Wie der Soldat das Grammofon repariert - Saša Stanišic

  • ... oder: Josefa sucht die Literatur. Ein Selbstversuch.


    Vorgeschichte: Im Zusammenhang mit diesem Thread wurde mir klar, dass ich eigentlich keine Ahnung habe, was man unter "Literatur" versteht. Und wieso. Weswegen ich mir aus dem Artikel, der in diesem Thread verlinkt ist, ein Buch herausgepickt habe, das offenbar allgemein als "Literatur" anerkannt wird. Und das lese ich jetzt und versuche, dem Begriff auf die Schliche zu kommen. Vielleicht hat ja jemand Lust, mir dabei virtuell die Hand zu halten. :grin


    Das Projekt startete holprig - das Buch war bei Koch Neff tagelang nicht lieferbar. Jetzt habe ich's endlich und frage mich, ob KNOe mich schonen wollte. Nach anderthalb Kapiteln ist mein Verhältnis zu diesem Buch jedenfalls ausgesprochen zwiespältig. Es gibt einige Dinge, die mir sehr gut gefallen, witzige Zusammenhänge, die konstruiert werden (der Tod des Großvaters und Carl Lewis' Hundert-Meter-Weltrekord, die erzählerische Klammer rund um die Zauberkräfte des Jungen Aleksandar im ersten Kapitel), aber das wird durch ebenso viele Dinge, die mir nicht gefallen, wieder wett gemacht. Zumindest verstehe ich bis jetzt noch nicht, was den generellen Unterschied zur "Nicht-Literatur" (also rein unterhaltender Lektüre) ausmacht. Das, was mir an dem Buch bisher gut gefällt, würde mir bei Unterhaltungsromanen auch gut gefallen. Und die Tante, die so schnell spricht, dass der Autor ihr keine Leerzeichen gönnt, finde ich auch im Rahmen der hohen Literatur - Pardon - dämlich.


    Als erstes formales Kriterium kann ich lediglich ausmachen, dass es bei "Literatur" offenbar üblich ist, auf Anführungszeichen bei wörtlicher Rede zu verzichten. Kommt wahrscheinlich irgendwie intellektueller rüber. Aus ähnlichem Grund ist offenbar das Setzen von Kommata dem der eigentlich fälligen Punkte vorzuziehen ...


    Inhaltlich lässt sich noch nicht viel sagen. Alles sehr anekdotenhaft. Das dörfliche Jugoslawien der Kurz-vor-Wende-Zeit wie aus dem Touristen-Reiseprospekt. Da schmatzt und rülpst, feiert und scheißt das pralle Leben, sofern es nicht gerade dabei ist, sich in der Drina zu ertränken. Vieles kam mir recht belanglos vor, gerade im Zusammenhang mit dem gewählten Tonfall und der Perspektive: der Blick eines Erwachsenen durch die Augen eines Kindes.

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

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  • Schade :-(. Ich wäre um den einen oder anderen Mitstreiter froh, der mir Dinge, die mir missfallen, vielleicht schönreden könnte :grin.


    Am Ende des zweiten Kapitels nahm die Handlung dann enorm Fahrt auf. Und in den dramatischen Szenen, da passt alles, auch die Sprache zum Inhalt. Inhaltlich gefällt mir das Buch sowieso nach wie vor ausgezeichnet. Zu meiner Verblüffung liest es sich auch ganz locker-flockig weg. Sehr im Gegensatz zu, zum Beispiel, Umberto Eco, bei dem ich mich geistig sehr viel mehr (über)fordert fühle. Ich mag auch die ungewöhnlichen Blickwinkel, die scheinbar unwichtigen Beobachtungen.


    Und immer gerade, wenn ich sagen will: gutes Buch, sehr gutes Buch!, dann legt sich mir wieder irgendwas quer. Solche Sätze wie:


    Zitat

    Du hattest keinen Opa, Aleksandar, du hattest einen Traurigen.


