Ich trau mich dann auch noch mal und möchte euch die Geschichte, die als Hausaufgabe für das Schreibtreffen nächsten Mittwoch gedacht ist, nicht vorenthalten. Bin außerdem auf eure Meinungen gespannt. ... Aufgabe war eine Geistergeschichte zu schreiben. Ich wollte jedoch eine gute Geister Geschichte erzählen.
„Es ist vorbei.“, flüstere ich meiner Tochter, die mit verheulten Augen an meinem Krankenhausbett sitzt und meine Hand drückt. „Vorbei.“ Meine Augen kann ich nicht länger aufhalten. Krampfhaft versuche ich ein Lächeln zu erzwingen. Wärme. Ich spüre Wärme und erkenne ein Licht. Mein Herz schlägt nicht mehr, die Stimme des Arztes und der Schwestern, die bis eben noch mit auf der Intensivstation waren, haben den Raum verlassen, da sie wussten, dass es mit mir zu Ende geht. Mein Herz war nicht stark genug. Es wird ganz heiß. Geblendet von einem grellen Licht öffnet sich eine große Wolkenpforte. Zarte Harfentöne, begleitet mit Panflötenmelodien, empfangen mich schwebend im Himmelreich.
„Willkommen, willkommen im Land der Schutzengel.“, begrüßt mich eine Engelgestalt. So habe ich mir Engel vorgestellt. Zierliche Geschöpfe mit einem weißen Kleid und rosa Flügeln, die so durchsichtig sind, dass ich das Gefühl habe, sie zerbrechen.
„Wo bin ich?“
„Im Land der Schutzengel. Erkennst du mich nicht?“
„Nein.“
„Ich bin deine Oma. Deine Oma Gertrud. Seitdem ich gestorben bin, hatte ich ein Auge auf dich. Jetzt komme ich dich abholen und ich freue mich, dass wir wieder vereint sind.“
Mir ist ganz schwindelig. Wie kann das sein? Oma Gertrud? Nein. Unmöglich. Doch sie ist es tatsächlich.
„Oma. Das ist, du bist es wirklich? Ist Mutter auch hier?“
„Ja. Sie ist aber unterwegs. Komm mit. Du brauchst keine Angst haben. Du kannst fliegen. Ich zeige dir alles und erkläre dir, was nun auf dich zu kommt.“
„Aber ich bin doch tot. Was soll schon noch auf mich zukommen? Es ist vorbei. Mein Herz hat aufgehört zu schlagen.“
„Du weißt doch. Es heißt, es gibt ein Leben nach dem Tod. Ich wollte es auch nicht wahrhaben. Aber es gibt es wirklich. Hier im Himmel. Alle kommen wir nach dem Tod hier zusammen und haben die Aufgabe einen uns nahestehenden lebenden Menschen zu beschützen. Auch dein Opa ist unterwegs. Er passt auf deinen Schwiegersohn auf.“
„Auf meinen Schwiegersohn? Auf Paul? Oma ich kann das hier nicht glauben.“
„Alle die gestorben sind und von uns aufgenommen werden, können es nicht glauben. Aber es ist Wirklichkeit. Das ist das Leben nach dem Tod.“
Über den Wolken fliegt Gertrud mit mir durch den weiten, blauen Himmel. Unzählige Engel fliegen herum und bringen Verstorbene in ihr neues Reich. Es dauert Sekunden, mir kommt mein Jungfernflug wie Stunden vor. Wir kommen in ein Zimmer aus rosa Samtwolken. Auf einer Wolke lasse ich mich vorsichtig nieder. Denn ich habe Angst, dass ich herunter falle. Erstaunt stelle ich fest, dass ich bereits Flügel habe und genauso aussehe wie Gertrud.
„Ich sehe ja genauso aus wie du?“ Sie lacht.
„Ja, Klara. Aber wenn man ganz genau hinsieht, kann man ein Gesicht erkennen. Das Gesicht deines früheren Ichs.“
„Was muss ich denn jetzt machen? Ich bin so aufgeregt, dass ich am liebsten sofort zurück zur Erde fliegen möchte.“
„Nur die Ruhe. Alles der Reihe nach. Soviel darf ich dir verraten, du wirst deine Enkelin Sarah beschützen. Sie vermisst dich jetzt schon unheimlich. Für Kinder ist der Tod immer schmerzlich. Morgen Abend wenn sie schläft fliegen wir gemeinsam zu ihr auf die Erde. Wenn sie schläft, flüsterst du ihr beruhigende Worte zu. Das es dir gut geht, dass du im Himmel bist. Du wirst sie immer im Auge behalten. Nur sie wird dich hören und erkennen. Es wird ihr ein Gefühl von Sicherheit geben. Du wirst sie begleiten, bis sie alt genug ist und dich nicht mehr braucht.“
„Was heißt das, nicht mehr braucht?“
„Du wirst selbst herausfinden, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist.“, erwidert Gertrud lächelnd. „Natürlich bist du weiterhin für sie da. Aber irgendwann kann sie dich nicht mehr sehen. Doch sie wird spüren, dass du nach wie vor an ihrer Seite bist.“
„Das ist also das Leben nach dem Tod. Es ist wunderschön hier.“ Gertrud nickt zustimmend.
