Der Büchereulen-Adventskalender 2013

  • 1. Dezember 2013 von Kirsten S.



    Wundersame Adventszeit



    Ich hetzte über den Wochenmarkt. Morgen war der erste Dezember und auch der erste Advent, und ich hatte meinen Kindern heiße Maroni versprochen. Da ich zuvor den wöchentlichen Großeinkauf hinter mich gebracht, und im Supermarkt keine gefunden hatte, war ich ziemlich spät dran. Es nieselte und die ersten Marktstände wurden bereits abgebaut. Meine Stimmung sank gegen Null. Würde ich meine Kinder enttäuschen müssen? Doch dann erspähte ich, zwischen zwei großen Buden versteckt, einen kleinen Stand. Eigentlich war es nur ein Tisch, ein großer Schirm und darunter eine kleine, alte Frau. Und dort, auf dem Tischchen, lagen noch genau zwei Beutel mit Esskastanien.
    „Habe ich ein Glück“, sagte ich atemlos.
    „Sicherlich“, antwortete die Alte und blinzelte mich aus ihrem faltigen Gesicht mit freundlichen Augen an. „Diese Kastanien haben nur auf Sie gewartet.“
    Ich bedankte mich erleichtert, drückte ihr den geforderten Preis in die Hand und drehte mich um.
    „Nicht so schnell, junge Frau.“
    Was hatte sie denn jetzt noch?
    „Heutzutage haben es alle so eilig … . Sie sind meine letzte Kundin und ich habe hier noch ein kleines Geschenk für Sie.“
    „Äh, danke.“ Ich nahm das verpackte Präsent verwundert entgegen.
    „Ich wünsche Ihnen eine wunderschöne Adventszeit“, sagte sie und legte eine Hand auf meine. Ein seltsames Wärmegefühl ging von ihr aus.
    „Da ... danke, Ihnen auch“, stotterte ich unsicher und flüchtete beinahe.


    Meine zwölfjährigen Zwillinge warteten bereits auf mich, und auch mein Mann würde demnächst von der Arbeit nach Hause kommen. Mit einem eigenartigen Gefühl im Bauch legte ich die Esskastanien und das kleine Geschenk zur Seite. Zum Auspacken hatte ich jetzt keine Zeit, da ich schnell kochen musste, und später dachte ich nicht mehr daran.


    Am ersten Dezember weckte mich ein leises Geräusch auf. Doch als ich verschlafen lauschte, hörte ich nichts, außer den Atemgeräuschen meines Mannes. In unserem kleinen Häuschen war alles völlig ruhig. Ich stand auf und machte mir Kaffee. Die warme Tasse in den Händen haltend, genoss ich die frühen Sonntagmorgenstunden. Allein. Die Ruhe vor dem alltäglichen Sturm.
    Das Geschenk der Alten kam in mein Blickfeld. Neugierig packte ich es aus. Es war ein kleiner Aufstellkalender. Adventskalender stand mit goldenen Buchstaben darauf. Wohlige Wärme und gleichzeitig eine freudige Enge schossen durch meine Brust, hatte ich doch schon ewig keinen eigenen Adventskalender mehr bekommen. Ich blätterte die erste Seite um: ›Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum‹ stand da in großen Lettern.
    Na toll, dachte ich enttäuscht. Dieser blöde Spruch war mittlerweile auf jeder zweiten Geschenke-Tasse zu lesen. Hoffentlich standen nicht nur solche komischen Sprüche in dem Kalender. Ich nahm ihn in die Hand um ihn durchzublättern. Doch aus irgendeinem Grund gelang mir das nicht. Die Blätter schienen wie zugeklebt.
    Dann eben nicht!, dachte ich und knallte ihn auf die Fensterbank.


    Als ich am nächsten Morgen in die Küche kam, musste bereits jemand das nächste Kalenderblatt umgedreht haben. Wie auch immer derjenige das geschafft hatte. ›2. Dezember‹ stand dort, und darunter wieder derselbe Spruch wie am Vortag. Ich stutzte und versuchte vergeblich, das Blatt des 3. Dezember zu erblättern.
    So ging das die ganze Woche weiter. Am Samstag reichte es mir. Ich nahm das seltsame Ding und warf es frustriert in die grüne Tonne. Doch dann kam der zweite Advent, und wieder weckte mich ein zartes Geräusch. In der Küche schnappte ich erst mal nach Luft. Denn dort, auf dem Fenstersims, stand dieser Kalender. Ich stand stocksteif, mir wurde heiß und kalt zugleich, und ich konnte nur auf das Blatt des 2. Advent starren.
    ›Träume und lebe‹, las ich. Toll! Träume und funktioniere passte eher zu meinem Leben. Wer, verflixt und zugenäht, hatte ihn wieder aus der Tonne geholt? Ich fragte meinen Mann, dann die Zwillinge. Niemand gab es zu. Doch von allein war er mit Sicherheit nicht dort heraus geflogen!


    Das Spiel wiederholte sich noch zwei Mal und mir wurde immer mulmiger zumute, sodass ich den Kalender nicht einmal mehr berührte. Doch jeden Tag starrte mich das aktuelle Datum mit glitzernden Buchstaben an. Was war hier los? Ich getraute mich nicht, mit irgendjemandem darüber zu reden. Die würden mich doch alle für verrückt erklären.


    ›Hör auf, nur zu träumen‹ , las ich ab dem 3. Advent und am 4. Adventssonntag stand da: ›Lebe endlich deinen Traum‹. Der Kloß in meinem Hals wurde dicker und dicker. Immer wieder und wieder ertappte ich mich dabei, wie meine Augen zu dem sonderbaren Ding wanderten und die Botschaft lasen. Wer wusste etwas von meinem Traum? Ob die Alte geahnt hatte, was es mit diesem Adventskalender auf sich hatte?


    In der Nacht zum 24. Dezember schlief ich schrecklich unruhig. Plötzlich erwachte ich. Das leise Geräusch war wieder zu hören, und diesmal meinte ich, dass es sich um ein zartes Glöckchen handelte. Mit einem Mal war ich hellwach. Ich sprang aus dem Bett und tappte, ohne Licht zu machen, in die Küche. Dort angekommen zog ich den Rollladen hoch. Die Nacht war eigenartig hell und ich erkannte, dass es frisch geschneit hatte. Silbernes Mondlicht, das durch wenige Wolken hindurchblinzelte, wurde von Schneekristallen reflektiert. Spontan öffnete ich das Fenster, um die kalte Schneeluft einzuatmen. In diesem Moment hörte ich erneut das leise Bimmeln von Glöckchen. Ohne zu überlegen zog ich eine Hose und eine Strickjacke über meinen Schlafanzug, schlüpfte in die Winterstiefel und den dicken Mantel, und griff nach Schal, Mütze und Handschuhen. Und schon stand ich vor unserem kleinen Häuschen im Schnee. Noch immer hörte ich das helle Gebimmel und ging ihm einfach nach. Es war gerade so, als würde es mich rufen. Wenig später hatte ich unser Dorf hinter mir gelassen und stapfte durch die dünne Schneedecke, zwischen blattlosen Reben hindurch, bergauf. Das lauter werdende Geklingel zeigte mir, dass ich den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Der Berg hinter unserem Schwarzwalddorf verlangte mir normalerweise einiges an Kondition ab, doch heute Nacht fühlte ich mich beinahe schwerelos. Schließlich kam ich oben am Waldrand an und drehte mich um. Zu meinen Füßen erstreckte sich das dunkle Tal, ganz unten erahnte ich mein Dorf. Das Glöckchengebimmel wurde lauter, doch ich konnte keine Richtung mehr ausmachen. Es schien rings um mich herum zu sein. Ich blickte auf die gegenüberliegenden Berge, hinter denen es langsam heller wurde. Und dann blitzte die rotorangene Morgensonne über den Bergkamm und Stille kehrte ein. Vollkommene Stille. Fasziniert beobachtete ich, wie die Scheibe ihren Weg nach oben nahm und die Röte sich ausbreitete, als würde der Himmel brennen. Das hatte ich schon immer sehen wollen. Vollkommene Ruhe, Wärme und Zufriedenheit füllten mich aus. Ich rührte mich nicht, und beobachtete das Naturschauspiel, bis die Sonne ihre Farbe langsam von rot-orange zu orange und dann zu gelb wechselte. Ich hörte noch einmal ein Glöckchen und dann, kurz bevor es in der Stille verschwand, ein leises Lachen, wie das Kichern eines übermütigen Kindes.


    Glücklich wie schon lange nicht mehr, ging ich bergab und öffnete die Tür unseres Häuschens. Eine Duftmischung aus Kerzen, Orangen, Zimt und frischen Brötchen empfing mich. Meine Familie saß am gedeckten Frühstückstisch. Alle strahlten mich erwartungsvoll an. Mitten auf dem Tisch stand der Adventskalender. Das letzte Blatt war umgedreht und mit goldenen Buchstaben auf schwarzem Hintergrund las ich: ›Fröhliche Weihnachten wünscht das Christkind, das sich gerade mit eurer Mama trifft.‹

  • 2. Dezember 2013 von Dori



    Wo ich hingehöre


    Hi, ich bin Sophie. Im Moment ist es ein Uhr nachts, morgen ist Heiligabend und ich kann nicht einschlafen, meine Gedanken wandern.
    Eigentlich wäre ich perfekt geeignet für jede Weihnachtsgeschichte. Denn ich lebe in einem Kinderheim. Nein, das heißt ja jetzt "Familienhaus". Ich wohne hier mit sieben weiteren Kindern und dem Hausvorsteher, doch vor anderen nenne ich sie immer "meine Geschwister" und "mein Vater". Das ist einfacher, als immer und immer wieder meine Situation erklären zu müssen.
    Ich weiß nicht einmal, warum ich eigentlich hier bin. Ich war wohl noch zu klein, als ich hier angekommen bin.
    Es ist nicht so, dass es mir hier nicht gut geht. Das Heim hat pro Jahr 50€ für Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke für mich zur Verfügung, das ist schon okay. Klamotten leihe ich mir von meinen Geschwistern. Wir haben fast die gleiche Größe und oft bekomme ich sogar Komplimente für meinen Kleidungsstil. Außerdem betonen meine Lehrer immer wieder, wie positiv es sich auf mein Verhalten auswirkt, dass ich immer auf meine jüngeren Geschwister aufpassen muss.


    Und trotzdem fehlt etwas. Ich wünsche mir jedes Jahr zu Weihnachten, dass mich jemand aufnimmt. Aber wer will schon eine 15-jährige pubertierende Göre wie mich haben.
    Weihnachten mit einer richtigen Familie, das wäre was. Eine liebevolle Mum, die das Essen kocht, mich mit zum Weihnachtsshopping nimmt, mit der ich Zeit verbringen kann; ein richtiger Vater, der einen schönen großen Weihnachtsbaum aufbaut und ihn dann mit mir schmückt... Einfach ein paar Eltern, die mich gern haben und für die ich etwas bedeute. Vielleicht ein paar süße Großeltern dazu, das wär toll. Ich weiß gar nicht, wie sich das anfühlt.
    Ich weiß es nicht.
    Vielleicht ist aber auch gerade das das Problem.
    Ich weiß überhaupt nicht, was noch alles zu so einer Familie dazugehört. Bei meinen Freundinnen bekomme ich einiges mit, was ihre Familie angeht: Verbote, Streits, Erfolgsdruck, Geschwisterkonkurrenz... Bei manchen sind die Eltern auch schon geschieden. Sie verbringen so viel Zeit vor Gericht wegen Sorgerechtskonflikten, dass ihnen das Kind dahinter schon fast egal zu sein scheint. Andere Freundinnen von mir wurden fast von ihren Eltern hinausgeworfen, nur weil sie ihnen eröffnet haben, dass sie kein Abitur machen wollen.
    So cool ist das bestimmt nicht.


    Ein Geräusch hinter mir erregt meine Aufmerksamkeit. Meine kleine Schwester, mit der ich mir das Zimmer teile, seufzt und wimmert im Schlaf. Wahrscheinlich wieder ein Albtraum.
    Ich schleiche mich hinüber, lege mich zu ihr ins Bett und drücke sie fest an mich. Sofort wird sie ruhiger.
    Naja, eigentlich fühle ich mich hier doch ganz wohl.

