Viele Ortsnamen im Osten Deutschlands enden auf „-itz“, „-ow“ und andere Silben, die es westlich der Elbe kaum gibt und die nicht germanischen Ursprungs sind. Woher stammen diese Bezeichnungen? Mit der heutigen Brandenburger Geschichte begeben wir uns in eine Zeit, in der zwischen Elbe und Oder noch nicht deutsch gesprochen wurde. Das Havelland und das Gebiet weiter östlich bis zur Oder wurde von dem mächtigen Stamm der Heveller beherrscht. Über die slawischen Völker gibt es nur wenige Überlieferungen, da deren Kultur keine schriftlichen Zeugnisse kannte. Man lebte hauptsächlich von den Erzeugnissen der Natur. Es wurde verschiedenen Naturgottheiten gehuldigt, dabei spielte der mächtige Priesterstand die entscheidende Rolle. Auch Menschenopfer und verschiedene Formen des Orakels gehörten zu den üblichen Ritualen, die abgehalten wurden. Trotz der wenig fortgeschrittenen Kultur war dieser Slawenstamm gut organisiert und wehrhaft. Das Zentrum ihres Herrschaftsgebietes befand sich auf einer kaum einzunehmenden Festung, einer Insel in der Havel: Die Brandenburg, wo Anfang des 10. Jahrhunderts Fürst Waclaw herrschte.
Die Heveller hatten jenseits der Elbe mächtige Nachbarn. Das ostfränkische Reich unter deren König Heinrich war aus dem einstigen Reich Karls des Großen hervorgegangen. Dieses damals von dem germanischen Stamm der Sachsen beherrschte Teilreich gilt heute als Keimzelle der deutschen Nation. In Kultur und Kriegskunst waren die Sachsen den Slawen weit überlegen. Um die Grenzen des Reiches dauerhaft zu sichern, bemühte man die Praxis, in angrenzenden Gebieten eine „Mark“ zu errichten, das heißt ein Gebiet, das nicht zum Herrschaftsgebiet gehört, aber unter eigener Kontrolle steht und tributpflichtig ist. Aber Krieg führen war eine teure Angelegenheit und das Land, das nur aus Sand und Sumpf bestand, versprach, wirtschaftlich wenig ertragreich zu sein. Deshalb wurden die Ansprüche auf die Gebiete östlich der Elbe zunächst nur mündlich formuliert. Heinrichs Sohn Otto, der mit dem Beinamen „der Große“ als Kaiser später in die Weltgeschichte einging, gründet die Neumark und beanspruchte damit das Land, das eigentlich den Slawen gehörte.
Im Jahre 928 nutzen die Sachsen einen extrem kalten Winter aus und erobern die Brandenburg, begünstigt durch die zugefrorene Havel. Sie töten den Hevellerfürsten und plündern das Anwesen. Aber sie errichten keine eigene Herrschaft sondern stellen das Gebiet unter Tributpflicht. Zur Absicherung ihrer Forderung nehmen sie Geiseln: Einen Sohn und eine Tochter des getöteten slawischen Fürsten Waclaw. Das Land überlassen sie wieder sich selbst, abgesehen von verschiedenen grausamen Strafexpeditionen, mit denen die Slawen gefügig gemacht werden sollen und Tributforderungen eingetrieben werden.
Etwas mehr als zehn Jahre später herrscht Bogomir, der Enkel des getöteten Fürsten Waclaw auf der Brandenburg und im Havelland. Das heißt, eigentlich herrschen die Priester, denn er selbst ist kaum volljährig, er ist noch ein Kind gewesen, als sein Vater, Waclaws ältester Sohn Bolilut starb. Die Bedrohung durch die Sachsen ist beinahe vergessen, als eine seltsame Gesellschaft vor der Festung erscheint und Einlass begehrt. Bogomir ist anfangs erzürnt, dass man die offenbar aus Sachsen stammenden Fremden einlässt, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen. Der Anführer ist eine stattliche, respekteinflößende Gestalt, der - obwohl sächsisch gekleidet - erstaunlicherweise die Sprache der Heveller fließend und akzentfrei beherrscht. Aber Bogomirs Berater, unter denen sich auch Verwandte aus der Zeit vor dem sächsischen Überfall befinden, versichern ihm, dass es sich bei dem Fremden um keinen Geringeren als seinen leibhaftigen Onkel handelt. Tugomir sei damals von den Sachsen in Geiselhaft genommen und verschleppt worden. Der junge Fürst kann sich nur noch sehr dunkel an seinen Onkel erinnern, denn er selbst ist zu jener Zeit noch ein kleines Kind gewesen. Der Fremde wird überschwänglich begrüßt und man lauscht der Geschichte von seiner abenteuerlichen Flucht aus der sächsischen Geiselhaft. Bogomirs Misstrauen verschwindet vorübergehend, doch schlägt seine Haltung wieder in offene Ablehnung um, als Tugomir die Absicht verkündet, ab sofort die Regentschaft zu übernehmen.
