Wie taucht ein Autor aus seiner eigenen Geschichte wieder auf?

  • Als Leser kennt ihr das bestimmt, dass man völlig in eine Geschichte, in eine andere Zeit, in ein anderes Land eintaucht. Das ist ja doch ein Merkmal eines fesselnden Romans. Anschließend hängt einem die Geschichte noch einige Stunden, oder sogar Tage nach.


    Ich frage mich, wie es einem Autor geht, der Wochen und Monate an einem Roman arbeitet, sich in seine Gestalten vertieft und zum Leben erweckt. Irgendwie muss er ja auch aus seiner Geschichte und seinen Charakteren wieder auftauchen. Speziell bei Thrillern mit sehr viel Gewalt, in denen Psychopathen, Sadisten, etc. vorkommen, frage ich mich, wie man da als Erschaffer der Figuren wieder herauskommt und danach weiterlebt wie bisher.
    Fällt man in ein Loch? Oder gibt sich alles von allein?

  • ich hab mal ein paar Jahre Theater gespielt und da geht es einem genau so. Sind die vorstellungen vorbei, die Bühne abgebaut, fühlt man sich wei ein Fisch auf dem Trockenen.
    Man muss erst Mal realisieren, dass das richtige Leben woanders ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass es Autoren auch so geht.

  • Für mich als Autorin gilt jedes Mal, dass ich nur mit einem neuen Projekt einigermaßen rasch wieder "rauskomme" aus meinen Geschichten. Das wäre auch sonst zu schlimm - ich hänge an meinen Figuren, und sofern ich keine Fortsetzungsbücher schreibe, muss ich mich ja für immer von ihnen verabschieden.


    Aber nach dem Motto "Auch andere Mütter haben schöne Söhne" geht der Schmerz rascher vorbei, wenn um meinen Schreibtisch herum allmählich neue interessante Figuren aus dem Nebel auftauchen.

  • Das an-den-Personen-Hängen ist ja eher ein Mythos. Wir brauchen unsere Personen, um eine Geschichte zu erzählen, sie sind eher Mittel zum Zweck.


    Natürlich fühlen wir uns in sie herein, leben und leiden mit ihnen, aber das ist ein gefühlt kurzer, vorübergehender Prozess. Wenn ich mir Charaktere ausdenke, die zur Handlung oder zum Thema passen könnten und diese vorantreiben, wenn ich sie sehr langsam forme, ihnen ein Aussehen und für die Geschichte notwendige Eigenschaften gebe, wenn ich mich in sie hineinfühle und sie schließlich - ob gut oder böse - schlüssig handeln lasse, dann sind sie mir nahe. Dann sitzen sie auf meiner Schulter, Tag und Nacht. Alles, was sich mir im Alltag bietet, wird auf sie projiziert.


    So ist das in der monatelangen Vorbereitungsphase und vor allem in der ersten, zweiten, und dritten Schreibversion. Bei der vierten bis achten Version sieht man das Personal dann schon kritischer, klebt nicht mehr am Inhalt sondern mehr am Stil. Dann kommen die Agentur- und dann die Lektoratsdurchgänge, in denen man sich noch einmal in die Köpfe seiner Personen vertiefen muss, aber das tut dann manchmal schon weh, weil sie nun zusätzlich Sachen tun müssen oder nicht mehr tun dürfen, für die sie (nicht) geschaffen waren, die aber besser zum Fortgang der Geschichte passen.


    In diesem Moment abstrahiert man das Ganze schon sehr. Zum Schluss geht es nur noch akribisch darum, Fehler auszumerzen, Logikfehler, grammatikalische und Rechtschreibfehler. Während dieser letzten Phase muss man sein Herz vollkommen ausschalten, darf nur noch kühl-kritischer Kopf sein.


    Zwischen all diesen Schritten liegen jeweils viele Wochen, ja Monate, in denen man sich innerlich allmählich von der Dramaturgie verabschiedet.


    In der Regel heben in mir neue Geister ihre Köpfe, sobald ich beim gefühlt vorletzten Eigendurchgang bin, also bei Version sechs. Wenn ich das Manuskript aus der Hand gebe, habe ich in den Wochen, die zwischen den einzelnen Überarbeitungsgängen liegen, schon längst mit den Vorbereitungen der neuen Geschichte angefangen, die seit Wochen in mir brodelt und immer stärker danach ruft, herausgelassen, aufgeschrieben zu werden. Da ist kein großes Gefühl mehr für die "alten" Figuren da, die werden langsam zu Handwerksmaterial, denn alles in mir dürstet nach neuen Seelen. :grin


    Und sobald ich das Manuskript wegschicke, beginne ich mit dieser neuen Geschichte, auch, weil mich die Angst treibt, meine neue Geschichte sonst zu verlieren.