  • 3. Dezember 2013 von Alex Berg



    Weihnachtsgänse


    Gänsebraten ist ein klassisches Weihnachtsessen. Auch in unserer Familie. Dazu Rotkohl, Knödel, eine geschmeidige Sauce. Da läuft einem in der Vorfreude auf die kulinarischen Genüsse des Festes doch gleich das Wasser im Mund zusammen. Aber wie ist das eigentlich mit den Gänsen? Wo kommen die her, wie werden sie aufgezogen – sind sie politisch korrekt in einer Zeit, wo das Schwein aus Dänemark eher in den Sondermüll als auf den Teller gehört, und die Pute aus Niedersachsen auch dazu dienen könnte, die Mittelohrentzündung zu
    heilen angesichts ihres Gehaltes an Antibiotika.


    Wir leben auf dem Land. Ein alter Bauernhof, ein paar Hektar Weide – warum nicht einfach selbst den Festtagsbraten großziehen? Wie ihr euch sicher vorstellen könnt, erfordert ein solches Vorhaben eine langfristige Planung. So ein Gänseküken braucht Zeit zum Wachsen, muss groß und üppig werden, damit die Familie an Heiligabend auch satt wird. Und damit es nicht so allein ist, kommt das kleine gelbe Flauschbällchen gleich mit einem Geschwisterchen zu uns. Im Wonnemonat Mai, wenn wirklich noch niemand an Weihnachten denkt, außer vielleicht den Schokoladenherstellern und natürlich mir.


    Völlig klar, dass die beiden kleinen Gänse keinen Namen bekommen. Denn wer will schon Anna und Louis essen. Ja, sehr richtig. Es stellte sich bald heraus, dass wir eine Gans und einen Ganter bekommen hatten. Aber wie das so ist, wenn man Kinder hat, meine beiden großen Söhne waren damals etwa drei und sieben Jahre alt, der jüngste ist diesem Trauma entgangen, weil noch nicht geboren, geht es dann doch nicht ganz ohne. Einen schönen Sommer lang konnten wir beobachten, wie unsere „Quakies“ wuchsen und gediehen. Stolze weiße Bilderbuchgänse wurden aus ihnen, mit leuchtend gelben Schnäbeln, die bilderbuchmäßig aufpassten, wenn Fremde auf den Hofplatz kamen, und die auch gern mal die Jungs in die Waden zwickten, wenn sich Gelegenheit bot. Sie waren eigensinnig und bisweilen unleidig. Kuschelgänse waren es sicher nicht. Nichts desto trotz muss sich zwischen meinen Söhnen und unserem Weihnachtsbraten eine Nähe entwickelt haben, die meinem mütterlichen Blick verborgen blieb. Ähnlich wie Buschs Witwe Bolte sah ich die beiden Tiere vor meinem geistigen Auge natürlich längst ohne Kopf und Gurgel in der Pfanne schmurgeln, und wetzte mental bereits das Messer, wenn ich sie auf ihrer kleinen Gänseweide eifrig frisches grünes Gras zupfen sah. Echte Bio-Gänse.


    Als die Tage kürzer wurden, die Luft kälter, und das große Fest unweigerlich näher rückte, traten jedoch eines Tages meine beiden Söhne mit sehr ernstem Gesicht vor mich. „Wir müssen mit dir reden.“ Ich befürchtete Schlimmstes. Mein Ältester räusperte sich. „Mama“, begann er dann, „wenn du … wenn du die Quakies schlachtest, dann …“, und hier begann seine Stimme doch in wenig zu zittern, „dann feiern wir kein Weihnachten mit dir.“ Sein kleiner Bruder nickte vehement – mit Tränen in den Augen. Kein Weihnachten. Keine Geschenke. Sie würden für das Leben der Quakies darauf verzichten. Ich dachte an Pan Tau's Weihnachtskarpfen, an das Schweinchen Babe, an die Kanzlergans und die vom amerikanischen Präsidenten begnadigten Thanksgiving-Truthähne. Die Geschichte ist nicht neu. Sie passiert in den verschiedensten Variationen ständig auf dieser Welt, weshalb wir uns literarisch schließlich auch so gern mit ihr auseinandersetzen. Die Quakies sind sehr alt geworden. Und zu jenem besagten Weihnachtsfest gab es, ich weiß nicht mehr was, aber auf jeden Fall irgendetwas Unverfängliches, jedenfalls kein Geflügel. Inzwischen sind meine Söhne übrigens aus dem kritischen Alter heraus, und ich gestehe, dass ich doch gern noch einmal den Versuch wagen würde. Es ist ja bald wieder Mai. In diesem Sinne – Frohes Fest!

  • 4. Dezember 2013 von Sonne79



    Adventzauber
    Oder der allgemeine Weihnachts-Wahnsinn


    Die erste Kerze
    Am Adventkranz brennt.
    Adventskalendertürchen
    Öffnen sich
    Tag für Tag
    Erfreuen Kinderherzen.
    Blühende Barbarazweige
    Am Barbara Tag.
    Nikolaustag.
    Gefüllte Plätzchen-Teller
    und Geschenke
    bringen Kinderaugen zum leuchten.


    Die zweite Kerze brennt.
    Auf dem Weihnachtsmarkt
    herrscht buntes Treiben.
    Glühwein und Lebkuchenduft
    vermischen sich in der
    kalten Winterluft.


    Die dritte Kerze brennt.
    Weihnachtslieder singen,
    Geschenke kaufen,
    letzte Plätzchen backen
    sorgen für Hektik und Stress
    in der stillen Zeit.
    Rasch noch Karten
    an die Lieben schreiben.


    Die vierte Kerze brennt.
    Der Baum ist besorgt,
    die Geschenke sind verpackt,
    allmählich kommt sie
    die geheimnisvolle Weihnachtsstimmung.
    Alle Jahre wieder
    Heilig Abend.
    Weihnachtsbaum schmücken.
    Warten aufs Christkind.
    Weihnachtsessen.
    Bescherung.
    Leuchtende Augen
    Bei Groß und Klein.
    Besuch der Christmette
    Stille Nacht, heilige Nacht.
    Gemütliches Zusammensitzen
    Am Weihnachtsbaum.
    Nun ist es da,
    dass Fest der Liebe.


    FROHE WEIHNACHTEN!

  • 5. Dezember 2013 von arter



    Nikolaus‘ Beichte


    Es hat so gut getan, mal alles rauszulassen. Ich danke euch, dass ihr im vorigen Jahr meiner peinlichen Jammerei so geduldig zugehört habt. Deshalb trete ich meinen nächtlichen Gang heute nicht an, ohne mich dafür zu bedanken und euch eine gesegnete Adventszeit zu wünschen.


    Tja, und heute ist wieder der Tag, an dem ich millionenfach Segen spenden muss, für diese Kinkerlitzchen, die man sich in meinem Namen gegenseitig in die Schuhe schiebt. Dabei würde ich doch viel lieber in meiner Hütte sitzen bleiben hier in Finnland am Polarkreis und mir einen heißen Glühwein gönnen. Ich bekomme jede Menge Fanpost aus der ganzen Welt und all diese Briefe wollen in den nächsten Tagen beantwortet sein. Ich habe ja noch ein bisschen Zeit, bis ich dann als Santa Claus oder Weihnachtsmann noch einmal in die Spur muss...


    Aber bevor ich heute den Segen spenden gehe, möchte ich Euch, ihr lieben Büchereulen, noch ein wenig um Eure Aufmerksamkeit bitten. Für mich als Heiligen gibt es ja Niemanden, dem ich meine Sünden beichten könnte, außer vielleicht Gott, dem Herren im Himmel selbst. Und Euch natürlich. Deshalb bitte Euch schon jetzt um Absolution, wenn ich mit meiner Beichte eure Zeit verschwende oder wenn sie Euer Bild von meiner Person als heiliger Wundertäter ein wenig ins Wanken bringt. Heute möchte ich eine Sache korrigieren, die mir schon lange angedichtet wird. Ich hoffe, Ihr bewahrt Stillschweigen, allzu viele aufrechte Christen sind dieser Fehldeutung schon anheimgefallen, es wäre nicht gut, ihren reinen Glauben aufgrund der Tatsache meiner Verfehlungen zu erschüttern.


    Wisst ihr eigentlich worauf sich der „Einlegebrauch" begründet? Also die Tatsache dass man sich an dem Tag, der meinem Namen gewidmet wurde, gegenseitig Geschenke zukommen lässt? Nun die Legende geht so: Kurz bevor ich Bischof in Myra wurde, kam ein alter Bekannter zu mir und nachdem wir so eine Weile über vergangene Zeiten geplaudert hatten, klagte er mir, dass er durch ein Unglück sein gesamtes Vermögen verloren habe. Nun, soweit ich mich erinnere, war es bei ihm nie so weit her gewesen mit „Vermögen", aber das tut nichts zur Sache. Er klagte mir jedenfalls sein Leid - so die Legende - dass er seine drei Töchter nicht mehr durchbringen könne, von einer Aussteuer, die ihnen ein sorgenfreies Leben garantieren könne, ganz zu schweigen. Deshalb sehe er keine andere Möglichkeit, als sie im ansässigen Bordell unterzubringen. Dort hätten sie zumindest ein Dach über den Kopf und eine warme Mahlzeit. Natürlich war der Heilige Nikolaus - so die Legende - erschüttert über diese Offenbarung. Glücklicherweise wäre er damals aber gerade in den Besitz einer unglaublich hohen Erbschaft gekommen und so habe er sich zu dem Hause des Mannes geschlichen und in drei aufeinanderfolgenden Nächten jeweils einen Goldklumpen beträchtlichen Ausmaßes durch das Fenster in einen der über dem Kamin zu Trocknen hängenden Strümpfe geworfen. So dass die drei Jungfrauen mit einem Schlag versorgt waren und sie nicht in die Prostitution gegeben werden mussten.


    So wurde es erzählt. Aber sagt mal selbst, wer glaubt eigentlich diesen Unsinn? Offenbar war die Geschichte aber nachhaltig genug, dass noch heute an meinem Namenstag mehr oder weniger wertvolle Gegenstände eingelegt werden. Nicht mehr nur in die Strümpfe, heute auch in Schuhe und Stiefel. Aber alle Legenden haben einen wahren Kern. Und ich möchte Euch heute in aller Offenheit berichten, wir es sich wirklich zugetragen hat.


    Es ereignete sich tatsächlich kurz vor meiner Bischofskür. Ich war nicht der einzige Kandidat, die Patriarchen von Myra hatten eher einen vom alten Schlage im Auge. Die Oberen unserer Stadt hatten sich entschlossen, die neue Religion zur moralischen Instanz zu erheben. Es gab glaubhafte Gerüchte, dass selbst der Kaiser sich ihr neuerdings zugewandt haben solle. Mit Christus hatte mein Konkurrent Kyriakos zwar nicht viel am Hut, aber er hatte erkannt, dass die neue Religion wichtige Ämter und guten Einfluss garantierte. Und da er zu den Alteingesessenen der Stadt gehörte, standen meine Chancen nicht sehr gut. Und das, obwohl ich die ganze Drecksarbeit geleistet hatte. Ich habe die Gemeinde aufgebaut, alles hineingesteckt was ich hatte, ich war sogar eingesperrt und gefoltert worden. In dieser Beziehung kann man mir nichts vorwerfen. Aber die Bischofswürde war doch einer wichtigeren Person vorbehalten. Trotz allem konnte ich meine Anhänger um mich scharen und so kam es zum Patt. Also bat man den Kaiser höchstpersönlich um eine Empfehlung. Myra war für Konstantin ein wichtiger Außenposten und so hatte er extra einen Gesandten aus Konstantinopel geschickt, der sich ein Bild von der Lage machen und ihn bei der Entscheidung beraten solle. Meine Gefährten hatten mich natürlich rechtzeitig über die Ankunft von Alexandros unterrichtet. Mein Nachrichtensystem funktionierte vorzüglich, so dass ich den Gesandten bereits am Hafen empfangen konnte, um seinen Aufenthalt in Myra so angenehm wie möglich zu gestalten. Vorsorglich hatte ich für den Besucher das beste Gästehaus der Stadt reservieren lassen. Kyriakos war in der Beziehung etwas träge und so ahnte ich, dass die Unterstützung aus Konstantinopel einen entscheidenden Faktor zu meinem Gunsten darstellen könnte. Als das Schiff landete, machte ich mich also sogleich mit einem kleinen Gefolge auf den Weg, um ihn in Empfang zu nehmen. Ich ließ mir diesen Spaß so einiges kosten, was nicht so leicht war, denn ich musste mir bei Benachem Geld leihen. Leider war die große Erbschaft, von der in den Legenden erzählt wird, wirklich nur eine Legende.


