Zarte Tiefheit
Während der vergangenen zwölf Monate habe ich (nur) sechs überzeugende Erzählungen von deutschsprachigen Autoren gelesen, was keine ungewöhnliche Bilanz wäre, gäbe es nicht diesen bemerkenswerten Unterschied: Es handelte sich zur Hälfte um weibliche Autoren. Auf der Männerseite trumpften Clemens Berger ("Ein Versprechen von Gegenwart"), Thomas Glavinic ("Das größere Wunder") und Michael Köhlmeyer ("Die Abenteuer des Joel Spazierer"), aber anders als in den Jahren davor schafften genauso viele Frauen unter meine persönlichen Favoriten: Eva Menasse ("Quasikristalle"), Monika Zeiner ("Die Ordnung der Sterne über Como") - und jetzt Katharina Hartwell. Im Jahr davor gelang es nur einer Autorin, überhaupt auf meiner Leseliste zu landen, aber Juli Zehs küchentischpsychologische Tauchernovelle "Nullzeit" überzeugte mich lediglich davon, vorerst keine weiteren Romane der Absolventin des "Deutschen Literaturinstituts Leipzig" zu kaufen.
Nun also ein Debüt. Von Katharina Hartwell kann man wissen, dass sie im Jahr 2009 den renommierten Literaturpreis des Radiosenders "MDR Figaro" gewonnen hat. Drei weitere Jahre hat es gedauert, bis ihr erster Roman erschien. Und ich habe ihn gelesen. Gerne gelesen. Sehr gerne.
"Das Fremde Meer" erzählt nicht eine Geschichte, sondern zehn. Nein, genau genommen sind es elf. Da ist die im Präsens verfasste Liebesgeschichte von Marie und Jan, die die dramaturgische Klammer bildet. Marie, die Ich-Erzählerin, ist schüchtern, introviertiert, fast menschenscheu, schreibt seit Ewigkeiten an der Doktorarbeit und hat keine sehr hohe Meinung von sich, aber dann trifft sie Jan und lernt neue Seiten kennen. Neue Seiten an sich und neue Seiten des Lebens. Diese Liebe, die auf so leisen Füßen daherkommt, ist tief, aufopfernd, aber auch fragil und verletzlich. Sie ist zugleich fundamental und existentiell. Sie ist wie nichts sonst.
Und dann sind da diese zehn Geschichten, die den Roman in der Hauptsache ausmachen. Seltsam utopische, zuweilen deprimierende, fantasievolle, merkwürdige Geschichten, die (möglicherweise) in einem Land spielen, in dem es dunkle Winterwälder, geheimnisvolle Küsten, wandernde Häuser, Totenschiffe, herztote Zirkusartisten, muffige Irrenanstalten, Geisterfabriken und undurchdringliche Wolkenformationen gibt. Diese Geschichten erzählen immer von Rettungen - Rettungen in letzter Sekunde. Aber es geht auch um das Gerettetwerdenwollen. Um Dunkelheit und Hoffnung. Und, klar, um Liebe.
Ich habe noch nie ein Buch wie dieses gelesen. Es ist dem Berlin Verlag hoch anzurechnen, ein so merkwürdiges (im Wortsinn) Buch als Spitzentitel ins Programm genommen zu haben, denn "Das Fremde Meer" ist formal sperrig, fast bis zum Ende rätselhaft, folgt keiner klassischen Dramaturgie, eigentlich aber überhaupt keiner. Von der erzählerischen Schönheit der Geschichten und der stilistischen Sicherheit abgesehen besteht der Reiz scheinbar darin, das Rätsel zu ergründen, das die einzelnen Erzählungen verbindet, doch dieser Gedanke wird über die gut 560 Seiten hinweg irgendwann zur Nebensache. Das Buch verfügt über eine ... wie soll ich sagen? Eine zarte Tiefheit. Das trifft es nicht ganz, aber mir fehlen verblüffenderweise die richtigen Worte. Diese Geschichten, die ihre eigene Normalität ganz selbstverständlich, oft lakonisch, immer eindringlich und ohne jeden Zweifel vermitteln, sind einfach bewundernswert und transportieren eine auf wohltuende Weise irritierende Ästhetik. Außerdem sind sie verdammt spannend und fesselnd.
Wollte man einen negativen Aspekt anmerken, dann jenen, dass "Auflösung" und Ende des Romans vergleichsweise hastig daherkommen, fast sogar ein bisschen lapidar. Aber das wäre Nörgelei auf sehr, sehr hohem Niveau, denn "Das Fremde Meer" ist ein rundum gelungener, unkonventioneller und empfehlenswerter Roman.