Irina Liebmann erzählt in diesem Buch die Geschichte einer Versöhnung, der Versöhnung mit ihren eigenen Wurzeln.
Geboren 1943 als Tochter eines deutschen Kommunisten und einer Russin, wächst sie nach dem Krieg in der DDR auf. Während sie in ihrer Kindheit einige Male mit ihrer Mutter Großmutter und Tante in Sibirien besucht, bricht dieser Kontakt und damit der Kontakt zur Sowjetunion ziemlich früh ab, zurück bleibt Russland, auch nach der Perestroika, als das Herz der Finsternis, als ein Unort, der ihr Angst einjagt und mit dem sie nichts zu tun haben will.
Erst als die Mutter gestorben ist, wagt sie eine Reise dorthin, genauer drei Reisen, drei Schritte nach Russland.
Auf diesen drei Reisen, im Frühling, Winter und Sommer, nach Moskau, Kasan an der Wolga und in ein kleines Dorf bei Moskau, stellt sie sich ihren Vorurteilen, ihrer eigenen Vergangenheit aber vor allem den Menschen im heutigen Russland.
Es ist faszinierend, wie Liebmann in diesem doch recht dünnen Büchlein ein Gesellschaftsbild des heutigen Russland zeichnet. Die Zerrissenheit der Gesellschaft, was die Beurteilung der Sowjetvergangenheit angeht, die tiefe Verunsicherung vieler Russen, die oft zu tiefer Religiosität, aber auch zu aggressivem Nationalismus und unverhohlenem Antisemitismus führt, die immer größer werdenden sozialen Gegensätze: in kurzen Begebenheiten, Gesprächen, Begegnungen wird Irina Liebmann und in der Folge auch uns vieles verständlicher.
Erstmals fallen ihr die Unterschiede der Fremd- und Eigenwahrnehmung der russischen, aber auch der deutschen Gesellschaft auf, sie sieht Vorurteile bestätigt und widerlegt, kommt zu überraschenden Erkenntnissen.
Vor allem aber verliert sie die Angst vor Russland, findet dieses vertraute, wohlige Gefühl wieder, dass ihre Kindheitserinnerung mit Russland verband, auch wenn ihr vieles fremd bleibt.
Das ist alles herrlich klischeefrei. Der Sommer auf der Datsche, der Besuch in einem orthodoxen Kloster oder die Metropole Moskau: die Bilder im Kopf, die sich unweigerlich einstellen, werden durch Liebmanns speziellen Blickwinkel sofort zerstreut. Weg das Bild der Babuschka, die Gläser mit sauren Gurken hortet sondern die Lebensfreude, die im Vorbeigehen geerntete Himbeeren geben. Die Kirche: kein Ort mit grimmig dreinblickenden Popen und sich wild bekreuzigenden Frauen, sondern Heimat dieser einen, faszinierenden Ikone, einer unter vielen, die sagt „Da bist du ja!“.
Die Sprache ist sehr reduziert, mit leisem Humor, manchmal lakonisch, manchmal poetisch, aber absolut kitschfrei. Deshalb habe ich dieses Buch, das als Erzählung firmiert, auch nicht bei den Sachbüchern platziert: die Sprache ist einfach zu schön, zu wichtig. Und wenn es auch eindeutig autobiografisch ist, ist nicht die Autorin, sondern Russland der eigentliche Protagonist.
Wer Russland ein kleines bisschen besser verstehen will, etwa angesichts dieser seltsamen Winterspiele, empfehle ich dringend dieses Buch