    Ich vermute, solche Sätze sind dann eben die "Kunst" an der Angelegenheit. Und vermutlich müsste ich jetzt nachdenken über den Unterschied zwischen den Begriffen "künstlerisch", "künstlich" und "gekünstelt". Was ich nicht tue, weil ich von Kunst nichts verstehe.


    Was ebenfalls auffällt: Jeder Erzählfluss wird sofort und konsequent gebrochen. Sowas darf gar nicht erst entstehen. Erzählende Passagen finden sich nur als Einschub, der seinerseits wieder die Handlung unterbricht; alles andere ist Momentaufnahme. Alles Eindruck, null Reflektion. Impressionismus statt Realismus?


    Boah, wieder so eine Kunst-Frage: Wenn Monet wie Rembrandt gemalt hätte, wäre er dann weniger "künstlerisch" gewesen?


    Immerhin habe ich einen Verbündeten im Buch, was die Zeichensetzung betrifft. Aleksandars Lehrer wünscht sich ebenfalls mehr Anführungszeichen :grin.

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

  • Andererseits finde ich es interessant, auf diese Weise ein Buch einfach "mitzulesen" ohne es selbst zu lesen......


    Die Frage, was ist Kunst eigentlich, die kann uns ja auch ganz generell beschäftigen. Josefa, dafür finde ich deine Frage interessant, nämlich, wenn Monet wie Rembrandt gemalt hätte. Dann wäre er sicher ein guter Kopist gewesen. Das halte ich dann eher für ein Handwerk.
    Zur Kunst gehört für mich, etwas Eigenes zu schaffen, nicht mit dem Althergebrachten zufrieden zu sein, sondern neue Einflüsse aufzunehmen.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen


    Die Frage, was ist Kunst eigentlich, die kann uns ja auch ganz generell beschäftigen. Josefa, dafür finde ich deine Frage interessant, nämlich, wenn Monet wie Rembrandt gemalt hätte. Dann wäre er sicher ein guter Kopist gewesen. Das halte ich dann eher für ein Handwerk.
    Zur Kunst gehört für mich, etwas Eigenes zu schaffen, nicht mit dem Althergebrachten zufrieden zu sein, sondern neue Einflüsse aufzunehmen.


    Hm. Und wenn jemand heute wie Monet malt - ist er dann nicht auch ein Kopist? Ist es dann nicht gleichgültig, ob er Rembrandt kopiert oder Monet? Und was ist noch "neu" und "eigen" in einem Handwerk wie dem Schreiben, bei dem (heißt es doch immer) alles schon mal dagewesen ist?


    Ah, ignoriert mich :-). Ich drücke mich jetzt schon seit Tagen vor meiner abschließenden Beurteilung des Buchs. Jetzt, wo der Autor auf der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden ist, traue ich mich ja gar nicht mehr ran ans Thema.


    Habe ich oben etwas davon geschrieben, daß jeder Erzählfluß konsequent gebrochen wird? Streicht das, bitte. Das im ersten Teil, das war Erzählfluß. Zumindest verglichen mit dem, was im zweiten Teil kommt. Da wechseln wir vom Impressionismus zum Surrealismus. Soweit ich mich an meinen Kunstunterricht noch erinnere.


    Inhaltlich spannt sich der Bogen im ersten Teil vom Tod des Großvaters über die ersten Vorboten des Kriegs und die Eroberung von Visegrad durch serbische Truppen bis zur Flucht des Erzählers Aleksandar mit seiner Familie nach Deutschland. Es sind Erinnerungen eines Jungen an eine verschollene Heimat, die im zweiten Teil, in dem der Erzähler eine Reise nach Sarajevo und Visegrad unternimmt, hinterfragt und angezweifelt werden. Was von dem, an das der Junge sich erinnert, ist Wahrheit, und was nur Wunschtraum, nur eins von jenen vielen unvollendeten Bildern, von denen Aeksandar in seiner Kindheit so viele gemalt hat?


    Das ist toll gemacht. Und an den Stellen, an denen das Buch gut ist, ist es sensationell gut. Die Szenen im besetzten Visegrad schmerzen, so "echt" sind sie. Mir fällt kein besseres Wort dafür ein.