    Jedenfalls schien mein Plan voll aufzugehen. Ich empfing den Gesandten in großer Herzlichkeit und wir pflegten sogleich eine sehr vertrauliche Konversation. Nachdem ich ihn im Gästehaus abgeliefert hatte, verabredeten wir uns für den Nachmittag zu einem Rundgang auf dem großen Wochenmarkt. Das war eine perfekte Gelegenheit, sich dem Volke zu zeigen, Hände zu schütteln, Kontakte zu pflegen. Und das Ganze in Begleitung eines kaiserlichen Gesandten. Das würde gewiss Eindruck machen, wenn es um die Kür des neuen Bischofs ging. An einem Stand verkaufte ein lumpiger Bettler allerhand Wundermittel, einige sollten angeblich das Liebesleben befördern. Ich wollte Alexandros schnell weiterziehen, denn mir schien, dass es meinem Ruf nicht besonders gut zu Gesicht stünde, wenn ich hier länger verweilte, außerdem kam mir das Gesicht des Händlers bekannt vor und ich wäre ihm gern aus dem Wege gegangen. Aber Alexandros ließ sich haarklein erläutern, wie die Kräuter und Salben wirkten und wie sie anzuwenden seien.


    Plötzlich erkannte mich der Verkäufer. Ernesto, wieder mal. Zuletzt hatte ich ihn vor drei Jahren gesehen. Wir kannten uns seit der Kindheit. Aber unsere Laufbahnen waren höchst unterschiedliche Wege gegangen. Während ich mich in Gottes Dienste begab, versuchte er sich mit allerhand zwielichtigen Geschäften über Wasser zu halten. Immer hatte er die drei Töchter in seiner Begleitung, die offenbar alle um die neunzehn Jahre alt waren eigenartigerweise auch nicht älter wurden. Auch heute waren die Schönheiten bei ihm. Die drei waren an den Verkaufsaktivitäten beteiligt, indem sie vorbeikommende Herren mit freizügiger Herzlichkeit dazu einluden, sich über die Wundermittel zu informieren.



    "Nikolaos, wie lange haben wir uns nicht gesehen ... Wir geht es dir?", begrüßte Ernesto mich überschwänglich. Mir war diese Offenherzigkeit unangenehm, er war ja ganz offenbar kein Umgang für einen angehenden Bischof. Ich wich deshalb einer Umarmung aus und klopfte ihm stattdessen gönnerhaft auf die Schulter.


    "Ernesto, Unkraut vergeht nicht, mir geht es prächtig. Aber was ist mit Dir?"


    "Ach ich möchte nicht klagen, aber meine Geschäfte haben sich nicht besonders gut entwickelt. Diese Kräuterbude ist jetzt meine letzte Einnahmequelle."


    "Oh das tut mir leid, ich wünsche dir aber alles Gute", versuchte ich das Gespräch abzuwenden, indem ich mich Alexandros zuwandte, der gerade eine angeblich wunderwirkende Salbe erworben hatte.


    „Ich sehe ihr habt ein heilendes Mittel erstanden“, zwinkerte ich ihm zu und wollte ihn schnell von Ernesto wegzerren. Wir waren schon ein paar Schritte weitergegangen, da lief Ernestos hinter uns her und hielt mich am Ärmel fest: „Nikolaos, bitte. Unserer alten Freundschaft willen. Ich brauche dringend deine Hilfe. Ich möchte dich auch gar nicht anbetteln. Aber vielleicht könntest Du uns heute Abend mal wieder besuchen kommen. Auch die Mädels vermissen dich so sehr, du hast dich sehr lange nicht blicken lassen. Medaia schwärmt immer noch davon, wie gut ihr euch immer unterhalten habt.“, dabei grinste er mich frech an.


    „Tut mir leid Ernesto, aber ich habe derzeit wirklich keine Zeit, denn ich habe sehr wichtige Angelegenheiten zu regeln, nichts für ungut.“ Ich schob ihn fort, wie lästiges Ungeziefer. Musste er mich hier in Gegenwart des Gesandten an meine moralischen Verfehlungen erinnern? Zum Glück gab er diese Bemühungen anschließend gleich auf, um enttäuscht zu seinem Geschäft zurückzukehren, so dass ich weiter mit Alexandros meinen Werbefeldzug fortführen konnte. Als wir uns später am Gästehaus verabschiedeten, sprach er mich aber noch auf diese peinliche Begegnung an:
    „Sagt, lieber Nikolaos, welcher Art waren eigentlich die Gespräche, die ihr damals mit der jungen Dame geführt habt, dieser Tochter des Händlers …?“


    „Ach nichts Besonderes“, versuchte ich abzuwiegeln. „Ich habe versucht, Ernestos Töchter auf den Weg der Tugend und Sittsamkeit im Geiste Jesu Christi zu bringen. Leider ist mir das nicht wirklich gelungen.“, ich zuckte bedauernd die Schultern.


    „Glaubt Ihr, es wäre hilfreich, wenn man diesen Versuch wiederholen würde? Ich denke mit einer dringenden kaiserlichen Empfehlung, sollte das doch etwas aussichtsreicher sein.“ In seinem Blick lag etwas, das mir sagte, dass er meine kleine Lüge durchschaut hatte.


    „Nun ja, …“, ich musste mich vorsichtig vorantasten, um herauszubekommen, ob meine Theorie über sein gönnerhaftes Verhalten der Wahrheit entsprach. „Das könnte schon sein. Aber ich denke mit einer großzügigen Spende für die Armen würdet Ihr eure Erfolgschancen beträchtlich erhöhen. “


    „Nun gut, Nikolaos, dann arrangiert das für mich. Ich erwarte Euch heute Abend.“ Damit ließ er mich stehen. In aller Eile kehrte ich zum Markt zurück und überbrachte Ernesto die freudige Nachricht. Wir besprachen die Details der Übergabe der „Spende“. Dabei bin ich auf die verrückte Idee mit dem Wunder gekommen und Ernesto schlug vor, dass es sich am folgenden Morgen in einem der Strümpfe anfinden würde, die über dem Kamin zum Trockenen aufgehängt waren.


    Das ganze lief reibungslos ab. Während Alexandros versuchte, Medaia vom wahren Glauben zu überzeugen, kehrte ich mit Ernesto in die Taverne ein. Ich muss ja zugeben, dass er eine unterhaltsame Gesellschaft darstellte und ich empfand diese Ablenkung vom anstrengenden Stress des Wahlkampfes durchaus als angenehm. Außerdem planten wir gewisse zukünftige Geschäfte zu beiderseitigem Vorteil.


    Alexandros war bei seinen Bemühungen offenbar so erfolgreich gewesen, dass er die Missionierung an den kommenden beiden Abenden bei Melania und Mariam fortsetzte. Als er am Morgen des vierten Tages Abschied nahm, lagen wir uns herzlich in den Armen.


    So war es nur noch reine Formsache, dass Kaiser Konstantin mich für das hohe Amt empfahl. Zwei Monate später wurde ich in einer feierlichen Messe zum Bischof gekürt. In meiner Predigt brandmarkte ich die Geißel der Prostitution und forderte die Stadt auf, energisch gegen diese Sünde vorzugehen. Streng blickte ich dabei auf Ernesto und seine drei Töchter, die ich unter den Gläubigen ausgemacht hatte.


    Wenige Wochen später eröffnete Ernesto ein Badehaus, in dem er neben seinen Töchtern auch einige gefallene Mädchen der Stadt beschäftigte, damit sie dort einer sittsamen Beschäftigung nachgehen konnten, wie Badesalben zu mischen, Wasser herbeizutragen oder den Gästen beim Einsteigen behilflich zu sein. Ich hatte Ernesto diesen Neuanfang ermöglicht. Alexandros war als Bürge für mich eingetreten, als ich mir die enorme Summe für den Kauf der alten Ruine und deren Wiederaufbau lieh. Ich schenkte das alles meinem alten Freund und den Armen, die er beschäftigte. Auch diese Wohltaten begründeten später meinen Ruf als heiliger Wundertäter.


    Das Badehaus wurde ein großer Erfolg – selbst Alexandros ließ es sich nicht nehmen, bei seinen Reisen eigens dafür immer mal wieder in Myra vorbeizuschauen - und es trug auch dazu bei, dass sich meine bescheidene Finanzlage in der Folge drastisch verbesserte. Es entstanden Gerüchte um eine große Erbschaft, die ich weder dementierte, noch bestätigte. Ich spendete viel an Bedürftige, so dass man die Herkunft des Geldes nicht weiter hinterfragte.


    So, nun möget ihr den Stab über mich brechen oder weiter an meine Heiligkeit glauben. Ich mache mich jetzt auf den Weg, meinen Segen zu spenden. Das ist die gerechte Buße, die ich bis in alle Ewigkeit in demütiger Geduld ableisten werde.


    P.S.: Wenn ihr wollt, erzähle ich euch im nächsten Jahr, was es mit dem Kornwunder auf sich hat.

  • 6. Dezember 2013 von Groupie



    Nikolaus


    Nach Zimt und Nelken riecht das ganze Haus,
    die bunten Lichter zieren jeden Baum,
    die Welt ist wattig, wie in einem Traum,
    für süße Lieder gibt es überall Applaus.


    Am Abend stell’n sie ihre Stiefel raus,
    die Kinder groß und klein vor ihren Raum.
    Und nachts, da wird zumeist geschlafen kaum,
    denn alle warten auf den Nikolaus.


    Erregt und fiebrig komm’n sie spät zur Ruh
    und horchen wachsam auf den kleinsten Ton,
    doch müde fall‘n zum Schluss die Augen zu.


    Bis morgens dann in aller Frühe schon,
    sie sitzen strahlend neben ihrem Schuh.
    Ihr Lachen bloß ist Nik’laus‘ größter Lohn!

  • 7. Dezember 2013 von Marlowe



    Die Weihnachtsfeier


    „Also, Klaus, hier ist die Adresse, Text den du vortragen musst bekommst du vor Ort, das Kostüm holst Du von Margit. Ansonsten alles wie immer. Viel Erfolg.“ Hartmann, der Chef des Auftragsdienstes, drückte Klaus einen Zettel in die Hand und schickte ihn weiter.


    Nachdem er sich das Nikolauskostüm angezogen hatte, blieb gerade noch Zeit für ein Glas Sekt mit Margit, die Geburtstag hatte und er fuhr los. Das war sein vierter Auftrag und sein fünftes Glas Sekt heute. Seine Laune war glänzend, ja, er war einfach gut drauf. Er liebte diese Jobs. Sie wurden gut bezahlt, er lernte nette Menschen kennen und es wurde ihm nie langweilig.


    Als er von der Bedienung in das Nebenzimmer geführt wurde,hörte er schon beim Eintritt, dass die Stimmung gut war. Ein Dutzend Frauen verschiedenen Alters, aber alle gutaussehend und mit leicht glänzenden Augen, die verrieten, wie lecker der Prosecco schmeckte, sahen ihn erwartungsvoll an.


    Er legte den Sack auf einen Beistelltisch. Eine rothaarige Dame kam zu ihm, deutete auf eine dunkelhaarige junge Frau. „Das ist Maria, heute dreht sich alles nur um sie, unsere Geschenke liegen da unter der Decke neben ihrem Sack, das machen wir dann gemeinsam zum Schluss, alles klar?“ Er nickte, nahm den Text und überflog ihn kurz und dachte noch, zwar schwierig, aber egal, improvisieren ist mein Talent. Dann drückte er auf die Fernbedienung und sich in Pose stellend, begann er seinen Vortrag, untermalt von ruhiger weihnachtlicher Instrumentalmusik aus der Anlage in seinem Nikolaussack.


    „Liebe Maria, sieh mich nur genauer an
    vor dir steht der Weihnachtsmann
    du gehst nun eine Stufe weiter
    auf deiner eigenen Lebensleiter


    Warst immer brav und lebtest Anstand vor
    hattest für Ratsuchende immer ein offenes Ohr
    deine Moral hat dich vor Sünde stets bewahrt
    hast dich für den einen aufgespart


    Morgen beginnt dein neues Leben
    deshalb wollen alle dir heute etwas geben
    außer Freude und Liebe in dieser Gemeinsamkeit
    natürlich Geschenke, dort liegen sie bereit


    Ich wünsche dir Kraft für diese neue Zeit
    sei gegen alle Gefahren stets gefeit
    denn sonst sag ich, der heilige Nikolaus
    hole ich doch noch meine Rute raus.


