Weihnachten als besinnliches Familienfest unter dem Tannenbaum, mit Kindern im Blickpunkt, verbreitete sich im zaristischen Rußland erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts. Bis zum Ende des Jahrhunderts aber hatte sich diese Sitte vor allem im Bürgertum durchgesetzt und so wurden in den 1890ern gezielt Autoren angesprochen, Weihnachtsgeschichten für Zeitschriften zu schreiben. Alexander Kuprin (geb. 1870) hatte sich nach dem Ende seines Militärdienstes 1894 eben in Kiew als freier Journalist und Autor niedergelassen. 1897 entstand ‚seine‘ Weihnachtsgeschichte, die Geschichte vom Wunderdoktor.
Zwei kleine Jungen ziehen durch das weihnachtliche Kiew. Die bunten Schaufenster haben es ihnen angetan. Was sie darin alles entdecken, werden sie aber nie haben können, sie gehören zur sehr armen Bevölkerung der Stadt. Tatsächlich sind sie nicht unterwegs, um spazierenzugehen, im Gegenteil sollten sie einen Brief abgeben. Es ist ein Bittbrief, einer von vielen. Ihr Vater hat vor vielen seine Stelle als Hausverwalter verloren, die Familie lebt inzwischen in armseligsten Verhältnisse, die kleine Schwester ist schwer krank. Wie zuvor, wurden die Jungen auch diesmal abgewiesen. Die kleine Familie scheint zum Untergang verdammt.
Als ihr Vater sich an diesem eisigen Abend ein letztes Mal aufmacht und eine Weile im Park ausruht, geschieht das Wunder. Er trifft den titelgebenden Arzt. Wie es sich für eine Weihnachtsgeschichte gehört, geht von hier aus alles den gewohnten Gang.
Der Handlungsverlauf ist sentimental. Die Geschichte ist im Kern hochgradig albern und paternalistisch. Was sie trägt, ist die Ehrlichkeit, mit der der Autor schreibt. Er formuliert schlicht, immer dicht an seinen Figuren, das beschriebene Elend wirkt unmittelbar auf die LeserInnen. Lebensecht sind vor allem die Kinderfiguren, ihre Lebhaftigkeit, ihre Freude an den weihnachtlichen Schaufenstern, ihre Bedrückung, weil ihre Mission mißlungen ist. Kuprin hat bei aller Ehrerbietung vor dem Bürgertum einen Blick für das, was Armut ausmacht, für die schleichende Verzweiflung, die Menschen erfaßt, wenn sie immer weiter absteigen.
Mit der Figur des ‚Wunderdoktors‘ beruft sich Kuprin auf einen Arzt, den es in Kiew tatsächlich gegeben hat und der sich für Armenfürsorge einsetzte. Das tut er nicht, um seiner Geschichte besondere Realitätsnähe zu geben. Er nützt es für die ‚Moral von der Geschicht’‘, sein Schlußsatz hat nämlich einen bösen Widerhaken.
Die Erzählung erschien in der Reihe ‚Russische Klassiker für Kinder‘ 2011 bei IDMI/Mescheryakov. Übersetzt wurde sie von Claudia Zecher, die einen schön lesbaren Text vorlegt. Die Illustrationen von Natalja Salijenko zeigen eine düster-winterliche Stadt, weiß, grau, graubraun strichelig, eine bedrückende Armut, in der unvermutet warme gelbrote Lichter aufscheinen, nur um gleich wieder zu verlöschen. Ein bißchen bunter ist erst das Ende, das einen Blick auf die Zukunft der Kinder schenkt. Zum Anschauen wunderschön.
Den Einband ziert ein sehr pastellig-bunter Engel in einem Medaillon, dahinter das Muster, das der Verlag für diese kleine Reihe gewählt hat, hier rauchblaue Streifen, die sich mit sandbraunen abwechseln, auf denen wichtige kleine Gegenstände aus dieser Geschichte zu sehen sind.
Zeitgemäß ist diese Geschichte sicher nicht, für Kuprin als Autor durchaus schon charakteristisch, wenn auch viel zu versöhnlich, aber es war ja eine Auftragsarbeit. Kinder können durchaus ihren Spaß daran haben und ein Land entdecken, von dem man sonst eher wenig liest.