    Und dann ... ja, dann gibt es eben solche Seiten wie die von 179 bis 181. Wo gezählt wird, wieviele Kopfbälle ein lokaler Fußball-Nachwuchsstar während einer Wette mit den Schuljungen machen kann. Einfach nur gezählt, auf fast zwei Seiten. Von "eins" bis "hundertzweiundneunzig". Oder die Seiten, auf denen der Erzähler, mit leicht abweichendem Wortlaut und langsam steigendem Alkoholpegel, fünfmal hintereinander wahllos Nummern in Sarajevo anruft, um sich nach dem Schicksal eines Mädchens zu erkundigen, von dem nie ganz klar wird, ob es überhaupt existiert hat.


    Kunst? Ich vermute es, da ich es nicht kapiere.


    Dass mir viele Dinge unklar blieben (die Rolle "Onkel Mikis" - ist er identisch mit "General Mikado" während des Fußballspiels, oder wird er zumindest durch ihn symbolisiert?) hat sicher auch mit meinen mangelnden Hintergrundkenntnissen zum Bosnienkrieg zu tun. Das kann man dem Autor also nicht vorwerfen.


    Gerade im zweiten Teil bleibt vieles unklar. In manchen Szenen ist nicht zu entscheiden, ob es sich um Erinnerungen Aleksandars handelt, um seine Vorstellung bestimmter Szenen oder um Bilder, die nur symbolisch für das Kriegsgeschehen stehen sollen. Damit habe ich weniger Probleme; gerade die letzte Szene, die Totenfeier an Opa Slavkos Grab mit den Urgroßeltern gefielt mir sehr gut. Das Fußballspiel ging mir unheimlich nahe.


    Um eine Rezension werde ich mich in jedem Fall drücken :grin. Ich fühle mich nicht kompetent, eine abzugeben. Gefallen hat es mir in Summe gut; es stellt den Leser vor keine besonderen geistigen Herausforderungen und ist in weiten Passagen hervorragend geschrieben. Mit dem großen Abstrich der oben genannten Beispiele. Davon kam mir, mit Verlaub, etliches wie völlig überflüssige Effekthascherei vor.


    Was ich noch immer nicht ganz verstehe - warum darf jemand, der so großartig erzählen kann, das in dieser "Literatur" nicht einfach tun? Das Buch könnte m.E. sehr viel leichter zugänglich sein, ohne von seinem Wert zu verlieren. Und Lumos und Rumpelstilzchen bräuchten viel weniger Angst Respekt vor der Lektüre zu haben.

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

  • Zitat

    Original von Josefa
    Was ich noch immer nicht ganz verstehe - warum darf jemand, der so großartig erzählen kann, das in dieser "Literatur" nicht einfach tun? Das Buch könnte m.E. sehr viel leichter zugänglich sein, ohne von seinem Wert zu verlieren. Und Lumos und Rumpelstilzchen bräuchten viel weniger Angst Respekt vor der Lektüre zu haben.


    Natürlich darf jemand einfach erzählen. Niemand zwingt eine/n, die/der schreibt, etwas anderes zu machen.
    Literatur ist aber mehr als erzählen. Nur erzählen ist zu wenig. Wie erzählt wird, ist wesentlich. Es geht ums Gestalten. Die Sprache, die Wörter, die Grammatik, die Satzzeichen, selbst Schrifttypen und -größen sind die Mittel. Das ist ein Werkstoff, wie Knet oder Ton oder Stein oder Papier oder was auch immer.
    Daran knetet und schneidet und meißelt und klebt man herum, bis es die Form angenomen hat, die dem Thema entspricht. Und zwar in der Vorstellung der- oder desjenigen, die/der schreibt.