    Mit diesen letztem Satz drückte er wieder auf die Fernbedienung. Die Musik wechselt über in einen heißen, rhythmusbetonten Beat und zu dieser Untermalung bewegte er sich aufreizend umher tanzend um den Tisch herum, riss sich den Umhang und weitere Kleidung vom Leib, nahm Marias Kopf und tänzelte eng gepresst hinter ihr, löste sich wieder und riss sich den Slip herunter, es blieb nur noch der Tanga und er hörte in seiner Ekstase die Mädels kreischen und jubeln, sah die Rothaarige mit den Armen rudernd herum hüpfend, immer hinter ihm her aber ihn nie erreichend. Es sah aus wie der Balztanz zwischen dem inzwischen fast nackten, muskelbepackten besten Stripdancer der Stadt und einer rothaarigen besessenen Furie.


    Maria, inzwischen gut abgeschirmt von ihren Freundinnen, genoss sein Werben und Streicheln, berührte ihn sogar an den Schenkeln und gerade als er sich ihr entgegenstreckte wurde er jählings nach hinten gerissen.


    „Was haben Sie nur gemacht, Idiot. Ich werde die Agentur verklagen!“ Die Rothaarige schluchzte und presste dann hervor: „Sie geht doch morgen ins Kloster.“


    Kleiner Nachtrag: Nein, ging sie nicht. Inzwischen arbeiten Maria und Klaus als Team bei der Agentur Hartmann.

  • 8. Dezember 2013 von JASS



    Elisa Scroog


    Wie an so vielen Tagen, an denen Schule war, trottete Elisa soweit gepflegt die Treppe herunter, dass sie zumindest nicht stank. Das Haar zerzaust und das Schild schaute aus dem Kragen. Während der Fahrt würde sie ihn schon noch zurechtrücken. Nur ihre alte Perlenkette schmückte regelmäßig ihren Hals und wurde nie vergessen, anders als ihre Socken, Unterwäsche oder einmal sogar ihr Rock. Zum Glück an einem Sonntag.


    „Guten Morgen“, grüßte ihre Stiefmutter sie, wieder in diesem nervig freudigen Ton, als hätte Morgenstund Gold im Mund statt Würmer. Früher Vogel und so. „Hier ist dein Frühstück.“ Wiederwillig nahm Elisa die Dose entgegen und klappte sie auf. Käse, Salat und Tomate serviert auf geschlossenem Weißbrot und verfeinert mit Butter sowie etwas Salz und Pfeffer. „Ist das von dir?“, murrte Elisa. „Jaaa, wie fast jeden Tag“, wiederholte ihre Stiefmutter, wie fast jeden Tag. Kaum hatte sie zum „Ja“ angesetzt, nahm Elisa bereits das Brot und warf es in den Biomüll, den sie beherzt durch einen Druck mit dem Fuß auf den kleinen Hebel geöffnet hatte. „Versalzen.“ War es nicht. „Wie jeden Tag.“
    Elisa hatte noch nie ein Brot von ihrer Stiefmutter gekostet. Aber zumindest hatte sie bis jetzt immer den Anstand gehabt, das Brot erst in der Schule wegzuwerfen. Gerade wollte ihre Stiefmutter ansetzen um etwas zu sagen, da öffnete Elisa bereits die Tür, vor der Schnee fiel, und fragte: „Fährst du mich?“ Die Hände zusammengedrückt und die Lippen gepresst, atmete Elisas Stiefmutter schnaubend aus, um dann freundlich lächelnd zu antworten: „Wie fast jeden Tag.“


    Elisa starrte angestrengt aus dem Fenster des Autos, um ihre Stiefmutter nicht anzusehen, wie in dem letzten Jahr. Zu Beginn hatte ihre Stiefmutter noch versucht kleine Gespräche einzufädeln, vergebens. Seither war die einzige Person, die im Auto Worte von sich gab, der Radiosprecher.


    Beim Aussteigen knirschte der frische Schnee unter Elisas Schuhen. Die Tür zugeschmissen, machte sie sich auch schon ohne einen Blick zurückzuwerfen auf in die Schule. „Wie fast jeden Tag“, atmete die Stiefmutter unglücklich aus.


    Kaum am Platz angekommen, schon läutete die Glocke zum Unterricht. Vor sie trat eine blond gelockte, grazile Frau mit leichten Hasenzähnen, die nicht ihre Lehrerin war, sich aber als solches ausgab. Zumindest solange wie Frau Pohocker – der Name war Programm – ihre beständige Klassenlehrerin, krank war.


    „Schreibt einfach auf, was ihr euch zu Weihnachten wünscht, aber als Gedicht! Wer will, kann es dann gerne vortragen.“ Ihre Stimme klang unglaublich warm, als würde sie die Herzen jedes einzelnen Schülers berühren. Aufgrund dieser unangenehmen Nähe entschloss sich Elisa, sie sofort zu hassen. Eine Mitschülerin hob die Hand. Als sie zu Wort kam, fragte sie: „Ist es nicht etwas albern in der zehnten Klasse einen Brief an Santa zu verfassen?“ Die Klasse schmunzelte. „Es soll kein Brief sein, den ihr euren Eltern in die Hand drückt, sondern was ihr euch wirklich von Herzen wünscht.“
    Elisa nahm ihren Block heraus, begann ohne bewusstes Nachdenken an ihrer Perlenkette zu spielen und fing an zu schreiben.


    „Hätte ich einen Wunsch zur Weihnachtsnacht frei, kein Spielzeug oder Firlefanz wäre dabei. Mutter, Vater, Kind, so wie Familien halt sind. Meine Mutter wäre da, das wäre wunderbar …“ Sofort hörte Elisa auf zu schreiben. So etwas wäre sozialer Selbstmord, würde sie es vor der Klasse vorlesen. Also zerknüllte sie das Papier und warf es an den passenden Ort, wo Müll halt so hingehört.


    Nur noch eine Nacht, dann war Weihnachten. Elisa lag schlafend in ihrem Bett, als sich leise der Hebel des Fensters hob. Wie eine breite Tür öffneten sich die Glieder des Fensters und ließen neben kalter Luft ein helles Licht herein. Bibbernd vor Kälte öffnete Elisa ihre Augen und sah … nichts, da das Licht sie zu sehr blendete.


    Das Licht ließ nach und Elisas Augen gewöhnten sich langsam an die Verhältnisse. Inmitten ihres Zimmers stand auf einmal ihre Ersatzlehrerin, umgeben von dem Restschimmer. Elisa wollte schreien, um Hilfe rufen, den Einbruch melden, stattdessen waren ihre Lippen mit einem Reißverschluss verschlossen. Die Lehrerin nahm einen verknüllten Zettel in die Hand, den sie auseinanderfaltete und las: „Bla bla bla, Meine Mutter wäre da, das wäre wunderbar …“ Sie nahm den Zettel herunter: „Mh … du darfst reden, wenn du nicht schreist.“ Und tatsächlich, wenn sie nicht laut wurde, konnte sie völlig normal sprechen. So normal, wie man durch einen offenen Reißverschluss halt sprechen konnte. „Was tun sie hier?“ „Nun, du bist eine Scroog“, erwiderte die Lehrerin, die sich nun als Engel zu erkennen gab. Nach einer Weile anstarren fragte Elisa: „Und?!“ „Ihr habt da doch diesen Fluch mit den Geistern, die durch die Zeit reisen, um euch den Geist Weihnachtens näher zu bringen“, frischte der Engel Elisas Gedächtnis auf. „Ich dachte immer, das wäre nur ein Märchen“, gab Elisa verdrossen zu. „Ist es nicht“, stellte der Engel klar. „Oh“, war das erste, was Elisa dazu einfiel. „Aber ich mag doch Weihnachten, ich habe sogar „Fröhliche Weihnacht überall“ gesungen! Erst vorhin auf dem Heimweg!“


    „Es geht nicht darum, wie du Weihnachten empfindest, sondern wie du das Weihnachten für andere gestaltest“, erklärte ihr der Engel. „Und nun werde ich von drei Geistern heimgesucht, die ganze Nacht?“, fürchtete Elisa. Der Engel schüttelte lächelnd den Kopf: „Nein, aufgrund von Personalmangel und Einsparungen, dem immer hektischer werdenden Leben und aufgrund der wenigen Worte, die wir für diese Geschichte nutzen dürfen, werde nur ich dich begleiten. Ach und Zukunft ist auch tabu, da heutzutage viele die Möglichkeiten der freien Persönlichkeitsentfaltung haben, ist auch deinen Zukunft noch nicht geschrieben, auch keine alternativen Versionen davon.“


    „Wow“, gab Elisa von sich. „Ja, wow“, gab der Engel freudig stolz zurück. „Personalmangel, eh?“ Der Engel zuckte nur mit den Schultern. Elisa sprang aus dem Bett. „Na gut, dann zeig mir bitte, wem ich Weihnachten so versaue, das dafür ein Engel kommen muss.“ Der Engel nahm Elisa an der Hand. Nun, wo sie wusste, warum dieses „Wesen“ ihr Herz so berühren konnte, entschloss sich Elisa, sie doch nicht mehr zu hassen. Verdammt, sie war ein Engel, das war super, wie viele Menschen durften schon so etwas sehen, geschweige denn berühren!


    Sie sprangen aus dem Fenster.


    Die Flocken flogen in einem dichten Schneegestöber an ihnen vorbei, ohne sie zu frösteln. Es wirkte wie in einer anderen Welt. Aufregend und umgeben von so viel wunderschöner Zerbrechlichkeit der Schneeflocken um sie herum. Am Ende des Weges tat sich ein Fenster auf.


    „Das da unter dem Weihnachtsbaum … das bin ich … vor der Trennung, meiner Eltern“, erkannte Elisa. Der Engel nickte: „Ja.“ „Warum streiten sich meine Eltern? Es ist doch Weihnachten?“, wollte Elisa wissen. „Deine Eltern haben sich oft gestritten, nicht wahr?“ Elisa ließ den Kopf hängen: „Ja … aber … warum diesmal?“ „Gehen wir doch hinter die Tür“, schlug der Engel vor. Kaum hatte sie dies ausgesprochen, schnipste der Engel mit den Fingern und Elisa war im Körper ihres Vaters und hörte ihn wütend, aber leise, sprechen: „Du hast sie vergessen, sie ist dein Kind und es ist Weihnachten! Wie kann man zu Weihnachten sein Kind vergessen!?“ „Sie hat doch die Puppe von dir, das reicht doch“, erklärte sich ihre Mutter. Elisa konnte die Wut in ihrem Vater spüren. „Wieso bin ich im Körper meines Papas?“, wunderte sich Elisa. „Oh, wir haben festgestellt, dass es den Menschen leichte fällt, die Position anderer zu verstehen, wenn sie deren Position bereits erlebt habe. Auch bei uns Engeln gab es Fortschritt.“ Elisas Mutter ging in ihr Zimmer und holte willkürlich eine Perlenkette aus ihrem Schmuckkästchen. Währenddessen nahm sie nicht das Handy vom Ohr und antwortet immer mit einem „Mhm“ oder „Ja“ der Person auf der anderen Seite. Sie ging in das Wohnzimmer, in dem Elisa mit ihrer neuen Puppe spielte. Ihre Mutter kniete zu ihr hinunter, nahm das Handy vom Ohr und legte Elisa die Kette um: „Hier, mein Liebes, das ist für dich.“ Noch ein kurzer Kuss auf die Stirn und sie nahm wieder das Handy ans Ohr und verließ den Raum. Freudig berührte die junge Elisa die Kette. Traurig tat ihr älteres selbst dasselbe. „Mein Geschenk war … nur eine Notlösung …“ Elisa sah zu dem Engel: „Im Jahr darauf verließ mein Paps meine Ma und … zunächst wohnte ich bei ihr, aber dann zog ich zu meinem Vater, weil … ich so allein war …“ Elisa schluckte „Das hatte ich völlig vergessen.“ „Du warst jung“, gab der Engel zurück „Da vergisst man schon mal gerne Dinge. Aber nun gehen wir zu dem Menschen, dem du Unrecht getan hast.“


    Erneut flogen Elisa und der Engel durch den Schnee. Doch diesmal fiel er langsamer. Oder … war es Elisa, die langsamer flog, spielend mit ihrer Perlenkette? Der Engel sah mitfühlend, wenn auch mit einem schwachen, aufbauendem Lächelnd zu ihr.


