Verzeihen Sie bitte, könnten Sie wohl … ich beklage mich wirklich ungern, aber wären Sie so freundlich, ein bißchen Abstand zu halten? Ja, Sie meine ich, Sie mit der roten Nase …
Weg ist er. Vermutlich nicht daran gewöhnt, aus einer Krippe heraus angesprochen zu werden. Was man eigentlich auch nicht tun sollte, als geduldiges Jesuskind. Aber ich bitte Sie: einem echten Säugling würden Sie doch auch nicht mit Ihrem Glühwein-Atem direkt ins Gesicht schnaufen! Muß ich mir alles gefallen lassen, nur weil ich aus Holz geschnitzt bin?
Wenigstens Sie sind noch da. Kommt selten genug vor in diesem Job, daß man sich mal vernünftig unterhalten kann. Die Gespräche mit den Holzwürmern unterm Jahr sind intellektuell eher mäßig anregend, wenn Sie verstehen. Der Beruf bietet auch nicht die größten Herausforderungen: auf Stroh gebettet liegen, Hirten, Schafe, Kinder und besoffene Kirchgänger anlächeln, Heiligenschein nicht verlieren. Insofern sehe ich dem Beginn der Saison jedes Jahr mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits ist es eine Wohltat, die Sakristei und vor allem die Kiste mit dem Weihnachtskrempel verlassen zu dürfen. Selbst ohne Lungen atme ich auf, wenn ich endlich aus dem muffigen blauen Wolltuch ausgewickelt werde, in dem ich den Großteil des Jahres verbringe, bis wir beide unseren Einsatz haben: ich zwischen Ochs und Esel und der Stoff als Mantel der Maria im Krippenspiel der Ministranten.
Andererseits mache ich diesen Job seit nunmehr knapp dreihundert Jahren, und die Bilder gleichen sich zu sehr. Nicht auf lange Sicht, natürlich. Kein Gedanke mehr an das Brimborium, das man in früheren Jahrhunderten mit mir veranstaltet hat, an goldbestickte Samtkleider, die man mir angezogen, und Königskronen, die man mir aufgesetzt hat. Ist mir ganz recht so. Es sah doch immer etwas lächerlich aus, und ohne sonderlich viel von Theologie zu verstehen, möchte ich meinen, es lief der ursprünglichen Intention des Ereignisses zuwider.
Aber sonst?
Ach, man hat irgendwann einfach alles gesehen. Wer so lange in klerikalen Kreisen verkehrt wie ich, macht sich über die Heiligkeit von Mutter Amtskirche keine Illusionen mehr. Und die Gläubigen? Ich bitte Sie. Ich habe genügend Zeit während der Gottesdienste, mir die Gesichter einzuprägen, von denen mir während der Weihnachtszeit kaum eines ein zweites Mal begegnet. Während der Pausen unterhalte ich mich auch gerne mit den Kollegen vom Hochaltar, die mir von ihren Erlebnissen außerhalb der Adventszeit berichten. Ich wage daher zu behaupten, die wenigsten Besucher eines Weihnachtsgottesdienstes werden vor Ablauf eines Jahres noch einmal einen Fuß in eine Kirche setzen. Vorausgesetzt, niemand stirbt oder heiratet.
Wenn ich mal ganz unverschämt fragen darf: warum sind Sie denn hier? Dringender Gebetswunsch? Glaube an den Allmächtigen? Hoffnung auf Erlösung? - Nein. Humbug. Natürlich wegen der Kinder. Wie alle.
Verblüfft mich, muß ich zugeben. Warum mutet man den Kindern den ganzen verlogenen Quatsch eigentlich zu? Versperrte Türen, Wunschzettel, aus Holz geschnitzte Christkindlein? Weihnachten, da sind wir uns wohl einig, ist eine durch und durch kommerzialisierte Veranstaltung, deren Sinn, so er denn je bestand, längst verloren ging und sich heute – schauen Sie mich an! - aufs Aufstellen kitschiger Wohnungsdekoration beschränkt. Was ist der Kirchgang, außer Beschäftigungstherapie vor dem Öffnen der Geschenke, nachdem »Das letzte Einhorn« im Fernsehen geendet hat? - Wunder der Weihnacht? Wer wundert sich schon.
Aber die Kinder, nicht wahr? Den Kindern wollen wir dieses warme, wohlige Gefühl doch gönnen, von dem eine verklärte Erinnerung durch die untersten Katakomben unseres Seelenlebens geistert. Die Kinder sollen mit großen Augen vor dem Glänzen und Glitzern stehen, das goldene Kerzenlicht bestaunen und dem Chor von »Stille Nacht, heilige Nacht« lauschen. Und wie sehr enttäuscht es uns, wenn sie unterm Weihnachtsbaum das erste Geschenkpapier zerfetzt haben und sich beschweren, weil das Christkind zu dämlich war, die gewünschte Playstation zu liefern.
Ich habe nur einen Holzkopf, mit dem denkt es sich wirklich nicht leicht. Aber nun erlebe ich seit dreihundert Jahren mit, wie jede Generation das Weihnachtswunder immer der nächsten vorzugaukeln versucht. Da könnte man schon ins Grübeln kommen. Sonst sind alle immer so egoistisch ...
Nanu, habe ich Ihnen jetzt etwa eine Weihnachtspredigt gehalten? Entschuldigen Sie bitte, das muß der viele Weihrauch ein, den man im Laufe der Zeit so einatmet. Soll nicht wieder vorkommen. Wir sehen uns vermutlich nächstes Jahr, nehme ich an? Dachte ich mir schon.