1. Dezember 2013 von Kirsten S.
Wundersame Adventszeit
Ich hetzte über den Wochenmarkt. Morgen war der erste Dezember und auch der erste Advent, und ich hatte meinen Kindern heiße Maroni versprochen. Da ich zuvor den wöchentlichen Großeinkauf hinter mich gebracht, und im Supermarkt keine gefunden hatte, war ich ziemlich spät dran. Es nieselte und die ersten Marktstände wurden bereits abgebaut. Meine Stimmung sank gegen Null. Würde ich meine Kinder enttäuschen müssen? Doch dann erspähte ich, zwischen zwei großen Buden versteckt, einen kleinen Stand. Eigentlich war es nur ein Tisch, ein großer Schirm und darunter eine kleine, alte Frau. Und dort, auf dem Tischchen, lagen noch genau zwei Beutel mit Esskastanien.
„Habe ich ein Glück“, sagte ich atemlos.
„Sicherlich“, antwortete die Alte und blinzelte mich aus ihrem faltigen Gesicht mit freundlichen Augen an. „Diese Kastanien haben nur auf Sie gewartet.“
Ich bedankte mich erleichtert, drückte ihr den geforderten Preis in die Hand und drehte mich um.
„Nicht so schnell, junge Frau.“
Was hatte sie denn jetzt noch?
„Heutzutage haben es alle so eilig … . Sie sind meine letzte Kundin und ich habe hier noch ein kleines Geschenk für Sie.“
„Äh, danke.“ Ich nahm das verpackte Präsent verwundert entgegen.
„Ich wünsche Ihnen eine wunderschöne Adventszeit“, sagte sie und legte eine Hand auf meine. Ein seltsames Wärmegefühl ging von ihr aus.
„Da ... danke, Ihnen auch“, stotterte ich unsicher und flüchtete beinahe.
Meine zwölfjährigen Zwillinge warteten bereits auf mich, und auch mein Mann würde demnächst von der Arbeit nach Hause kommen. Mit einem eigenartigen Gefühl im Bauch legte ich die Esskastanien und das kleine Geschenk zur Seite. Zum Auspacken hatte ich jetzt keine Zeit, da ich schnell kochen musste, und später dachte ich nicht mehr daran.
Am ersten Dezember weckte mich ein leises Geräusch auf. Doch als ich verschlafen lauschte, hörte ich nichts, außer den Atemgeräuschen meines Mannes. In unserem kleinen Häuschen war alles völlig ruhig. Ich stand auf und machte mir Kaffee. Die warme Tasse in den Händen haltend, genoss ich die frühen Sonntagmorgenstunden. Allein. Die Ruhe vor dem alltäglichen Sturm.
Das Geschenk der Alten kam in mein Blickfeld. Neugierig packte ich es aus. Es war ein kleiner Aufstellkalender. Adventskalender stand mit goldenen Buchstaben darauf. Wohlige Wärme und gleichzeitig eine freudige Enge schossen durch meine Brust, hatte ich doch schon ewig keinen eigenen Adventskalender mehr bekommen. Ich blätterte die erste Seite um: ›Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum‹ stand da in großen Lettern.
Na toll, dachte ich enttäuscht. Dieser blöde Spruch war mittlerweile auf jeder zweiten Geschenke-Tasse zu lesen. Hoffentlich standen nicht nur solche komischen Sprüche in dem Kalender. Ich nahm ihn in die Hand um ihn durchzublättern. Doch aus irgendeinem Grund gelang mir das nicht. Die Blätter schienen wie zugeklebt.
Dann eben nicht!, dachte ich und knallte ihn auf die Fensterbank.
Als ich am nächsten Morgen in die Küche kam, musste bereits jemand das nächste Kalenderblatt umgedreht haben. Wie auch immer derjenige das geschafft hatte. ›2. Dezember‹ stand dort, und darunter wieder derselbe Spruch wie am Vortag. Ich stutzte und versuchte vergeblich, das Blatt des 3. Dezember zu erblättern.
So ging das die ganze Woche weiter. Am Samstag reichte es mir. Ich nahm das seltsame Ding und warf es frustriert in die grüne Tonne. Doch dann kam der zweite Advent, und wieder weckte mich ein zartes Geräusch. In der Küche schnappte ich erst mal nach Luft. Denn dort, auf dem Fenstersims, stand dieser Kalender. Ich stand stocksteif, mir wurde heiß und kalt zugleich, und ich konnte nur auf das Blatt des 2. Advent starren.
