vergnügen Irmtraud Morgner, die hat mit ihrer Trobadora Beatrix und der fahrenden Spielfrau Laura ja schon wild experimentiert, fragmentiert und collagiert. Dabei entwickelte sie viel Fantasie und Witz, spielt auf große Dichter und Literaten der verschiedensten Epochen an und lässt die mythologische Figuren auf seltsame, freche Art Weise lebhaft in der Gegenwart mitgestalten und bringt doch auch melancholische Momente und große Fragen hinein, mal in poetischer Form, mal als Dokument, mal als Dialog. So geht es doch auch, warum also langweilige Literatur lesen, wenn's auch unterhaltsame Literatur mit Tiefsinn, Desillusionierung und Erkenntnisgewinn gibt?
    Natürlich hängt es auch sehr von der eigenen Lebensgeschichte ab, welche Art Literatur man lesen mag und welche einem ungenießbar ist.
    Ich glaube, dass es daher nie ganz eindeutige Festlegungen geben kann, sondern immer weiter heftige Debatten darüber, was Literatur ist und was nicht. Und das gefällt mir sehr, denn das ist spannend.

  • Zitat

    Original von Josefa
    Mir sind zum Beispiel (offenbar als einziger Teilnehemrin) auch einige sprachliche Unsauberkeiten in der letzten Leseunde aufgefallen, obwohl ich den Roman sehr spannend fand und ihn begeistert gelesen habe (oder alle anderen waren nur höflicher als ich und haben nichts dazu gesagt ... ist mir immer noch etwas peinlich ...)


    Genau das meinte ich :wave Wenn mich ein Roman so "einsaugt", kriege ich von Rechtschreibung und Sprache rein kopfmäßig nicht mehr viel mit, sei es im Guten oder im Schlechten


    Zitat

    Original von Josefa
    "Mist" literarischer Natur lese ich relativ oft. Teilweise sogar gern. Ich habe eine Schwäche für die "Forgotten Realms"-Romane von R.A.Salvatore, die ich auf englisch lese. Ich lese immer wieder mal Bücher von Autoren-"Kollegen", die ihre Bücher selbst veröffentlicht haben, mit allen gelegentlichen Macken und Schwächen, die das mit sich bringt. Ich komme sozusagen vom entgegengesetzten Ende des literarischen Spektrums. :grin Wenn ich mir mal ein Buch schnappe, das (nach welcher Definition auch immer) unter "Literatur" fällt, muss ich mich aber gewaltig nach der Decke strecken!


    Aber anstrengen ... nee. Also, echt nicht. Da fange ich ja lieber wieder mit der Kaffeetrinkerei an ...


    Ich kenne Forgotten Realms nicht, aber so allgemein finde ich richtigen Mist, drittklassige Regionalkrimis zum Beispiel, fast noch anstrengender zu lesen als irgendwas wie auch immer geartetes "Literarisches". Ich lese auch ab und zu in Leseproben von Selbstveröffentlichern rein, da müsste ich mich richtig zwingen, davon ein ganzes Buch zu lesen :rolleyes


    Was natürlich nicht heißt, dass ich nicht auch gerne Mist lese. Juretzka oder Bateman sind eher keine Hochkultur, aber ich liebe ihre Bücher ;-)

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)