    Stanisics Thema, so wie Du das beschreibst, ist der Krieg. Den will er darstellen. Ich schätze dach Deinen Beschreibungen, daß die Zerissenheit des Texts die Form ist, die er gewählt hat.
    Er hätte episch vom Krieg erzählen können, wie Tolstoi. Aber vielleicht hat er sich gesagt, daß man im 21. Jahrhundert so nicht mehr gestalten kann. Ebensowenig, wie man heute noch malen kann, wie Rembrandt. Oder Monet. Deren Mittel sind erschöpft, bekannt. Zu Grenzen geworden, die KünstlerInnen heute wieder überschreiten müssen.
    Kunst muß sich entwickeln, sonst wird sie steril und ist bald tot.


    Ob man dem jeweiligen Entwurf als Leserin folgt, ist unerheblich. In erster Linie zählt, was die KünstlerInnen wollen.


    Daß man trotzdem einsteigen kann, hast Du ja gerade bewiesen. :grin


    Und Deine Leseeindrücke dazu sind mindestens eine Rezi. Eigentlich sind sie schon mehr, das ist eine regelrechte wichtige Auseinandersetzung. Ich bin fast in Versuchung, mir das Buch bei Gelegenheit doch noch mal anzusehen. Weil Du das so attraktiv gemacht hast.
    Also ...


    :lache

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von Magali
    Und Deine Leseeindrücke dazu sind mindestens eine Rezi. Eigentlich sind sie schon mehr, das ist eine regelrechte wichtige Auseinandersetzung. Ich bin fast in Versuchung, mir das Buch bei Gelegenheit doch noch mal anzusehen. Weil Du das so attraktiv gemacht hast.


    :write Zustimmung zu jedem einzelnen Wort!


    Diesen hochgelobten, mit Preisen bedachten Bücher begegne ich immer mit großem Respekt. Sehr oft (ehrlich gestanden - meistens) gefallen sie mir nicht und dann frage ich mich, was bei mir nicht stimmt :rolleyes. Bin ich ein Banause - oder ist es doch nur Geschmackssache :gruebel?


    Allerorten wird zur Zeit "Glücklich die Glücklichen" von Yasmina Reza hochgelobt, und ich fand es einfach nur anstrengend und eher belanglos. ?(

  • Ich wusste, du würdest so etwas sagen, magali ...


    Aber.


    Der Mann hat ja nun was zu sagen. Wirklich und ehrlich. (Ich meine, dass ist das, was ich mir immer vorwerfe: zu schreiben, obwohl ich nichts zu sagen habe.) Und ich wage zu behaupten, nur durch die Form verliert er Leser. Wie Lumos oder Rumpelstilzchen. Oder auch mich, denn ohne die Löffler-Debatte wäre ich nie und nimmer auf dieses Buch aufmerksam geworden und hätte mich daran gewagt.


    Das ist schade. Das Buch ist ja überhaupt nicht schwer zu lesen. Es ist nur schwer, sich darauf einzulassen.


    Was ich außerdem nach wie vor nicht begreife: die strenge Zweiteilung, die offenbar bei der Einordnung von erzählenden Texten herrscht. Zumindest war das der Eindruck, den ich aus der Diskussion rund um das Interview mit Frau Löffler mitgenommen habe. Entweder Unterhaltungsmassenware, oder Literatur - dann gelten völlig eigene Regeln. Vieles von dem, was Saša Stanišic in seinem Buch macht, hätte mir bei - nur als Beispiel - Ulf Schiewes Normannen-Abenteuerroman auch gefallen. Die kleinen, scheinbar belanglosen Beobachtungen zum Beispiel, die er mit solcher Wucht einsetzt. Ich habe auch ganz und gar nichts dagegen, wenn mir mal etwas anderes vorgesetzt wird als die durchgestylte 0815-Erzählprosa, die ja inzwischen in neun von zehn Romanen fast austauschbar geworden ist.


    Wieso geht nur das eine oder das andere?

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

  • Ich weiß.
    Shame on me.


    :grin



    Achtung:


    es gibt nicht nur das eine oder das andere. Die Übergänge sind fließend. Es gibt einen riesigen Zwischenbereich. Deswegen wird ja so heftig diskutiert und gestritten.
    Was ist Literatur in höchster Form, was Literatur grad so, was gehobene Unterhaltung, was Unterhaltung und was Kitsch?
    Das bewegt sich. Es lebt, Igor, es lebt.
    Ähem.