„Hier werden wir gebraucht und es ist immer genug zu tun.“
„Um wen kümmerst du dich denn jetzt? Wo ich hier bin?“
„Um deine Tochter. Sie braucht mich jetzt.“
„Und wieso kümmert Opa sich um Paul, meinen Schwiegersohn?“
„Weil er keinen Sohn hat. Es ist zu kompliziert das zu erklären. Jeder bekommt eine lebende Person zugewiesen auf die er acht zu geben hat. Und glaube mir, niemand bleibt alleine.“
„Das ist ja schöner wieder im Märchen.“
„Ja. Wir sind Geister, Klara. Aber gute Geister. Ruh dich jetzt etwas aus. Lass dich vom Klang der Musik erfreuen. Ich hole dich wenn Sarah schläft ab, dann fliegen wir zusammen zur Erde.“
…
„Mein Kind. Es geht mir gut.“, tröstet Klara die schlafende Sarah.
„Ich bin bei dir.“
„Oma?“, flüstert Sarah und sieht ihre Oma in Form eines Engels. Müde reibt sie sich die Augen. „Oma? Oma. Du bist es wirklich.“
„Ja, mein Kind. Ich bin es. Schlaf weiter. Alles ist gut. Weißt du, es gibt wirklich einen Himmel. Dorthin fliege ich wieder zurück und gebe auf dich acht. Dein Leben lang. Vergiss es nicht.“
„Nein Oma.“, flüstert das Kind schluchzend und fällt allmählich in einen tiefen und ruhigen Schlaf. Bis zum Morgen bleibt Klara an Sarahs Bett, während Gertrud sich um Sabine, Klaras Tochter kümmert.
„Komm jetzt Klara. Fliegen wir wieder zurück. Die Sonne geht auf.“
„Wann fliegen wir wieder hierher?“
„An deiner Beerdigung. Am Tag deiner Beerdigung fliegen alle Engel zu ihren Schützlingen und stehen ihnen an diesem schweren Tag bei um ihn leichter zu ertragen. Es gibt ihnen Sicherheit.“
…
Die Zeit raste. Sarah wuchs heran und verliebte sich das erste Mal mit fünfzehn in einen Jungen aus dem Nachbardorf. Klara wusste, jetzt würde Sarah sie nicht mehr wahrnehmen. So war es auch, als sie nachts an ihr Bett flog und ihr zuflüsterte, sie sollte keinen Unsinn machen. Die Beziehung zwischen Sarah und dem jungen Mann schien die große Liebe doch nach drei Jahren kam das Aus.
An diesem Tag flog Klara zu Sarah um ihr beizustehen.
„Oma? … Oma bist du es wirklich?“, fragte Sarah. Wie damals konnte es nicht glauben.
„Ja. Sarah. Ich bin es.“
„Wo warst du, als ich dich gebraucht habe? Warum hat das mit Sebastian nicht gehalten?“
„Nun Sarah, es sollte nicht sein. Ihr habt nicht zusammengepasst. Glaube mir, du wirst weitere Männer kennenlernen und den Richtigen eines Tages finden. Übrigens, ich war immer bei dir. Du hast mich nicht gebraucht.“, zwinkert Klara ihr zu.
„Jetzt wird es Zeit zu gehen. Vergiss nie, ich bin IMMER bei dir. Du bist jetzt eine Erwachsene junge Frau, die das Leben noch vor sich hat. Mach etwas daraus. Bis bald.“
Verwundert, dass ihre Oma nicht mehr an ihrem Bett saß, rieb sie sich die Augen. Was war das für ein Quatsch. Schutzengel. So etwas gab es doch nicht. Nein. Unmöglich. Sie hatte schlecht geträumt und fertig. Geister. Pah. Ihre Oma war tot. Nach dem Tod war das Leben vorbei. Endgültig.
…
Im Himmel beobachten Klara und Gertrud Sarahs Handeln.
„Schade, dass die Menschen auf der Erde nicht an uns glauben. Dabei sind wir täglich bei ihnen.“
„Ja. Es ist schade. Aber ich glaube, auch Sarah wird diesen Zauber eines Tages verstehen. Doch sie ist noch zu jung und du darfst nicht vergessen, sie hat noch Liebeskummer. Wir können auch nicht immer in das Geschehen eingreifen. Als du gestorben bist, haben die Ärzte ihr bestes gegeben. Was aber wichtig ist. Wenn der Zeitpunkt des Todes gekommen ist, dann sind wir zur Stelle. Sofort. Sobald das Herz aufhört zu schlagen, nehmen die Verstorbenen uns auf ins Himmelreich und beschenken sie mit dem, wo wir nie mit rechnen:
Dem Leben nach dem Tod. Und jetzt komm, nehmen wir unseren Schönheitsschlaf und lauschen noch eine Weile der wunderschönen Engelsmelodie.
ENDE