    Das Fenster, durch welches sie kamen, war das zum Schlafzimmer ihres Vaters und ihrer Stiefmutter. Ihre Stiefmutter lag wach auf dem Rücken und starrte die Decke an. Kaum hatte der Engel geschnipst, war Elisa im Körper ihrer Stiefmutter. Ihr Herz fühlte sich schwer an, als hätte ihr jemand einen dieser Cartoon-Ambosse auf die Brust gelegt. Es wog so schwer, das sie tief atmen musste, um nicht von der Last erdrückt zu werden. Was soll ich nur tun? Was mache ich falsch mit ihr? , wiederholten sich die Gedanken der Stiefmutter. „So fühlt es sich durch mich an?“, sprach Elisa zu sich selbst. Ihre Stiefmutter drehte ihren Kopf zu Elisas Vater: „Was soll ich nur tun?“ Ihr Vater brummelte aus dem Halbschlaf: „Das wird schon …“ Diese Worte nutzte ihr Vater immer nach einem langen oder wiederholt auftauchenden Gespräch, wenn er keine Lösung für ein Problem sah.


    Die Stiefmutter sah erneut zur Decke. Wieder war da dieser schwere Druck ums Herz. Ich möchte nicht, dass es so bleibt, wie es ist. Ihr Blick ging traurig herab. Ich bin hier nicht willkommen, wir werden nie eine Familie … Sie sah zu Elisas Vater Vielleicht finden sie ohne mich eine Familie, ich weiß nicht mehr was zu tun. Erneut wand sie sich der Decke zu. Ich werde das schönste Weihnachten ausrichten, das ich kann und wenn das auch nicht reicht … vielleicht sollte ich mein nächstes Weihnachten woanders feiern. Bei dem Gedanken floss ihr eine Träne aus den Augen, als hätte die Hand um ihr Herz fester zugedrückt und musste nun überlaufen, um nicht zu sterben. Schnell wischte sie sich die Träne weg, rollte sich zur Seite und schloss die Augen.


    „So fühlen sich anderen wegen mir?“, verstand Elisa erschrocken und als sie die Augen öffnete, war sie wieder in ihrem eigenen Körper.


    Elisa trat erneut die Treppe des Hauses herab in die Küche. Die Kleidung richtigrum und vollständig angezogen, die Haare gekämmt. In der Küche hatte ihre Stiefmutter Zucker, Mehl, Milch, Backpulver und Glasuren zurechtgelegt. Elisa trat an sie heran: „Was machst du da?“ „Oh, …“, erschrak sich ihre Stiefmutter zunächst, bevor sie erklärte: „Ich wollte Plätzchen machen.“ „Darf ich … Darf ich mitmachen?“, erkundigte sich Elisa. „Ja, ja aber klar!“, strahlte ihre Stiefmutter ihr entgegen. Elisa nahm das Mehl und gemeinsam fingen sie an zu backen.


    Am Tag lief Elisa zu ihrer Mutter und klingelte. Wie immer öffnete diese mit dem Handy am Ohr. Elisa zog nicht einmal ihre Handschuhe aus oder trat herein, um ihrer Mutter die Perlenkette entgegen zu halten. Ihre Mutter verstummte kurz. „Schenk mir etwas, was ich mir gewünscht habe, falls du mir jemals zugehört hast, sonst will ich dich nie wieder sehen.“ Verwundert rutschte das Handy an der Wange ihrer Mutter herunter und sie nahm verdutzt die Kette aus der Hand ihrer Tochter. Sie sah Elias nach, während die Spuren ihres Kindes im Schnee immer weiter vom Haus wegwiesen.


    Am Abend saßen Elisa, ihr Vater und ihre Stiefmutter zufrieden am Wohnzimmertisch. Die Geschenke waren ausgepackt und jedes war etwas, was sie sich gewünscht hatte und einiges hatte natürlich auch ihre Stiefmutter für sie besorgt. Zum Abendessen hatte ihre Stiefmutter Ente mit Rotkohl, brauner Soße und Kartoffeln oder Klößen gemacht, die hervorragend schmeckten. Ebenso wie die Plätzchen, von denen sich Elisa ein paar in eine kleine Tüte gepackt hatte und nun den ganzen Abend mit sich herumtrug. Nun spielten sie ein Brettspiel, das Elina neu bekommen hatte.


    Auf einmal klingelte es an der Tür. Aufgeregt öffnete Elisa die Tür. In ihr stand ihre Mutter, mit einem kleinen Paket und ohne Handy in der Hand. „Hey, meine Kleine, ich glaube, ich habe diesmal etwas gefunden, was du dir gewünscht hast.“ Elina nahm das Geschenk entgegen. „Wollen Sie nicht kurz reinkommen und mitspielen. Es sind auch noch ein paar Plätzchen da, die Elisa gebacken hat“, schlug die Stiefmutter vor. „Die wir gebacken haben“, korrigierte Elisa grinsend. „Oh, ja, darf ich?“ Sie wand sich an ihren Ex-Mann. Dieser lächelte: „Warum nicht, es ist Weihnachten, oder?“ Glücklich ließ Elisa ihre Mutter herein. Und während sich alle im Wohnzimmer versammelt hatten, ging Elisa kurz austreten, wo sie auf den Engel traf. „Hey!“ grüßte Elisa. „Hey“, grüßte der Engel lächelnd zurück. „Meintest du nicht, mein Wunsch wäre doof?“, stocherte Elisa. „Ich habe mit dem Erfüllen dieses Wunsches nichts zu tun, das warst du selbst“, mit diesen Worten verschwand der Engel vor ihren Augen in goldenem Staub, der daraufhin auch verschwand. Freudig gab ihr Elisa nur ein Wort zum Abschied: „Danke“

  • 9. Dezember 2013 von Tom



    Last Christmas


    Der Weihnachtsmann war ein großer Freund von Traditionen. So gehörte es für ihn seit Jahren zum festen Ablauf des vierundzwanzigsten Dezembers, sich gegen Mittag, so um zwölf herum, bevor die große Sause begann, ein Stündchen Auszeit zu nehmen, die Rentiere anspannen zu lassen und mit dem Schlitten nach Bangkok zu fliegen. Auf dieses Stündchen freute er sich das ganze Jahr über. Manchmal ertrug er die Trostlosigkeit am Nordpol nur mit dem Gedanken daran.


    Er landete den Schlitten, der für Normalsterbliche natürlich nicht sichtbar war, auf dem mittleren Turmdach des Bangkok InterContinental. Bei diesem Ausflug trug der Weihnachtsmann kein Kostüm, sondern Jeans, Shirt (XXL mit dem Aufdruck "Chef") und Turnschuhe. In Thailand war es im Dezember warm - fast dreißig Grad Celsius -, und viel Kleidung würde er ohnehin nicht für das benötigen, was er vorhatte.
    Er betrat das Treppenhaus durch die Dachtür und kletterte fröhlich pfeifend zum zwölften Stockwerk herunter, wo eine Suite für ihn reserviert war. Dort öffnete sich die Tür mit einem dezenten Klicken, als der Weihnachtsmann die Chipkarte aus seiner Gesäßtasche zog und gegen den Öffner hielt. Wie wunderbar doch die Organisation jedes Mal klappte. Auf seine Leute war eben Verlass. Er lächelte und betrat die Suite, wo seine ganz persönliche Weihnachtsüberraschung schon nackt auf dem Bett lag.


    Knapp fünfzig Minuten später zog er zum dritten Mal seinen kondombewehrten Schniedel aus dem Anus des Gespielen, einem schweigsamen, muskulösen und über alle Maßen attraktiven Mittzwanziger, der sich, leise und verschämt murmelnd, als "Vladi" vorgestellt hatte, was der Weihnachtsmann, bereits geil bis in die Zehennägel, weitgehend ignoriert hatte, um möglichst schnell zur Hauptsache zu kommen. Jetzt war er völlig geschafft, was aber nicht lange anhalten würde. Er schlurfte zur Minibar und trank eine Dose Red Bull rasch leer, wobei er spürte, dass sein Hals leicht schmerzte. Verdammt, dachte er grinsend. Hatte mich der forsche Kerl doch vor Erregung gebissen. Der Weihnachtsmann freute sich darüber, offenbar auch für den anderen attraktiv gewesen zu sein. Nur Prostituierte besuchen zu können, gehörte zu den Nachteilen des Jobs, der selbstverständlich keine persönlichen Bindungen zuließ. Umso schöner, trotz Bart und Bauch auf diese Form von Gegenliebe zu stoßen. Er zog das Bündel Geldscheine aus der Tasche, wobei er spürte, dass seine Energie zurückkehrte, sogar ein recht ungewohnt starker Tatendrang einsetzte, warf die Scheine aufs Bett und verabschiedete sich mit einem kurzen Kuss. Vladi lächelte seltsam.


    Die Rechnung der Vampirbruderschaft ging schnell auf. Lange hatte man nach einem geeigneten Multiplikator gesucht, denn seit Jahrzehnten herrschte enormer Nachwuchsmangel. Die Leute ließen sich nicht mehr so leicht beißen, schrien um Hilfe, wenn man schon verschämt nach dem Hals schaute, außerdem entlarvten die omnipräsenten Mobiltelefone mit ihrer vermaledeiten Fotofunktion viel zu früh, wenn das Gegenüber nichtmenschlich war - auf Fotos waren Vampire ebenso wenig zu sehen wie in Spiegeln. Offenbar aber wollte heutzutage fast jeder zunächst ein Foto vom Gesprächs- oder Geschlechtspartner machen, bevor es zur Sache ging, weshalb sich die Vampire sogar in ländlichen Gebieten auf dem Rückzug befanden. Zu hunderten Beinaheentlarvungen war es gekommen, bis man sich zu einer Konferenz getroffen hatte, um Gegenmaßnahmen zu prüfen.
    Ein Vampir aus Grönland kannte über den Schwager eines Cousins eines ehemaligen Opfers die Elfe, die für den Weihnachtsmann seine heiligabendlichen Ausflüge organisierte. Als das bekannt wurde, war der Plan schnell geschmiedet.


    Der Weihnachtsmann landete mit seinem Schlitten auf dem Dach, tauchte durch den Schornstein in die erste Wohnung dieses Weihnachtsfests. Er legte die Geschenke unter den Tannenbaum, warf einen kurzen Blick auf Milch und Kekse, die auf dem Tisch bereitstanden, verspürte aber, dass ihn nach anderem gelüstete. Er schnüffelte. Er roch frisches, junges Fleisch. Er roch Blut. Für einen Moment war er irritiert, doch der neue, unbekannte, energische Drang wurde sekündlich stärker. Der Weihnachtsmann schlich in den Flur und öffnete die Tür zu einem Kinderzimmer, in dem ein Junge und ein Mädchen friedlich in einem Doppelstockbett schliefen. Der Weihnachtsmann lächelte sardonisch, und dann biss er zu.


    Es war das letzte Weihnachtsfest, das je gefeiert wurde.

  • 10. Dezember 2013 von Holle



    Von der Macht des Wünschens
    (und wie sie ein Kind mit Lese-Rechtschreibschwäche (F81.0) zum Schreiben bringen kann)


    Libes Kristkint!
    Ech wünse mir Was zu weinachte. Ech war ächt so liep das ganse Jaar. dan bringstu Was ech mir wünse sakt mein freunt Käwin.
    Mama sakt du ferstes was ech meine weiel du kanst ins Härz kucke. Du solst aber nech ersreken weiel da sint so file wünse drin
    das is sohn gans dick. Unt Sreiben is soooo swehr. Ech bin son gans müde. Ech slafe soga son fasst ein. Ech sreibe nur ein Wuns
    auf, die anneren sihst du in mein Härz.
    Libe Grüse von dein besten freunt Toni.


    was ech mir wünse:
    Von Lego Ännäkins Jedi Starfaiter führ 99,99 in prospeckt unt is immer inner Werbung

  • 11. Dezember 2013 von Rosha



    Wünsche


    Der Gehweg ist glatt. Die Menschen tippeln ungelenk vor sich hin, darauf bedacht, nicht auszurutschen. Ich bin der Einzige, der mit ausgreifenden Schritten vorwärts geht. Ich weiß, dass ich nicht fallen werde. Trotz meiner glatten Sohlen. Denn ich habe mir gewünscht, nicht auf dem Eis zu stürzen. Ebenso wie ich mir gewünscht habe, in meinen dünnen Lederschuhen keine kalten Füße zu bekommen. Ich mag die dicken Winterstiefel nicht. Warum sollte ich sie auch anziehen? Es ist nicht notwendig.
    Das mit dem Wünschen hat vor etwa drei Jahren begonnen. Erst hat es eine Weile gedauert, bis ich es begriffen hatte. Ich brauche mir nur etwas zu wünschen und dann bekomme ich es. Keine Ahnung, warum oder ob das irgendwann wieder vorbei ist. Die erste Zeit war wie ein Rausch. Was für Möglichkeiten! Allerdings gibt es auch Grenzen. Ich muss mir etwas wünschen, das mich oder meine unmittelbare Umgebung betrifft. Am Weltfrieden bin ich gescheitert. Globale Wünsche funktionieren nicht.
    Mittlerweile ist die Euphorie verflogen. Dass sich alle meine Wünsche erfüllen, ist zur Alltäglichkeit geworden. Manchmal versuche ich, einen Tag ohne das Einsetzen meiner Gabe zu bestreiten. Das erfordert ständige Konzentration. Zu sehr ist mir das Wünschen schon in Fleisch und Blut übergegangen. Ich weiß, ich bin undankbar, aber mein größtes Problem ist die Langeweile. Sie hüllt mich ein. Mein Leben ist leicht und doch wiegt diese Leichtigkeit schwer.