    Es ist dann wie das Rausgerissenwerden aus einem schönen Traum, wenn eines Tages das "alte" Manuskript zurückkommt und in Windeseile nach den Vorschlägen der Agenten oder Lektorinnen überarbeitet werden muss.


    So weit dies.


    Andererseits war es bei mir so, dass mich mein letztes Buch, mein Thriller "Im Dunkel der Schuld", so sehr mitgenommen hat, mich so viel Kraft gekostet hat, dass ich grundlegend ausgelaugt war. Ich habe noch versucht, mich zu einem neuen Thriller zu schleppen, ein tolles Thema, das schon lange gewartet hat, aufgeschrieben zu werden, aber im Augenblick habe ich einfach die Kraft nicht dazu. Nicht, weil mich meine alten Personen nicht loslassen, sondern weil das Thema mich gequält hat und ich wirklich ALLES gegeben habe, um es möglichst gut "herüberzubringen".


    Deshalb mache ich jetzt eine Schreibpause. Wie lange sie dauern wird, weiß ich nicht.

  • Zitat

    Original von made


    Mal ein dumme Frage: Hängt man als Autor auch an Figuren, die äußerst unsympathisch, ja sogar abstoßend sind?


    Die habe ich ja bereits ihrem wohlverdienten, möglicherweise auch blutigen Ende zugeführt :grin.


    Zudem hänge ich an ihnen nur insofern, als dass sie eben Teil meiner Geschichte sind, die ich loslassen muss (oder darf, je nach Sichtweise). Aber ich bin keine Thriller-Autorin, da ist das womöglich anders.

  • Normalerweise habe ich kein Problem, aus einer Geschichte wiederaufzutauchen. Während des Schreibprozesses freue ich mich auf jedes Wiedersehen mit den Charakteren und gehe mit ihnen zusammen durch dick und dünn. Wenn die Geschichte vorüber ist, ist sie vorüber. Das Abenteuer ist abgeschlossen und ich kann und möchte mich anderen Storys widmen. Irgendwelche "Nachwirkungen" gibt es in der Regel nicht.


    Natürlich vermisse ich den einen oder anderen Charakter aus meinen Romanen. Um nicht ganz ohne sie auskommen zu müssen, arbeite ich meistens mit einem kleinen Trick: ich gebe manchen der Personen Gastauftritte in anderen Geschichten. Bei meinen aktuellen zwei Romanen habe ich es lustigerweise umgedreht gemacht: In "Sherlock Holmes taucht ab" gibt es am Anfang des Buches nur eine kurze Szene mit Constable Charlie Grant. In meinem im Februar erscheinenden Steampunk-Roman "Der Flug der Archimedes" darf Charlie dann sogar eine der Hauptrollen spielen.


    Abgesehen davon lasse ich mir bei jedem meiner Romane ein Hintertürchen offen, sodass ich dazu eine Fortsetzung bzw. ein neues Abenteuer mit den Protagonisten schreiben könnte.


    Was die unsympathischen Charaktere betrifft: sie haben ja auch alle ihre Daseinsberechtigung. Allerdings freue ich mich durchaus, wenn einer von ihnen eins auf die Mütze bekommt.

  • Ich habe als Autorin vor kurzem einen Workshop für Theaterimprovisation besucht, und war erstaunt, wie leicht es mir gefallen ist, spontan in eine Figur zu schlüpfen, und diese auch für das Publikum stimmig und unterhaltend darzustellen. Das geht uns Autoren wohl etwas leichter von der Hand, da wir es gewohnt sind, Perspektiven zu wechseln. Und es hat riesigen Spaß gemacht und zugleich enorm die Sinne für die Emotionen einer tiefgehenden Figur geschärft.
    Ich denke, wichtig ist es immer bei sich zu bleiben. Also beim Schreiben wie beim Schauspielern zwar in die Figur zu schlüpfen, dennoch die eigene Persönlichkeit im Bewusstsein zu halten. Dann trennt man sich zwar schwer von guten wie bösen Figuren, aber es tut nicht weh, im Gegenteil freut es mich immer, wenn etwas zu Ende gebracht wird.


    lg, Sayyida

  • Zitat

    Original von Sayyida
    Also beim Schreibem wie beim Schauspielern zwar in die Figur zu schlüpfen, dennoch die eigene Persönlichkeit im Bewusstsein zu halten.