    Zur Kunst:


    Du sagst: nur durch die Form verliert er Leser.
    Mag sein.


    Aber das ist egal. Ganz brutal so.
    In der Literatur geht es nicht in erster Linie darum, möglichst viele LeserInnen anzulocken. Es geht darum, was die Schriftstellerin/der Schriftsteller machen will, erreichen will. Und zwar von einem Ausgangspunkt aus.
    Es ist kein Egotrip per se.
    Schriftstellerin/Schriftsteller stehen an einem bestimmten Punkt innerhalb der gesamten Literatur. Sie fangen nicht bei Null an. Sie haben gelesen und sich Gedanken gemacht, nicht nur über die fiktionalen Texte anderer KollegInnen, sondern auch über das Werden und den derzeitigen Zustand ihrern Kunst. Wozu sich die KollegInnen über die Jahrhunderte auch geäußert haben.
    Was wir meist übersehen, ist, daß sich AutorInnen auch immer damit auseinandersetzen, wie ihre 'Kunst' aussieht, ihr Handwerk, ihre Ästhetik, was sie erreichen wollen. Der Blick der LeserInnen, der von den fiktionalen Texten bestimmt ist, ist einseitig.
    Schriftstellerinnen diskutieren stets und ständig über Literatur. Über Sprache, über Mittel, darüber, wie man die Grenzen verschieben kann, was möglich ist mit ihrem Werkstoff. Daraus entwickeln sie ihre Mittel.
    Sie haben irgendwann dann 'ihr' Thema gefunden und das wollen sie damit bearbeiten.


    LeserInnen sind eingeladen, ihnen zu folgen. Sich einzulassen. Wer nicht will, läßt es.
    Dieses Folgen kann in kleinen Schrittchen geschehen, manchmal muß man eine Steigung bewältigen, manchmal gehts richtig steil zu und hin und wieder hängt man halsbrechrisch über tödlichem Abgrund. Es kann anstrengend sein. Ab und zu stürzt man ab.
    Es ist ein Abenteuer.
    Was kann man Besseres haben?

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali
    Schriftstellerinnen diskutieren stets und ständig über Literatur. Über Sprache, über Mittel, darüber, wie man die Grenzen verschieben kann, was möglich ist mit ihrem Werkstoff.


    Das ist vermutlich eine extrem dumme Frage, und ich bitte um Nachsicht, aber: wozu? Was ist der Zweck?


    Wieso ist die Form offenbar wichtiger als die Funktion? (Für zwei Seiten aneinandergereihte Zahlen gibt es echt keine Funktion. Das ist pure Affektiertheit.) Warum Grenzen verschieben um des Grenzverschiebens willen? Um als "intellektuell" zu gelten?


    Und welchen Grund hätte ein ganz normaler Leser, sich "darauf einzulassen"? Mal ehrlich, warum sollte ich? Ich lerne nichts dabei. Ich muss beim Lesen nicht den Verstand anstrengen, höchstens muss ich mich ärgern. Es bringt mir nichts - außer dass ich jetzt bei den Eulen damit angeben kann, ein Buch gelesen zu haben, das unter "Literatur" fällt :grin. Und Angeberei halte ich eher für Ausdruck charakterlicher Schwäche.

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

  • Die Frage nach dem Zweck wird immer wieder gestellt, von allen, die sich mit Literatur beschäftigen.
    Dementsprechend viele Anworten gibt es.


    Eine grundlegende Antwort ist etwa die: es gehört zum Handwerk. Wie bei allen anderen Berufen auch. Wie kann ich das, was ich kann, zum bestmöglichen Nutzen einsetzen. Man übt ja ständig, entwickelt sich, sucht neue Methoden, überprüft die Wirkung.
    Deswegen verschiebt man auch Grenzen. Das bedeutet, daß sich etwas entwickelt. Das ist in der Literatur genauso, wie in allen anderen Bereichen.