    Ich komme an einem Café vorbei. Durch die Fensterfront sehe ich eine Frau an einem Tisch sitzen. Sie liest in einem Buch. Ohne aufzusehen greift sie nach ihrer Tasse, hebt sie an und verharrt in der Luft. Ihre Augen nimmt sie keine Sekunde von den Buchseiten, scheint das Getränk in ihrer Hand vergessen zu haben. Reglos sitzt sie da. Ich beobachte sie, unbemerkt. Ihre Lippe ist gepierct, die Haare zu Dreadlocks verzwirbelt, ihre Kleidung ein psychedelisch bunter Aufschrei. Sie ist ganz und gar nicht der Typ Frau, der mich normalerweise anspricht. Aber ich kann meine Augen nicht von ihr lösen. Wie ohne mein Zutun bewegen sich meine Beine in Richtung Eingang. Mein Körper reagiert schneller als mein Verstand. Ich muss mit dieser Frau Kontakt aufnehmen!


    „Darf ich mich zu Ihnen setzten?“, spreche ich sie an. Langsam hebt sie den Blick, die Augenbrauen unwillig zusammengezogen. Sie schaut mich an, lässt ihre Augen über die vielen leeren Tische im Raum gleiten.
    „Nein.“ Mehr sagt sie nicht. Nur dieses eine, kleine Wort. Für sie ist die Angelegenheit erledigt, liest einfach weiter. Wie benommen stehe ich da, weiß nicht, was ich tun soll.


    „Aber… aber“, stottere ich und spreche in meiner Verwirrung aus, was ich besser nur gedacht hätte:
    „Ich habe mir doch gewünscht, Sie kennenzulernen!“


    Die Frau schaute mich erneut an, legt den Kopf schief.
    „Sind Sie ein bisschen dumm im Kopf? Sie haben es sich gewünscht? Sorry, Mister-ich-glaub-an-die-Fee, das Leben ist kein Ponyhof und selbst wenn, dann ist man oft genug das kleinste Pony, das den dicksten Reiter tragen muss. Ich bin definitiv nicht Ihr Pony.“


    Sie blättert eine Seite in ihrem Buch um und scheint mich bereits vergessen zu haben. Ich wanke zu einem Stuhl, bestelle beim Kellner Kaffee. Meine Hände zittern. Was ist passiert? Was stimmt nicht? Ich verschütte die Milch, streue Zucker daneben, klirre viel zu laut mit dem Löffel an die Tasse. Ich denke nach. Kurz bevor ich die Frau sah, wünschte ich mir eine echte Herausforderung. Das ist es! Ich habe endlich den richtigen Wunsch geäußert. Ruhe überkommt mich. Das ist meine Chance auf ein normales Leben. Ich lächle und betrachte die Frau. Ich werde nicht aufgeben.

  • 12. Dezember 2013 von LyFa



    Eine flüchtige Begegnung- Weihnachtsmarkt Frankfurt 2029



    Hannah:


    „Wollen wir zum Weihnachtsmarkt?“ Die Stimme von Ole reißt mich aus meinen Gedanken. Weihnachtsmarkt, das letzte Mal, wie lange ist es her?
    Ich stehe am Fenster, unter mir die Stadt. Lichter blinken, die Hochhäuser sind farbig angestrahlt. Vom neuen Zentrum flimmert Dauerwerbung. Am Fenster sitzt ein kleiner Mohair Teddy, die Erinnerung an unseren letzten Weihnachtsmarktbesuch. Vielleicht kann ich ihm einen Freund kaufen, damit er nicht mehr so einsam auf der Fensterbank herumsitzen muss.
    Weihnachtmarkt, Buden, Lichterzauber, Musik, Glühwein und Lieder, aber auch Enge und Taschendiebe. Ole liest meine Gedanken: „Wir können zur sicheren Zone.“
    Die sichere Zone gibt es seit fünf Jahren. Am Römer und sie geht bis zum Main hinunter. Abgegrenzt vom Rest. 50 Euro Eintritt, dafür Sicherheitspersonal, überschaubar, kein Gedränge, alles videoüberwacht. Eltern liefern ihre Kinder ab, nachmittags, es ist sicher dort.
    Die Teens gehen lieber auf den Alternativen um den Eisernen Steg. Ein Hauch Risiko. Am anderen Mainufer der mehr oder weniger wilde Markt. Dahin geht man nur im Pulk. Die Menge gibt etwas Sicherheit. Dort findet man aber auch alles oder zumindest fast alles. Vor allem auch Taschendiebe. Mädchen sollen verschwunden sein. Selbst schuld. Frankfurt ist nicht gefährlicher als andere Großstädte, tagsüber zumindest. Abends und nachts ist es überall gefährlich. Die Polizei empfiehlt, nicht allein unterwegs zu sein. Fünf bis zehn Personen gelten als Faustregel.
    Zu zweit ist es ein Risiko, außer im sicheren Bereich. Wir können von der bewachten Tiefgarage bis zum bewachten Parkhaus am Römer fahren und sind dann direkt bei dem Markt.
    Ich bin einverstanden. Zwei Jahre ist es her. Zwei ganze Jahre. Vier Fruchtbarkeitsbehandlungen und nur zweimal hatten die Ärzte Erfolg. Mein Körper hat leider nicht mitgespielt. Einmal war ich fünf Wochen schwanger, einmal vier Monate. Wir haben Geld, ich hätte weiter machen können, doch ich habe die Trauer nicht verkraftet. Ich sehe sie, meine Kinder, in meinen Träumen und mein Psychiater hat empfohlen eine Pause einzulegen. Ole hat das Kinderzimmer verschlossen. Es ist fertig eingerichtet. Fünfzehn Quadratmeter für niemand. Er möchte die Möbel verschenken und einen Billardtisch hineinstellen.
    Was wird das neue Jahr bringen? Wir haben schon Karten für die Oper, zum Jahreswechsel 2030. Seit drei Jahren ausverkauft.
    Es wird Zeit in die Zukunft zu blicken. Zeit für einen Neuanfang. Warum nicht Weihnachtsmarkt? Ole freut sich. Wir wollen eigentlich nur auf den sicheren Markt, trotzdem ziehe ich zwei Mäntel übereinander. Geld in verschiedenen Taschen. Der Spezialausweis in die Zweitgeldtasche. Nur zweihundert Euro in die eine Geldbörse. Weniger ist schlecht, wenn man überfallen wird.
    Ich denke daran, wie es früher war. Als ich klein war, als es noch Fenster im Erdgeschoss gab, die nicht vergittert waren.
    Auf dem Weg nach unten, passieren wir zwei Sicherheitskontrollen. Die Wohnung gehört uns, 150 Quadratmeter, zehnter Stock, unverbaubarer Blick über den Main. Wir besitzen sogar einen Stellplatz in der Zentraltiefgarage.
    Munir der Sicherheitschef sitzt heute persönlich vor der Videoüberwachung. Ich beobachte die Bildschirme, während Ole mit ihm redet. Munir arbeitet schon Ewigkeiten hier. Ich weiß nur, dass er irgendwo in Maintal lebt, mit seiner Familie. Seine Frau putzt bei unseren Nachbarn. Sie sind schon älter, haben Enkelkinder.
    Wir kennen nicht viele der Eigentümer, wie auch. Jeder lebt in seiner Wohnung. Um die Hausangelegenheiten kümmern sich Verwalter und Sicherheitskräfte.
    Die fünf Häuser haben eine eigene Einkaufszone. Aber wer geht schon shoppen, das geht online bequemer. Spätestens dreißig Minuten nach einer Bestellung werden die frischen Lebensmittel geliefert. Manchmal wundere ich mich, wie die Zentren überleben. Die Teens shoppen gern im Rudel, meint Ole und manche Leute treffen sich in Cafés. Ich will ja auch nicht jeden in meiner Wohnung.
    Ole kommt zurück, Munir wünscht uns Spaß. Zwei Sicherheitspoints und wir sind in der Wildnis. So nennen wir heute die nicht komplett überwachten Teile der Stadt.


    Geschützt durch den Stahl des Wagens, fahren wir im Schritttempo zum Parkhaus. Wir wären fast schneller, wenn wir laufen würden.
    Niemand, den ich kenne, läuft und doch sind die Wege voll. Die meisten Frauen sind verschleiert. In manchen Gegenden würde ich auch nicht unverschleiert herumlaufen. Allein schon gar nicht. Als Kind konnte ich es noch, allein in der Stadt umherlaufen. Nicht nachts, aber tagsüber. Ich halte meine Tasche mit beiden Händen, als wir das Parkhaus verlassen. Der Eingang zum sicheren Bezirk ist nur ein paar Schritte entfernt. Ein Weihnachtsmann kassiert an der einen Seite, ein Engel an der Anderen. Es riecht nach gebratenen Hähnchen, Honig-Mandeln und Glühwein. Verschiedene Weihnachtslieder bilden mit dem Lärm der Menschen eine ungewohnte Geräuschkulisse. Ich muss mich erst daran gewöhnen. Ole sieht ein paar Leute, die er aus der Firma kennt. Gemeinsam gehen wir zu einem Stand und genießen frische Waffeln. Ich trinke einen Glühwein und lasse meine Augen schweifen. Es ist schön hier, viele Menschen, doch nicht zu viele. Die Leute schauen erwartungsvoll, Kinder an den Händen ihrer Eltern. Inzwischen ertrage ich den Anblick wieder.



    Mary:


    Ich bin seit ein paar Monaten hier. Es gibt genug zu essen und die Unterkunft ist ok. Mit zwei Schwangeren teile ich mir ein Zimmer bei Doktor Roukisch.


    Ich habe seine Adresse bekommen, unter der Hand, als ich zur Beratung ging. Schwanger? -Mein Vater hätte mich getötet. Roukisch hat gesagt, dass ich zu ihm kann, dass mich kein Mensch finden würde. Er lässt uns und andere Mädchen bei sich wohnen. Wir bekommen gutes Essen und sind sicher.
    Wenn die Babys da sind, werden sie adoptiert. Von Leuten, die Geld haben. Leuten, die ihnen ein schönes Leben bieten, ein richtiges Leben. Die Mädchen gehen und man hört nie wieder etwas von ihnen.


    Vor drei Wochen habe ich mein Baby geboren und sie haben es noch nicht geholt. Ich soll es erst einmal versorgen. Das ist ungewöhnlich. Ich stille den Kleinen. Der Doktor hat ihm heute Morgen wieder Blut entnommen. Er hat eine seltene Blutgruppe. Im Fernsehen werben sie für Organspenden. Man darf eine Niere verkaufen, wenn man gesund ist. Es gibt ein neues Gesetz, nachdem es möglich sein soll, alle Organe zu spenden. Eine Möglichkeit legal und gesellschaftlich anerkannt Suizid zu begehen. Das Geld kann man vermachen, wem man will. Auf jeden Fall eine bessere Möglichkeit, als von der Brücke zu springen.


    Mein kleiner Süßer, vielleicht will der Doktor dich selbst behalten. Er ist so niedlich. Katja kommt zu mir. Sie arbeitet beim Doktor. Warum ist sie so aufgeregt?


    „Mary, zieh deinen Kleinen an. Schnell, pack ein paar Windeln und die Fertignahrung ein, mach schnell…!“ Kommt Polizei? Wir sind illegal hier. Ich weiß was passiert, wenn wir auffliegen. Er hat es gesagt. Wir landen im Gefängnis und der Kleine… Nein! Ich habe ihn gerade gestillt und frisch angezogen. Ich nehme zwei Decken, und 2 Windeln aus dem Schrank…


    „Wir müssen uns beeilen!“ Katja legt ihn behutsam in eine Sporttasche. Nur einen kleinen Schlitz lässt sie offen. Ich folge ihr. Komisch, ich sehe niemanden.