    Also man kann in eine Figur schlüpfen, auch in einen Bösewicht, ohne sich damit zu identifizieren?

  • Ich tauche nie völlig aus meinen Geschichten auf; sie werden Bestandteil meines Lebens. Manchmal frage ich mich, was Donald Kunze ("Radio Nights", 2003) wohl dazu sagen würde, wenn ich besonders gute oder schreckliche Radiosendungen höre. Manchmal wünsche ich, ich könnte Michael "Kuhle" Kuhlmann ("Geisterfahrer", 2008) fragen, wenn es um knifflige Lebensangelegenheiten geht, bei denen mir sonst niemand helfen kann.


    Unmittelbar nach dem Schreiben ist es wie die Rückkehr von einer schönen Urlaubsreise. Man denkt über die guten Erlebnisse nach, die Dinge, die man vergessen hat, physisch wie auch ... sich anzuschauen. Man vermisst die Leute, die man dort getroffen hat, freut sich aber, dass es überhaupt geschehen ist. Es ist eine sehr direkte Erfahrung, die nach und nach ihre Virtualität/Fiktionalität einbüßt. Der Unterschied zu tatsächlichen Erlebnissen ist zumindest bei mir nicht sehr groß.


    Aber man hat ja die Möglichkeit, jederzeit an diesen Ort zurückzukehren. Es ist nicht dasselbe wie beim ersten Mal, aber an die Gefühle von damals erinnere zumindest ich mich meistens sehr gut.

  • Zitat

    Original von made


    Also man kann in eine Figur schlüpfen, auch in einen Bösewicht, ohne sich damit zu identifizieren?


    Ja, genau das meine ich. Ein Schauspieler verlässt ja auch mit dem Umkleiden und Abschminken seine Figur. Sonst würde er wahnsinnig werden (na ja, einige werden es ja, wie wir wissen - die schaffen es wohl nicht).


    lG, Sayyida

  • Man muss nur aufpassen, dass die verschiedenen Figuren, die man irgendwann selbst erschaffen hat, nicht plötzlich ein Eigenleben bekommen und zur multiplen Persönlichkeitsstörung werden. Was mache ich nur, falls ich eines Tages aufwache und glaube, der Protagonist eines meiner Bücher zu sein? Davor habe ich ein wenig Angst, das gebe ich freimütig zu. Das wäre doch ein Thema für ein Buch, oder?

  • Zitat

    Also man kann in eine Figur schlüpfen, auch in einen Bösewicht, ohne sich damit zu identifizieren?


    Ich denke, ein Autor muss sich mit jeder Figur, die glaubwürdig rüberkommen soll, in gewisser Weise identifizieren können.

  • Zitat

    Original von beisswenger
    Man muss nur aufpassen, dass die verschiedenen Figuren, die man irgendwann selbst erschaffen hat, plötzlich ein Eigenleben bekommen und zur multiplen Persönlichkeitsstörung werden. Was mache ich nur, falls ich eines Tages aufwache und glaube, der Protagonist eines meiner Bücher zu sein? Davor habe ich ein wenig Angst, das gebe ich freimütig zu. Das wäre doch ein Thema für ein Buch, oder?



    Diese Angst plagt mich nicht, im Gegenteil, ich mag es in der fremden Geschichte zu wühlen in dem Bewusstsein, nur Beobachter zu sein. Ein Autor, der sich in seine "böse" Figur verwandelt, das wäre schon Stoff für ein Buch, aber gibt es das nicht schon?


    lG
    Sayyida

  • Zitat

    Original von beisswenger
    Man muss nur aufpassen, dass die verschiedenen Figuren, die man irgendwann selbst erschaffen hat, nicht plötzlich ein Eigenleben bekommen und zur multiplen Persönlichkeitsstörung werden. Was mache ich nur, falls ich eines Tages aufwache und glaube, der Protagonist eines meiner Bücher zu sein? Davor habe ich ein wenig Angst, das gebe ich freimütig zu. Das wäre doch ein Thema für ein Buch, oder?


    Im Ernst? :gruebel Ist das schon vorgekommen?