    Form/Funktion:
    das Verhältnis von Form zu Funktion eines Texts bestimmt die Autorin. Sie kann entscheiden, was sie unterordnet, Form unter Funktion, Funktion unter Form oder ob die beiden gleichgeordnet sind.
    Ich habe Stanišic nicht gelesen, ich kann nicht beurteilen, ob die beiden Seiten voller Zahlen ihre Berechtigung haben. Von dem Buch gibt es hier im Forum Rezensionen, dazu könnten sich die Leserinnen äußern. ?
    Ich finde es interessant, daß es zwei Seiten Zahlen gibt, ich finde es genauso interessant, daß das niemand angemerkt hat außer Dir hier. Hast Du mal nach anderen Rezensionen geguckt? amazon oder so? Wird das diskutuert? Vielleicht gibt es eine Antwort darauf. In der Erstrezi hier im Forum steht z.B., daß es im Roman eine Antwort auf die Frage gibt, warum der Autor keine Anführungszeichen benutzt.
    Warum? Ich bin neugierig. :grin


    Warum man sich auf Literatur einlassen soll, muß jede selber wissen. Es war Dein Experiment. Wenn Du es als mißlungen ansiehst, okay.
    Aber es sagt ja nur, daß Du Stanišic irgendwie gut, zugleich aber seltsam bis ärgerlich fandest. Über Literatur sagt es nichts, nicht einmal über zeitgenössische, und um die geht es doch.


    Deinen Satz, daß Du jetzt ein Buch gelesen hast, das unter Literatur fällt, habe ich nicht kapiert.
    Das machst Du doch öfter. Du hast Austen gelesen und die Brontes, Dostojevsky, Rosendorfer und Kehlmann, Irving und Huxley, Dumas, Hesse, Max Frisch ...
    Literatur.
    :gruebel

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zwischendurch bin ich mal kurz verlorengegangen.....


    Josefa, ich finde, dass das Buch durch das, was du berichtet hast, viel interessanter geworden ist. Ich habe es schon auf meine Buchliste gesetzt.


    In der Kunst geht es ja nicht darum, irgendeine Wirklichkeit exakt abzubilden. Das kannst du schon nicht mit einem Fotoapparat. Je nachdem, wie das Licht einfällt, sieht das gleich Motiv eine Stunde später ganz anders aus. Und bewirkt beim Betrachter etwas Anderes.


    So ähnlich finde ich, ist es mit Literatur. Je nachdem, wie du etwas in Worte oder Zeichen fasst, kommt etwas völlig Verschiedenes heraus.


    Vielleicht können wir mal mit einem Buch wie dem von dir gelesenen eine Leserunde machen.
    Damit wir es tatsächlich zusammen lesen und unsere unterschiedlichen Sichtweisen zusammentragen können. Ich glaube auch, dass gerade bei solchen Büchern Leserunden am sinnvollsten sind - einfach, weil der eine die zwei Seiten Zahlen nur blöde findet, die nächste reimt sich einen Sinn zusammen und die übernächste zuckt nur mit der Schulter......


    Es gibt von Stanisic ein neues Buch: Vor dem Fest.
    Vielleicht hat ja jemand Interesse :-)

  • Das ist ja eine sehr interessante Unterhaltung hier.


    Leserunden zu solchen Büchern stelle ich mir sehr reizvoll vor. (Oder alle schweigen.)


    Bei der Frage, was Literatur ist, komme ich mir manchmal auch recht dumm vor.

  • Zitat

    Original von magali


    Warum man sich auf Literatur einlassen soll, muß jede selber wissen. Es war Dein Experiment. Wenn Du es als mißlungen ansiehst, okay.
    [...]
    Deinen Satz, daß Du jetzt ein Buch gelesen hast, das unter Literatur fällt, habe ich nicht kapiert.
    Das machst Du doch öfter. Du hast Austen gelesen und die Brontes, Dostojevsky, Rosendorfer und Kehlmann, Irving und Huxley, Dumas, Hesse, Max Frisch ...
    Literatur.