    „Mary, pass auf, ich komme mit dem Wagen. Wenn ich halte, steige schnell ein und duck' dich!“ Ich nicke und als sie kurz darauf mit dem Wagen kommt, steige ich hinten ein und versuche mich ganz klein zu machen. Sie fährt vorsichtig. In die Stadt. Nach Frankfurt? Warum nach Frankfurt? Sie hält in einer Seitenstraße, nicht weit von hier beginnt der Weihnachtsmarkt.


    „Mary, weißt du, warum er dein Baby nicht weggegeben hat?“ In ihren Augen sind Tränen. Sie hat bei der Entbindung geholfen und mir gezeigt, wie man ihn versorgt. Doch sie hat nie gezeigt, dass wir ihr etwas bedeuten. Ich bin verunsichert.


    „Mary, er hat einen Kunden für den Kleinen. Einen Kunden für sein Herz. Ich dachte wir hätten mehr Zeit. Er soll in drei Tagen abgeholt werden, ich habe es zufällig erfahren, du musst fliehen, du musst zu deiner Familie!“


    Sie gibt mir ein Einweghandy und Geld und dann lässt sie mich einfach hier stehen. Um mich herum Menschen, manche schauen mich kurz an und dann gehen sie doch weiter. Ich nehme die Tasche in den Arm und lasse mich von der Menge treiben. Weihnachtslieder. Lichter. Katja kann es nicht wissen. Ich kann nicht zurück. Nicht zu meiner Familie. Ich werde gesucht. Ich habe ein Kind, bin keine Jungfrau. Wertlos. Eine Schande.


    Zwischen all die Weihnachtslieder mischen sich Sirenen, ich gehe weiter, ohne Ziel. Es gibt keine Zukunft für mich, die gab es nie. Es gibt jetzt auch keine Zukunft mehr für ihn. Wie hatte ich das nur hoffen können.


    Ich stehe neben dem Eisernen Steg, auf der anderen Seite ist der sichere Markt. Der für Menschen. Ich bin nur Abschaum. Ich habe mir das Tuch in die Stirn gezogen. Überall sehe ich meine Brüder, meine Cousins. Aus allen Gesichtern schauen sie mir entgegen. Ich werde gesucht. Vielleicht nicht mehr so wie anfangs, aber immer noch. Schüsse, Sirenen, ein Mann rennt vorbei, streift mich …


    Schüsse aus nächster Nähe und mein Arm fängt an zu brennen. Ich schleppe mich in die Ecke hinter eine Bude, öffne die Tasche ein wenig. Er ist nicht verletzt, er schaut mich an, mit seinen großen Augen, er weint nicht.


    In zehn Tagen ist Weihnachten, doch wir werden tot sein. Mein kleiner Engel. Mein Arm tut so weh. Werde ich es schaffen bis zur Brücke? Keine Angst, wir springen zusammen.


    Menschenmassen drängen vorbei. Ich sitze hier geschützt durch die Wände eines Standes,. Ich muss noch warten. Ich kann mich jetzt nicht in die Menge stürzen. Plötzlich drängt sich eine Frau in die Ecke. In meine Ecke. Sie trägt einen teuren Mantel. Keine Tasche. Sie ist etwas älter als ich. Sie wäre wohl besser im sicheren Bereich geblieben, wenn es den jetzt überhaupt noch gibt.


    Sie schaut zu mir und während ich ängstlich mein Baby an mich presse, beugt sie sich zu mir und versucht mich zu beruhigen: „Haben Sie keine Angst. Hier ist es verhältnismäßig sicher, wenn es nicht mehr so voll ist, können wir über den Steg und ich rufe ein Taxi. Ich kann Sie mitnehmen.“ Sie schaut mich mitfühlend an.


    Ob ein Weihnachtsengel sie zu mir geschickt hat? Plötzlich weiß ich, was zu tun ist. Ich öffne die Tasche und zeige ihr meinen Sohn. Sie schaut ihn an und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Ich sehe, wie er sie anschaut und sein kleiner Mund sich zu einem Lächeln verzieht. Meine Oma sagte einmal zu mir, dass ganz kleine Kinder mehr sehen als wir. Jetzt weiß ich, dass sie Recht hatte.


    Ich drücke der überraschten Frau die Tasche in die Arme. „Da, nimm ihn, er ist jetzt dein Kind. Er wird sterben, wenn du ihn nicht nimmst.


    Überrascht hält sie ihn und versucht mich zurückzurufen, als ich mich in die Menge dränge. Sie folgt mir nicht. Wie auch, sie muss ihn jetzt schützen. Ich schaue zurück. Unsere Augen treffen sich kurz, bevor sie von der Masse verdeckt wird. Um ihren Kopf ist es heller, als hätte sie einen Heiligenschein.


    Ich lasse mich von der Menge treiben, da sehe ich eine Puppe am Boden. Fast zertreten. Es gelingt mir sie aufzuheben und während mein nutzloser linker Arm Wellen des Schmerzes durch meinen Körper pumpt, entdecke ich Sascha. Sascha arbeitet für Dr. Roukisch und ich weiß jetzt, dass er meinetwegen hier ist.


    Ich sehe, dass er mich ruft. Hören kann ich ihn nicht. Um mich herum Weinen und Geschrei. Ich haste vorwärts in der Menge, die ihn genauso behindert wie mich. Ich presse die Puppe an mich. Nicht mehr lange und er wird mich erreichen.


    Ich kämpfe mich verzweifelt durch die Massen. Nur noch ein paar Menschen sind zwischen uns, als ich zum Brückengeländer gelange. Es gibt keinen Ausweg. Auf seinem groben Gesicht zeichnet sich Triumpf ab. Noch 2 Schritte und ich schwinge mich über den kalten Stahl. Im letzten Moment fassen Hände nach mir. Während die Puppe im Wasser verschwindet, winde ich mich aus der Jacke. Das fassungslose Gesicht von Sascha, ist das Letzte, was ich sehe, bevor Kälte und Dunkelheit mich umfangen.

  • Eine flüchtige Begegnung- Weihnachtsmarkt Frankfurt 2029 - Fortsetzung


    Hannah:


    Sirenen ertönen, draußen, nicht hier. Hier ist es sicher. Wir sind inzwischen am anderen Ende des Weihnachtsmarktes. Plötzlich Schüsse in nächster Nähe und eine Durchsage: „Bitte verlassen sie umgehend den Platz.“ Sicherheitskontrollen, die Menschen drängen zum Ausgang. Angst macht sich breit. Ich höre etwas von einem Anschlag, von Toten. Ich verliere Ole. Die Masse schiebt mich mit sich. Ich bin wie in einem Strom, Menschen drücken gegeneinander. Schreie, Schüsse, Panik. Nach einiger Zeit gelingt es mir, an den Rand zu kommen. Meine Taschen habe ich verloren oder sie wurden mir aus den Händen gerissen. Mühsam schaffe ich es in die Ecke hinter einer Glühweinbude. Vor mir kauert, kaum zu sehen, eine junge Frau. Ängstlich presst sie eine Sporttasche vor ihre Brust. Ich weiß nicht warum, ich beuge mich zu ihr. „Haben Sie keine Angst.“ Sie schaut mich an, so verzweifelt…. „Hier ist es verhältnismäßig sicher, wenn es nicht mehr so voll ist, können wir über den Steg und ich rufe ein Taxi. Ich kann Sie mitnehmen.“ Warum verspreche ich ihr sowas, ich kenne mich selbst nicht wieder. Aber sie wirkt so verloren. Jetzt öffnet sie die Tasche und hält sie mir entgegen. Irritiert schaue ich, will sie mir etwas verkaufen? Nein, aus der Tasche schauen mich zwei Augen an. Zwei große blaue Augen und ich vergesse die Welt um mich herum. Ein Baby. Es fixiert mich, als würde es mich kennen und verzieht seinen kleinen Mund zu einem Lächeln. So ein liebes Gesicht. Mir kommen die Tränen.


    „Da“, sagt die junge Frau. „Da, nimm ihn, er ist jetzt dein Kind. Er wird sterben, wenn du ihn nicht nimmst.“ Sie drückt mir die Tasche in die Hand und ich sehe, dass ihr linker Arm leblos herunterhängt, während sie sich in die vorwärts hastende Menge quetscht.


    „Warte!“, rufe ich ihr nach. Doch sie wird schon im Pulk weitergeschoben. Ich bleibe hier. Gepresst in diese schützende Nische, im Arm die Tasche. Ich kann nicht hinterher. Der Kleine würde zerdrückt werden. Ich werde hier warten, bis es ruhiger wird. Ich schreibe Ole auf dem Phone schnell eine Nachricht.


    Ich sollte ihn abgeben, bei der Polizei, im Krankenhaus oder wo auch immer. Vielleicht hat sie ihn gestohlen. Doch irgendwie weiß ich, dass es ihr Kind war.


    Ich denke, ich werde ihn mit nach Hause nehmen. Ole wird erst dagegen sein, aber irgendwie werde ich es schaffen, ihn zu überzeugen. Falls er illegal bei ihr war, werde ich das in den nächsten Tagen erfahren. Der Kleine lächelt mich an. Ich denke, er weiß schon, dass uns nichts mehr trennen kann. Ole muss wohl ein paar Gefallen einfordern und billig wird es nicht werden, ihn zu legalisieren. Aber keine Sorge mein Kleiner, Mama schafft das.




    2 Wochen später: Pressemitteilung


    Der Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt vom 14.12.2029 ist aufgeklärt.
    Die Täter gehören zwei rivalisierenden Gruppierungen an.
    Das Verbrechen forderte 58 Menschenleben. Besonders tragisch ist der Tod einer jungen Mutter, die mit ihrem Kind, infolge der Massenpanik über das Brückengeländer stürzte.


    Die nicht identifizierte junge Frau, scheint erst vor kurzem entbunden zu haben. Zeugen haben gesehen, dass sie mit einem Baby gesprungen ist.
    Das Kind wurde nicht gefunden.


    Hauptkommissar M. Merten/ Polizeipräsidium/ Abteilung Staatsschutz

  • 13. Dezember 2013 von beowulf



    Kaltes Herz


    Oh nein, jetzt hat es ihn erwischt, wie jedes Jahr hat er sich massiv bemüht, Musik aus dem Radio, auf Weihnachtsmärkten, oder im Fernsehen aus dem Weg zu gehen. Doch nun, war es schließlich soweit, Freitag, der 13. 12. heute ist es passiert, Papa Noel hatte ihn eingeholt, Wham aus allen Kanälen, Weihnachten stand vor der Tür. Weihnachte, das Fest der Liebe und Familie, die Tage der Einsamkeit und der höchsten Selbstmordrate im Jahr. Er musste sich damit auseinandersetzten was nun zu tun war. Wie bei Herrn Jauch überlegte er Alternativen, a: er besuchte seine Eltern im Pflegeheim, b: eine Reise ins hinterste Niemandsland, c: ein Besuch in einer Kneipe um sich den Kopf voll zu dröhnen, d: ein Abend mit einem Buch und einer CD mit Rockmusik.


    Wie wir jetzt schon bemerken haben wir es mit einem Mann zu tun, der keine Familie sein Eigen nennt, in der er weihnachtliche Gefühle oder Rituale verarbeiten kann. Keine Kinder die zwischen den Füßen herumwuseln, keine Ehefrau die ihn mit zu Wempe schleppt.


    Alternative A war wenig Sinnvoll, die Eltern hatten leider nicht nur die Schrecken des Krieges den sie überlebt hatten, sondern auch ihn schon längst vergessen. Sie dämmerten in ihrer Krankheit vor sich hin, ohne jede Sorgen, ohne jede Belastung, aber wer wusste das schon ganz genau. Nur das sie ihn nicht erkennen würden und das er deshalb auch mit Ihnen nichts erleben würde, dass das emotionale Defizit in ihm beseitigen würde. Alternative B kam eigentlich auch nicht in Betracht, da seine durchaus ordentlichen Einkünfte, durch die nicht unerheblichen Zahlungen an das Pflegeheim, keine allzugroßen Sprünge zuließen, jedenfalls nichts wirklich komfortables, weihnachtsfreies am Ende der Welt. Alternative C war eigentlich auch nichts für ihn, Mineralwassertrinker der er war, mit Verantwortung, einer der Alkohol mied wie die Pest.


