Müller haut uns raus - Jochen Schmidt

  • Ich habe keine Ahnung, wie dieses Buch zu mir gelangt ist. Und als ich hinten las „Eine rasante Tragikomödie übers Erwachsenwerden im Spaßzeitalter“, da dachte ich mir: nicht schon wieder ;-(.


    Aber da ich ja kein Buch einfach so wegschmeißen kann, habe ich angefangen zu lesen, und erst wieder aufgehört, als ich damit durch war.
    Ja, es geht tatsächlich ums Erwachsenwerden, aber das ist um einiges origineller als der Klappentext vermuten lässt.


    Jochen, aufgewachsen in der Ostberliner Platte, treibt sich kurz nach der Wende, gerade mal zwanzig, in der Szene der Prenzlberger Boheme herum. Er haust in einer verkommenen Hinterhofbude mit Ofenheizung, trifft sich mit verkappten Punkmusikern, depresssiven Lyrikerinnen und hoffnungsvollen Malern. Offiziell Mathematikstudent, will er doch eigentlich nur schreiben, nur leider weiß er nicht so genau, was.
    Abhilfe erhofft er sich von einem Auslandssemester in der Bretagne, aber natürlich wird auch dort aus einem Looser kein Macher und deshalb liefert auch dieser Aufenthalt ihm zwar jede Menge neuer Eindrücke und Erkenntnisse, aber natürlich keinen entscheidenden Impuls für seine berufliche Laufbahn. Und so landet er wieder in seiner Berliner Hinterhofbutze.
    Naja, das war sie schon fast, die ganze Handlung. Aber da nicht „handeln“ sondern „beobachten“ die große Stärke unseres Helden ist, reicht das dennoch für einen äußerst kurzweiligen Roman.


    Denn Jochen Schmidt, bzw. sein Protagonist Jochen Schmitt liefert mit diesem Buch Einblick in eine Welt, die, wenn man heutzutage durch den Prenzlauer Berg spaziert, nicht weniger fern erscheint als das Kaiserreich. Da gibt es noch die armen Poeten in finstren, feuchten Buden, da hausen Punks, die schon in der DDR aneckten, aber mit dem neuen System auch nicht so richtig klar kommen, in heruntergekommenen Altbauwohnungen. Es gibt noch Relikte der DDR-Bürgerlichkeit, die Pfarrfamilie in Pankow zum Beispiel, mit deren Tochter Jochen eine selbstzerstörerische Beziehung pflegt.
    Aber auch die Schilderung seines Jahres in der Bretagne ist einfach umwerfend. Nein, er landet nicht in einem pittoresken Dorf, mit kauzigen Fischern, marmeladekochenden Bonnes Mammans und einer überwältigenden Landschaft, sondern in der hässlichen Großstadt Brest, in der daueralkoholisierte Bretonen in neonbeleuchtenden Wettbars die Zeit totschlagen. Es ist nicht das Idyll, der Sehnsuchtsort, den er da kennenlernt, sondern Menschen, die aus schwierigen Situationen, wie Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit das Beste zu machen versuchen. Mir viel Humor, Empathie aber auch Verwunderung präsentiert uns Schmitt hier seine Bretagne abseits der üblichen Klischees.


    Eine „rasante Tragikomödie“ ist das alles freilich nicht, denn Jochen ist alles, nur nicht rasant. Es ist eher die Geschichte eines Unentschlossenen, der nach seiner Entlassung aus der NVA völlig unvermittelt in ein Leben in der Bundesrepublik fällt, der wie früher in seinem alten Kiez lebt, während die Welt um ihn herum sich langsam aber sicher radikal verändert, der in der Kultur, in Musik und Literatur, Sinn für sein Leben sucht (ich interpretiere den Titel so, dass Heiner Müller einer der Hoffnungsträger dieser Sinnsuche ist) und sich so konsequent dem kapitalistischen Heilsversprechen entzieht.
    Das Ganze ist zwar manchmal hart an der Grenze zur Nabelschau, aber über weite Strecken eine überaus amüsante Geschichte eines jungen DDR-Bürgers im Ostberlin der neunziger Jahre.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)