    Naja. Hauptziel dieses "Projekts" war ja, rauszukriegen, was dieser Begriff "Literatur", in dem Sinn, in dem du und offenbar der Rest der Welt ihn verwenden, eigentlich bedeutet (wenn ich ihn verwende, tue ich das im Wortsinn - alles, was aus Buchstaben besteht). Und woran man sie erkent.


    Von diesem Ziel scheine ich weiter weg zu sein denn je, wenn du mir jetzt sagst, dass ich seit Jahren "Literatur" lese, ohne dass mir das auch nur aufgefallen wäre. Okay, bei Kehlmann hatte ich den leisen Verdacht :grin. Aber Rosendorfer? Rosendorfer mit seinem (von mir heiß und innig geliebten!) bayrisch-barocken Sprachschwulst? Auf die Idee wäre ich nie gekommen. Und - Dumas? Der "Die drei Musketiere"-Dumas? Belanglose Historien-Abenteuer-Schmonzette, nur durch ihr Alter geheiligt? Wird Ulf Schiewes "Schwert des Normannen" in hundertfünfzig Jahren auch zur Literatur zählen, wenn sein Verlag es hartnäckig genug auf die Backlist setzt? ?(


    Okay. Weißt du was, ich nehme dich jetzt mal bei der Hand und wir gehen gemeinsam an meinem Bücherregal entlang. Wenn Irving schon Literatur ist, was ist mit Paul Auster? Eco? Flaubert? (Okay, außer Salammbo habe ich von dem nichts gelesen; der Rest steht da nur zur Zierde.) Die Manns lassen wir mal aus, das kann ich mir selber denken. Thackeray? Arthur Conan Doyle (und ich warne dich,wenn du bei dem "ja" sagst, frage ich als nächstes nach Karl May! :grin)


    Und dann: Moers, Minette Walters, Jonas Jonasson, Dorothy Sayers, Peter Ustinov. Daneben meine geliebten Historienschmöker: Ellis Peters, Robert Gordian, Andrea Schacht. Charlotte Lyne.


    Sorry, falls das jetzt irgendwie unverschämt rüberkommt, aber ich kapier's echt nicht. Was macht ein Buch zur "Literatur"? Wer setzt das fest, und anhand welcher Kriterien? Und ja, ich habe mir den Wikipedia-Beitrag und die stark voneinander abweichenden bis einander widersprechenden Definitionen durchgelesen. (Mein alter Geschichtslehrer hat mal gesagt: wenn man etwas nicht genau definieren kann, hat man keine Ahnung, wovon man redet ...)


    @ Rumpelstilzchen: Falls du das Buch tatsächlich liest, können wir gerne hier weiter diskutieren. Vielleicht bist du ja diejenige, die mir die unverständlichen Dinge erklären kann. Aber noch ein Buch von dem Herrn... nee, ich glaube nicht :grin. Soviel Kultur hält mein armer alter Kopf nicht aus, fürchte ich.


    Zitat

    Original von made
    Bei der Frage, was Literatur ist, komme ich mir manchmal auch recht dumm vor.


    Ich glaube, da können wir einen Club aufmachen ...

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Josefa ()

  • Ich habs aufgegeben, mir Gedanken über den Begriff Literatur zu machen. Mir geht es seit jeher darum, ob mir ein Buch gefällt oder nicht. Allerdings versuche ich, seit ich bei den Eulen bin, herauszubekommen, was es ist, das mich an einem Buch fasziniert, abstösst, langweilt, fesselt, etc.

  • Mades Ansatz hilft mir weiter. Darüber nachzudenken, was man gerade liest. Was ist daran faszinierend, blöde, aufregend, langweilig.
    Und wozu um alles in der Welt gibt es neuerdings diese seltsamen Prologe? Welche sind sinnvoll? Welche Show.


    Das beantwortet ja nicht die Frage nach der Literatur, aber man kann eher dahinterkommen, warum sich jemand entschlossen hat, etwas so und nicht anders zu schreiben.


