Über das Buch:
Es ist Liebe auf den ersten Blick, als sich Ria und Edwin 1945 kennenlernen. Doch sie finden nicht zueinander. Jahre später treffen sie sich erneut – und versprechen sich, nie mehr auseinanderzugehen. 39 glückliche Jahre lang bleiben sie zusammen. Dann erkrankt Ria an Demenz. Sie fängt an, sich vor dem Mann, der sie liebt, zu fürchten. Und Edwin erkennt, dass er sich entscheiden muss.
Über die Autorin:
Nadine Ahr wurde 1982 geboren. Besuch der Evangelischen Journalistenschule in Berlin; heute arbeitet sie für die ZEIT. Unter anderem den Alexander-Rhomberg-Preis der Gesellschaft für deutsche Sprache erhielt sie für ihre Reportagen.
Meine Meinung:
Gebundenes Buch, insgesamt 189 Seiten, abschließend eine Danksagung.
Demenz – ein Wort, das Angst auslöst, das mit einem Tabu belegt zu sein scheint. „Fluch der Menschheit“, „Fluch des Alters“, wie immer man diese Krankheit bezeichnet, sie ist unheilbar, sie ist grausam, sie zerstört den Menschen, den wir so genau zu kennen glauben, wandelt ihn zu jemanden, der mit fortlaufender Dauer immer weniger, immer schemenhafter an den erinnert, der er war. Und wie genau meint man doch zu wissen, was mit diesen Menschen passiert, was zu geschehen hat mit ihnen, meint man, mitschweigen zu müssen, wenn denn überhaupt dieses Thema angerissen wird. Man bedauert sie, die es „trifft“, die Familie, die vor zunehmend kaum mehr lösbar erscheinenden Problemen steht.
Nadine Ahr schweigt nicht, sie berichtet über das, was ihre Großmutter, ihre Familie traf. Für die Offenheit, die sie an den Tag legt, braucht es, so glaube ich, Mut, denn sie schreibt nicht nur die Geschichte ihrer Großeltern, sondern berichtet auch von sich selbst, von dem, was die Krankheit alles veränderte.
Erzählt wird die Geschichte von Edwin und Ria, sie beginnt mit einer Trauerfeier. Der Aufbau, den die Autorin gewählt hat, habe ich als gelungen empfunden: Die Passagen, die allein Ria und Edwin gehören, sind durch Kursivdruck abgesetzt vom übrigen Text, erzählen kontinuierlich das Leben der beiden: Ihr Kennenlernen, ihre Trennung, ihr Wiederfinden, ihr Zusammenleben, das Versprechen, das zu halten menschliche Kräfte in bestimmten Situationen übersteigen kann. Man lernt zwei Menschen kennen, geht ihre Wege in Gedanken mit, freut sich mit ihnen, bedauert ihre kleinen Unstimmigkeiten, schaut ihnen dabei zu, wie sie älter werden.
Der übrige, überwiegende Text ist aus der Perspektive der Autorin geschrieben, berichtet in Ich-Form hauptsächlich vom Großvater und den zunehmenden Schwierigkeiten, einen – menschlichen, kommunikativen – Zugang zur Großmutter zu finden. Nadine Ahr zeigt den schweren und schwierigen Weg, mit Empathie und doch auch mit einer gewissen journalistischen Nüchternheit zeichnet sie die Gefühlslage, die Beweggründe und die Ängste auf, nicht nur des Großvaters, sondern auch ihrer eigenen und der anderer. Man erfährt einiges über den Verlauf der Demenz, wobei die Ausprägung, wie sie bei Ria auftritt, sicherlich nicht Allgemeingültigkeit hat. Demenz, so las ich anderenorts, hat so viele Ausdrucksformen wie die Zahl der Menschen, die an ihr erkranken. Das mag so sein oder nicht, die Situation ist wohl in beinahe jedem Fall dergestalt, dass sie die pflegenden Angehörigen an ihre psychische und physische Grenze bringt.
Nadine Ahr begnügt sich nicht damit, einfach die Umstände der Erkrankung, sozusagen die Fakten aufzulisten, sie stellt Fragen, sich ihrer Umgebung, Freunden, ihrem Lebenspartner. Was würdest du tun, wenn …? Was bleibt von einem Menschen, wenn seine geistigen Fähigkeiten immer mehr verloren gehen, besonders seine Erinnerungen, was ist er dann noch? Wenn sich Überzeugungen in ihm manifestieren, die er in gesundem Zustand nie gelassen hätte, wenn er diese Überzeugungen kundtut, damit den Partner in einer Weise verletzt, die mir schlimmer erscheint als vieles, was man sich vorzustellen vermag? Wann darf man sich abwenden, wann darf, wann muss man gehen? Darf man das überhaupt? Frau Ahr macht es sich nicht leicht, sie entblößt ihre Gedanken vor dem Leser, lässt ihn teilhaben an dieser ganz persönlichen Geschichte, die doch in gewisser Weise auch die Geschichte vieler ist, ohne ihn zu überfordern, wälzt vor allem ethische und/oder moralische Bedenken und Einwände nicht auf andere. Sie macht klar, wer betroffen ist, muss seinen eigenen Weg gehen, ihn zu finden macht schon Schwierigkeit genug.
Naturgemäß kann ich nicht allen Gedanken folgen, die Nadine Ahr äußert, ich hatte hin und wieder meine Schwierigkeiten. Sie betreffen unter anderem die Gültigkeit eines Versprechens, vor allem aber die Wichtigkeit des „eigenen Selbst“ (Seite 115). Vielleicht ist das eine Generationsfrage, vielleicht eine Frage der Erziehung, vielleicht auch dessen, welche Prioritäten man selbst setzt, wenn man darin etwas anderer Meinung ist. Frau Ahrs Überlegungen passen aber sehr gut in unsere Zeit.
„Bedeutet jemanden zu lieben nicht auch, loslassen zu können?“ (Seite 188) – diese Frage ist wohl zu verführerisch, um sie nicht aufkommen zu lassen. Natürlich: Liebe schaut immer zuerst auf den anderen; eine Antwort auf die Frage muss letztlich jeder selbst finden. Und ob es nicht doch auch hilft, wenn man sich sagt, die Liebe ende ja nicht, weil man geht, wenn man sich einredet, professionelle Hilfe sei angebrachter, effektiver, hilfreicher? Ich weiß es nicht, was ich mir aber vorstellen kann - und in diesem Sinne verstehe ich auch Edwins Benehmen -: Das Gewissen lässt sich von einem solchen Satz schwer beruhigen. Es hat seine eigene Moral.
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