Der Anspruch Tugomirs wird mit gespaltenem Echo aufgenommen. Einerseits ist er der legitime Erbe seines Bruders auf den Fürstentitel denn er steht in der Erbfolge vor dessen Sohn, seinem Neffen Bogomir. Auch erscheint er weitaus mehr als dieser geeignet, ein starker Herrscher zu sein. Auf der anderen Seite unterstützen Teile der Priesterschaft den minderjährigen Fürsten, weil dessen Schwäche ihre eigene Machtposition sichert und sie führen Bedenken ins Feld, dass Tugomir zu lange unter den Sachsen gelebt habe, als dass er den Interessen der Heveller wahrhaft dienen könne. Auch Bogomir ist fest entschlossen, sich die Macht nicht ohne Gegenwehr aus der Hand nehmen zu lassen. Doch bevor sich Widerstand gegen den Neuankömmling formieren kann, reißt dieser die Geschicke des Handelns an sich. Tugomir lädt nur kurze Zeit nach seinem Erscheinen und der Proklamation seiner Ansprüche zu einem großen Empfang ein, bei dem einvernehmlich über das weitere Schicksal des Landes entschieden werden soll.
Was genau an jenem Abend passiert ist, lässt sich heute nicht mehr genau rekonstruieren. Jedenfalls wird Bogomir im Ergebnis dieser „Versöhnungsfeier“ getötet und seine Anhänger entmachtet. Dieser blutige Machtwechsel scheint zunächst auch der Auftakt zu einem Zeitenwandel zu sein. Tugomir ist durch die Jahre seines Exils von den Vorzügen der sächsischen Kultur überzeugt. Er hat den christlichen Glauben angenommen und kaum, dass er die Macht innehat, strömen christliche Missionare ins Land, um die Heiden vom wahren Glauben zu überzeugen. König Otto gewinnt mit dem neuen Regenten einen starken Verbündeten. In Brandenburg wird ein Bischofssitz gegründet und es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die neue Ostmark fest in seinem Reich verankert ist. Dieser Wandel vollzieht sich vollkommen unblutig, auch wenn er ursächlich unter Zuhilfenahme von Verrat und Totschlag zustande gekommen ist.
Tugomirs Erben können die Macht nur noch über zwei weitere Generationen bewahren. Im Jahre 987 verbünden sich mehrere slawische Stämme unter Führung der Luititzen und verjagen die Christen und ihre Unterstützer. Das Gebiet ist wieder fest in slawischer Hand, die Christianisierung wird rückgängig gemacht. Ottos Nachfolgern gelingt es auch in der Folge nicht, diese Revolte zurückzuschlagen. Schließlich, nach vielen Jahren erfolglosen Kriegführens schließt man Frieden und geht sogar ein militärisches Bündnis gegen die Polen ein. Das Bistum Brandenburg existiert zwar weiter, fast 200 Jahre lang aber nur auf dem Papier, vertreten durch einen Titularbischof. Erst im zwölften Jahrhundert erobert der altmärkische Askanierfürst Albrecht die Neumark gewaltsam und beendet endgültig die slawische Dominanz. Was davon bleibt, sind die Namen von Fluren und Ortschaften, die noch entfernt daran erinnern, dass im Havelland einst eine andere Sprache gesprochen wurde.
Die Ereignisse um den Verrat des Tugomir und die Zeit des jungen Otto I. sind Gegenstand des 2013 im Lübbe-Verlag erschienen Romans „Das Haupt der Welt“ von Rebecca Gablé. Der Roman erschien auch als Hörbuch, gesprochen von Detlef Bierstedt.