Zum Inhalt:
In Extremsituationen zeigt sich die Natur des Menschen unverhüllt; deshalb sind die Geschichten aus dem Krieg so aufschlussreich für das menschliche Verhalten. In den vier vorliegenden Geschichten geht es nicht nur um den Krieg, auch wenn er überall zwischen den Zeilen durchscheint. Es geht um Menschen am Rande des Abgrunds.
Zum Autor:
Aleksandar Tišma, geboren 1924 im ehemaligen Jugoslawien, gestorben 2003 in Novi Sad. Mitglied der jugoslawischen Befreiungsarmee, nach dem Krieg Journalist und Verlagslektor. Veröffentlichung teils autobiografischer Romane und Erzählungen, für die er international geehrt wurde.
Die Texte wurden von Barbara Antkowiak aus dem Serbischen übertragen.
Meine Meinung:
Gelesen habe ich die Taschenbuchausgabe von dtv, 4. Auflage Mai 2003. 142 ½ Seiten Text, beinhaltend vier Erzählungen unterschiedlicher Länge:
Schneck:
Schneck ist ein Mann der Anpassung, sei es an den Kopfschmerz seiner Eltern, sei es an die Identität eines anderen Menschen bei seiner Flucht vor den Nazis, sei es an die tödlich verlaufende Krankheit des verstorbenen Ehemannes seiner Geliebten. Das Gewahrwerden seines eigenen Selbst kann ihn zu seinem eigenen Leben zurückbringen.
Die Schule der Gottlosigkeit:
Ein treusorgender, strenger Vater, ein brutaler Folterer und Mörder, vereint in einer Person. Als eines seiner Opfer unter der Folter stirbt, ist er sich gewiss, dass sein todkrankes Kind auch sterben wird, denn, so sein schlichter Gedanke, für den Tod des einen muss er mit dem Tod des anderen bezahlen. Als das Kind überlebt, ist für ihn die Sache klar: Gott gibt es nicht.
Die schlimmste Nacht:
Ein Mann starrt auf den Wecker, seine Frau und seine Tochter schlafen. Wenn der Tag anbricht, werden sie aufbrechen in den Tod, deportiert in ein KZ. „Die Möglichkeit der Wahl“ (Seite 77) ist nur dann eine, wenn der Gedanke an das, was die Familie erwartet, nicht lähmt, weder einen Entschluss noch eine Reaktion.
Die Wohnung:
Vier Personen, zwei Zimmer, eine neue, größere Wohnung muss her. Sie gehört einer alten Frau, der der Familienvater sich zum Dank verpflichtet weiß, rettete ihr Engagement ihn doch vor dem Lager. Das schützt die alte Frau nicht davor, sich und ihre vielen Möbel und Bücher in der Winzigkeit eines Zimmers unterbringen zu müssen.
Tišma versteht mit wenigen Worten Szenerien aufzubauen, das, was nötig ist zum Verständnis der äußeren und inneren Handlung, trotz der Kargheit der Kulisse anschaulich zu bebildern. Er erzählt fast lapidar von Grenzsituationen, in denen sich seine Protagonisten wiederfinden, steigerte dadurch bei mir das Gefühl von Bedrücktheit, aber auch der Empathie.
Die erste Erzählung „Schneck“ war für mich die „leichteste“, die, die mich anfangs nur wenig berührte. Ein Trugschluss war es allerdings, sie abzutun als Einstieg in diesen Band; sie entfaltet ihre Wirkung nach und nach, und sie entfaltet sie tagtäglich aufs Neue, nicht zuletzt, wenn man sich fragt, was wohl so toll daran ist, andere Menschen nachzuahmen, seien es Sänger, Schauspieler oder was als nachahmenswert gilt.
Als ein Crescendo der besonderen Art habe ich „Die Schule der Gottlosigkeit“ empfunden. In der fast nüchternen, aber sehr intensiven Beschreibung des Mannes, seines Denkens, erst recht der Folter erwuchs für mich ein Schrecken, der Jorge Sempruns Wort, dass – sinngemäß – trotz aller Berichte „Wissender“ der Körper nicht wisse, was Folter sei, erst wenn er sie erlebe, könne er dieses Wissen haben, fast ad absurdum führte. Dass dieses Wissen allerdings nicht nur für den Gefolterten, sondern auch für den Folterer gilt, macht Tišma deutlich, der der exzessiven Gewalt des Folterers die vielleicht gar nicht einmal paradoxe sexuelle Entsprechung nicht nur nicht entgegenstellt, sondern sie in Einklang bringt.
„Die schlimmste Nacht“ bietet kein Aufatmen, keinen Ruhepol. Auch hier gebären die Worte Entsetzen, weil er das Denken des Familienvaters so nachvollziehbar, seine Lähmung so komplett darstellt. Was bleibt, wenn ein Mensch stirbt, von seinem Mühen und Bemühen, von seinem Lieben und Hassen, wie ist es möglich, dass nichts von ihm bleibt, dass alle Erinnerung erlischt, erst recht, wenn sein Leben anderen nichts gilt. Das Denken an und das Nachdenken über die Ausweglosigkeit des – hier gewaltsamen – Todes habe ich als ein von Tišma fast beklemmend gestaltetes Kammerspiel empfunden.
Die Erzählung „Die Wohnung“ hebt sich von der Drastik und Dramatik der beiden vorgenannten Erzählungen doch etwas ab, bietet einen Panoramablick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der Nachkriegszeit (vielleicht nicht nur in Serbien). Für mich war es die „bewegungsreichste“ Erzählung, die Protagonisten verlassen die Wohnung, besichtigen andere, machen Besuche etc. Der Schrecken ist im Detail auch hier zu finden, aber er kam mir nicht so nah. Er gehört und bleibt bei den Protagonisten, während im Gegensatz dazu ich besonders bei den beiden mittleren Erzählungen das Gefühl hatte, mitten in der Geschichte zu sein. Es mag sein, dass sich das Gefühl, für mich die schwächste der Erzählungen gelesen zu haben, aus der Tatsache erklärt, dass ich dieses Kämpfen und Schachern um passende Wohnungen nie erleben musste. Auf sie verzichten hätte ich aber dennoch nicht mögen.
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ASIN/ISBN: 3423121386 |