›Träume und lebe‹, las ich. Toll! Träume und funktioniere passte eher zu meinem Leben. Wer, verflixt und zugenäht, hatte ihn wieder aus der Tonne geholt? Ich fragte meinen Mann, dann die Zwillinge. Niemand gab es zu. Doch von allein war er mit Sicherheit nicht dort heraus geflogen!
Das Spiel wiederholte sich noch zwei Mal und mir wurde immer mulmiger zumute, sodass ich den Kalender nicht einmal mehr berührte. Doch jeden Tag starrte mich das aktuelle Datum mit glitzernden Buchstaben an. Was war hier los? Ich getraute mich nicht, mit irgendjemandem darüber zu reden. Die würden mich doch alle für verrückt erklären.
›Hör auf, nur zu träumen‹ , las ich ab dem 3. Advent und am 4. Adventssonntag stand da: ›Lebe endlich deinen Traum‹. Der Kloß in meinem Hals wurde dicker und dicker. Immer wieder und wieder ertappte ich mich dabei, wie meine Augen zu dem sonderbaren Ding wanderten und die Botschaft lasen. Wer wusste etwas von meinem Traum? Ob die Alte geahnt hatte, was es mit diesem Adventskalender auf sich hatte?
In der Nacht zum 24. Dezember schlief ich schrecklich unruhig. Plötzlich erwachte ich. Das leise Geräusch war wieder zu hören, und diesmal meinte ich, dass es sich um ein zartes Glöckchen handelte. Mit einem Mal war ich hellwach. Ich sprang aus dem Bett und tappte, ohne Licht zu machen, in die Küche. Dort angekommen zog ich den Rollladen hoch. Die Nacht war eigenartig hell und ich erkannte, dass es frisch geschneit hatte. Silbernes Mondlicht, das durch wenige Wolken hindurchblinzelte, wurde von Schneekristallen reflektiert. Spontan öffnete ich das Fenster, um die kalte Schneeluft einzuatmen. In diesem Moment hörte ich erneut das leise Bimmeln von Glöckchen. Ohne zu überlegen zog ich eine Hose und eine Strickjacke über meinen Schlafanzug, schlüpfte in die Winterstiefel und den dicken Mantel, und griff nach Schal, Mütze und Handschuhen. Und schon stand ich vor unserem kleinen Häuschen im Schnee. Noch immer hörte ich das helle Gebimmel und ging ihm einfach nach. Es war gerade so, als würde es mich rufen. Wenig später hatte ich unser Dorf hinter mir gelassen und stapfte durch die dünne Schneedecke, zwischen blattlosen Reben hindurch, bergauf. Das lauter werdende Geklingel zeigte mir, dass ich den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Der Berg hinter unserem Schwarzwalddorf verlangte mir normalerweise einiges an Kondition ab, doch heute Nacht fühlte ich mich beinahe schwerelos. Schließlich kam ich oben am Waldrand an und drehte mich um. Zu meinen Füßen erstreckte sich das dunkle Tal, ganz unten erahnte ich mein Dorf. Das Glöckchengebimmel wurde lauter, doch ich konnte keine Richtung mehr ausmachen. Es schien rings um mich herum zu sein. Ich blickte auf die gegenüberliegenden Berge, hinter denen es langsam heller wurde. Und dann blitzte die rotorangene Morgensonne über den Bergkamm und Stille kehrte ein. Vollkommene Stille. Fasziniert beobachtete ich, wie die Scheibe ihren Weg nach oben nahm und die Röte sich ausbreitete, als würde der Himmel brennen. Das hatte ich schon immer sehen wollen. Vollkommene Ruhe, Wärme und Zufriedenheit füllten mich aus. Ich rührte mich nicht, und beobachtete das Naturschauspiel, bis die Sonne ihre Farbe langsam von rot-orange zu orange und dann zu gelb wechselte. Ich hörte noch einmal ein Glöckchen und dann, kurz bevor es in der Stille verschwand, ein leises Lachen, wie das Kichern eines übermütigen Kindes.
Glücklich wie schon lange nicht mehr, ging ich bergab und öffnete die Tür unseres Häuschens. Eine Duftmischung aus Kerzen, Orangen, Zimt und frischen Brötchen empfing mich. Meine Familie saß am gedeckten Frühstückstisch. Alle strahlten mich erwartungsvoll an. Mitten auf dem Tisch stand der Adventskalender. Das letzte Blatt war umgedreht und mit goldenen Buchstaben auf schwarzem Hintergrund las ich: ›Fröhliche Weihnachten wünscht das Christkind, das sich gerade mit eurer Mama trifft.‹