    Vielleicht können wir uns auf ein gemeinsames Buch einigen? Irgendwas vermeintlich Schwieriges?
    Karl May eher nicht......
    Doris Lessing vielleicht? Ihre Bücher sind anerkanntermaßen Literatur - und ich habe nie was von ihr gelesen.....

  • Josefa


    :rofl :rofl


    Ich habe mich ja von Anfang an gewundert, warum Du so darauf beharrst, daß Du keine Literatur liest.
    Danke auch für die Einladung an Dein Bücherregal. Für einmal kann ich mich dann auf eine berufen. Üblicherweise ist das nämlich mein erster Weg, wenn ich Leute besuche. Ich nehme mir eben noch Zeit, 'Guten Dank, wie geht's' und 'Schöne Wohnung hast Du' zu sagen, Mantel oder Jacke hinzuwerfen und dann stehe ich schon am wichtigsten Platz. Vor dem Regal. Alles weitere ist mir von da an ziemlich egal.
    :grin


    Zum Thema:


    die AutorInnen, die ich aufgezählt habe, hatte ich mit Absicht durcheinander gewürfelt. Da gibt es Klassiker der Unterhaltungsliteratur,
    Literatur, ältere
    Literatur, Kanon
    Literatur, zeitgenössische
    und einige VertreterInnen der sog. 'gehobenen' Unterhaltungsliteratur, also in dem Zwischenbereich, zu dem jede einen anderen Standpunkt hat.
    Es kommt oft einfach auf den Blickwinkel an.


    Du hast Salammbô genannt.
    Das ist
    ein historischer Roman
    ein Klassiker der historischen Romanliteratur
    ein Klassiker, was die Rezeption des Bilds eines 'Orients' in der mittel - und westeuropäischen Kultur betrifft.
    Ein Meilenstein = Klassiker eines Publikumserfolgs.
    Literatur, weil die Geschichte sehr genau konstruiert und nicht einfach nur runtererzählt ist.
    Aber: kein rein literarischer Meilenstein, weil das Buch nach Madame Bovary erschienen ist. Damit wurde bekanntlich der moderne Roman erfunden, das kann man halt bloß einmal.
    Ein paar mehr Funktionen des Buchs - es hat bestimmt noch mehr - fallen mir grad nicht ein.
    Gehobenster der 'gehobenen' Unterhaltungsromane? Unterste Stufe der literarischen Werke, Unterpunkt: historisch?


    Was ich damit sagen will:


    man kann verschiedene Reihungen 'wichtiger' Bücher aufstellen und die meisten Bücher finden sich in mehreren Reihen wieder.


    Was den Begriff 'Literatrur' angeht:
    alles Geschriebene ist ein bißchen weit gegriffen, finde ich. Meine Einkuafszettel sind's nicht, meine Mails ebensowenig und das meiste, was ich hier schreibe, auch nicht.
    Fiktionalisiert sollte es schon sein, was mich angeht. Es solte auch bewußt gestaltet sein, Inhalt und Form in einer klar zu erkennenden Beziehung stehen. Die Sprache sollte bestmöglich eingesetzt sein.
    Solche Faktoren suche ich, wenn ich entscheide, ob für mich ein Text 'Literatur' ist.



    Danke für die anregende Diskussion. Was die Regalbesichtigung angeht, kannst Du schon mal Kaffee aufsetzen. Kaffee ist etwas, das mich tatsächlich ein paar Minuten von Büchern loseisen kann.


    :lache


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Starke Diskussion über die Literatur, die schon fast literarisch anmutet. Ich frage mich gerade, ob es in einem US-amerikanischen Bücherforum eine vergleichbare Diskussion gäbe. Möglicherweise eher nicht.


    Ich stelle mir gerade vor, magali würde oben auf dem Speicher meine Bibliothek begutachten. Unten pfeift der Wasserkocher. Würde sie zwei Etagen nach unten steigen? Kaffee oder Bücher, das ist hier die Frage!