    Nun gut so ganz stimmte das nicht das er keine Familie hatte, einmal die Woche ging er auf den Friedhof und besuchte den Grabstein seiner Frau, und den zwei Kindern, die an Ostern, am Tag der Wiederauferstehung des Herrn, einem Herrn begegnet waren, der meinte, das ein paar Cognaceier doch nicht das Ende der Welt für ihn bedeuten. Recht hatte der, er saß bloß sechs Wochen im Rollstuhl und joggte jetzt schon wieder fröhlich durch die Gegend, seine Familie aber, im Kleinwagen der Frau unterwegs, die war ausgelöscht, einfach weg, irgendwie da in der kalten Erde, die um diese Jahreszeit so kalt war wie sein Herz seitdem. Und Alternative D, das machte er so gut wie jeden Tag, damit kann man Weihnachten nicht aus dem Wege gehen.


    Herr Jauch half also auch nicht weiter, es musste eine andere Lösung geben die Feiertage von Weihnachten zu Überleben, ja vielleicht sogar etwas zu tun, das half die Leere zu beseitigen und das ihm half weiterzuleben noch ein Jahr, bis zum nächsten Weihnachten, zur nächsten Leere. Und so stiefelte er durch die Dunkelheit, die Dunkelheit nicht nur des beginnenden Abends, der werdenden Nacht, auch durch die Dunkelheit seiner Gedanken. Einen Moment überlegte er ob er den zur Christmette in die Kirche gehen solle, aber die anderthalb Stunden alleine mit lauterer fröhlichen Kindern um ihn herum würde er nicht ertragen, seit diesem Ostermorgen der Wiederauferstehung der ihn seine Familie genommen hatte, war ihm nach Kirche und Gott nicht mehr allzu viel, war ihm das vergangen. Sein Leid hatte alles ertränkt, was mit den Bildern seiner eigenen Jugend zu tun hatte und mit dem Leuchten in den Augen seiner Kinder.


    Als er so durch die Stadt schlenderte kam der Gedanke etwas Bargeld zu holen und dort bei der Bank im Vorraum unter dem Kassenautomat, an dem er auf sein, wenn auch bescheidenes Vermögen zugreifen wollte, da lag einer in einem alten Armeeschlafsack, einen dreckigen Rucksack an dem Körper gepresst. Da lag einer, dem, wie er erkannte, dem ging es noch viel, viel schlechter als ihm. Nicht dass ihn das erfreute, aber er registrierte in seiner eigenen Dunkelheit wie gut es ihm ging, mit seiner Geldkarte an einem Geldautomat mit einem gefülltem Konto, mit einem warmen großen Haus und mit einem schönen Auto in seiner Garage. Mit allem ausgestattet was sein Herz begehrte, auch wenn sein Herz begehren längst verlernt hatte.


    Da erkannte er, dass er mit seinen Gedanken im Dunkeln sich verirrt hatte, es ging ihm auf was er tun konnte, ja mit einem Mal sogar tun wollte. Dass es Quatsch war für sich nach Weihnachten zu suchen. Die Lösung war einfach, nicht zu nehmen, zu konsumieren, sondern Weihnachten zu geben. Und so bereitete er ein Fest vor, er öffnete er sein Haus an Weihnachten, lud ein zu Speis und Trank alle die da mühselig und beladen waren, er gab ihnen ein Licht, er gab ihnen Wärme und er gab ihnen unter dem Weihnachtsbaum ein paar Kleinigkeiten, die ein Leuchten in die Augen der Verlorenen und Einsamen zauberten.


    Das was er vermisst hatte, sich selbst und seine emotionale Wärme fand er nicht weil jemand ihm sie anbot. Nicht im Suchen, im Tun lag die Lösung für sein kaltes Herz.

  • 14. Dezember 2013 von Idgie



    Träume


    *Fiiep* Im Hausflur ist es dunkel. Der Bewegungsmelder für die Treppenhausbeleuchtung liegt mittig über der langen Reihe der Briefkästen und springt erst an, wenn man die beiden Stufen hinter der Haustür passiert hat. Eine der Glanzleistungen der Hausverwaltung, aber Luise ärgert sich schon längst nicht mehr darüber *fiiiep* Mühsam zieht sie ihren Einkaufstrolley die beiden Stufen hoch. Im ersten Moment glaubt sie, das Geräusch käme von den Rädern ihres Wägelchens. Sie bleibt stehen, um kurz zu verschnaufen. Mit fast 70 fällt ihr der Weg zum Supermarkt nicht mehr ganz so leicht wie früher. Da hört sie es wieder. *fiiiiep* Der Einkaufstrolley steht unschuldig und völlig stumm neben ihr. Als Luise sich umdreht, um den Wagen zu Ihrer Wohnungstür im Hochparterre zu schieben, geht endlich die Treppenhausbeleuchtung an. Auf der Fußmatte vor ihrer Haustür hockt ein kleiner zerzauster Mischling und guckt sie mit seinen großen Hundeaugen treuherzig an. Der hatte ihr gerade noch gefehlt! In ihrer Wohnung ist kein Platz für so einen verlausten Streuner. Energisch scheucht sie den Hund auf die Straße bevor sie die Wohnungstür aufschießt.


    In der kleinen Wohnung wartet niemand auf sie. Sie schält sich aus Mantel und Schuhen, schlüpft in ihre Pantoffeln und zieht den Trolley in die Küche um die Einkäufe in Schränke und Schubladen zu räumen. Viel ist es nicht, was sie zum Leben braucht. Seit dem Tod ihres Mannes vor 12 Jahren lebt sie allein in der Wohnung. Sie hat sich ans Alleinsein schon lange gewöhnt. Eigentlich war sie auch in ihrer Ehe seit langem allein. Irgendwann war die Zweisamkeit zerbrochen. Übrig geblieben waren erst Enttäuschung, dann Verbitterung und am Ende Resignation. Während sie Milch, Wurst und Käse im Kühlschrank verstaut, schweifen ihre Gedanken in die Vergangenheit ab.


    Als Erich und sie geheiratet hatten, waren sie glücklich und voller Pläne. Sie waren verliebt und es schien keinen Zweifel daran zu geben, dass ihr Leben anders, als zauberhaft verlaufen könnte. Zu ihren Vorstellungen vom Glück gehörten 2 Kinder, ein kleines Häuschen im Grünen und vielleicht, wenn die Kinder etwas größer wären auch ein Urlaub am Strand von Rimini. Am Anfang würde sie noch mitarbeiten und ihren Teil zum Haushaltseinkommen beitragen. Im kleinen Lebensmittelladen in ihrer Heimatstadt hatte sie ihren Beruf als Einzelhandelsverkäuferin gelernt und immer viel Spaß daran gehabt, die Kunden zu bedienen. Als sie Erich kennenlernte, war sie schon im neugebauten Supermarkt angestellt und auch dort war sie Verkäuferin mit Leib und Seele. Wenn aber erst mal Kinder da wären, würde sie sich ganz ihrer Familie widmen. Erich würde als Handwerker auf dem Bau genug verdienen und durch seine Fähigkeiten und Kontakte würden sie es auch bald zu einem kleinen Häuschen bringen.


    Aber so nach und nach zerplatzten ihre Träume wie Seifenblasen. Die ersehnten Kinder wollten einfach nicht kommen. Anfangs war sie noch geduldig und glaubte, es würde bei ihnen einfach ein bisschen länger dauern. Als sie nach 3 Jahren endlich schwanger wurde, konnte sie ihr Glück kaum fassen, bevor es schon wieder zerbrach. Sie verlor das Kind nach wenigen Wochen. Erich versuchte, sie zu trösten so gut er konnte, aber in Luise regten sich erste Zweifel und ein Jahr später, nach der zweiten Fehlgeburt, hatte sie das Gefühl, versagt zu haben. Sie fühlte sich wertlos, so unfähig, einem Kind das Leben zu schenken, hatte es nicht verdient, geliebt zu werden und kapselte sich mehr und mehr von allem ab, auch von Erich. Sie ging noch arbeiten, aber nicht mehr mit dem Elan und der Freude an ihrem Beruf, wie früher.


    Dann ging es wie in einer Spirale weiter bergab. Erich hatte auf dem Bau einen Arbeitsunfall, der Traum von der Stelle als Polier war ausgeträumt. Bald darauf verlor er seine Arbeit und die Jobs, die er danach ergatterte, waren deutlich schlechter bezahlt. Sie kamen über die Runden, aber das Häuschen rückte in weite Ferne. So, wie sie durch die Kinderlosigkeit, verlor Erich durch seine Erkrankung langsam seinen Lebensmut. Unbemerkt und schleichend zog die Bitterkeit in ihre kleine Wohnung ein, lag auf jedem von ihnen wie ein bleischwerer Mantel. Sie gingen nicht mehr gemeinsam, sondern jeder für sich allein durchs Leben. Als Erich starb, war das für Luise eine weitere Bestätigung, dass ihr im Leben nichts vergönnt war. Als Rentnerin verlor sie die letzten Kontakte zu Kollegen und Stammkunden und ihre Mitbewohner kannte sie kaum. Ihre Fenster waren die einzigen im Haus, die in der heimeligen Adventszeit dunkel blieben. Wozu sollte sie sie auch schmücken. Es war ja niemand da, der sich darüber freute. Heiligabend würde sie früh schlafen gehen und die Weihnachtsfeiertage schon irgendwie rumkriegen. In dieser Nacht träumt sie sich noch einmal in eine glücklichere Vergangenheit.


    Als Luise am nächsten Morgen erwacht, ist es draußen noch dunkel. Sie schiebt zwei Scheiben Toast in den Toaster, setzt Kaffee auf und schaltet das Radio an, um die Stille zu vertreiben. Als sie die Wohnungstür öffnet, um die Zeitung herein zu holen, stolpert sie beinahe über den Straßenköter von gestern, der sich auf ihrer Fußmatte zusammengerollt hat. Er muss mit der Zeitungsbotin hereingekommen sein. Während sie noch überlegt, wie sie ihn rausjagen kann, schlüpft er an ihr vorbei in die Wohnung. In der Küche legt er sich neben ihren Stuhl, als wäre das die größte Selbstverständlichkeit und sieht sie leise fiepend an. Liegt es an dem Traum der letzten Nacht, dass sich auf Luises Gesicht ganz langsam ein zartes Lächeln schleicht?

  • 15. Dezember 2013 von Johanna



    Weihnachten in der Ferne


    Wieder einmal nahte Weihnachten in schnellen Schritten und für sie wurde es Zeit, die Koffer zu packen.
    Schon seit langem konnte sie dem Fest mit all seinen gezwungenen Äußerlichkeiten nichts mehr abgewinnen.


    Dieses stressige einkaufen, Geschenken, die sowieso niemandem gefielen, hinterherjagen.
    Dem Trubel und die völlig überfüllten Einkaufszentren. Menschen, die aneinander vorbeihasteten – gestresst, hektisch und unfreundlich. Um die teuersten und tollsten Geschenke wetteiferten.
    Sich dann pro forma einmal im Jahr als Familie trafen und stritten, wie sonst zu keiner Jahreszeit.


    Nein, dem hatte sie schon seit langem abgeschworen und floh regelmäßig am 23. Dezember in den Süden.
    Was sollte sie auch hier, alleine. Den Heiligen Abend trostlos und einsam in ihrer Wohnung verbringen?
    Nein, dann doch lieber weg. Weit weg. In die Sonne, Wärme und Gefilde, die möglichst wenig mit der winterlichen Stimmung zu Hause gemeinsam hatte.
    Bisher hatte das auch immer gut funktioniert.


    Seit Fünf Jahren nun, seit dem letzten gemeinsamen Weihnachten mit ihrem Mann. Kurz danach war er gestorben. Einfach so, ganz plötzlich an einem Herzinfarkt.
    Seitdem konnte sie Weihnachten nicht mehr ertragen. Es machte sie jedes Jahr aufs Neue darauf aufmerksam, welchen Verlust sie erlitten hatte.


    Im Alltag hatte sie es geschafft, halbwegs darüber hinwegzukommen. Stürzte sich in ihre Arbeit, die sie ausfüllte und ihr geholfen hatte, sich das Leben wieder aufzubauen. Auch allein wunderbar klarzukommen.
    Aber ausgerechnet zu der Zeit, in der alle so harmonisch miteinander taten, überall nur Friede, Freude, Einigkeit zu herrschen schien, da überkam sie ihre Trauer immer wieder mit Wucht.


    So also hatte sie sich, so wie die letzten Jahre, entschieden, auch dieses Jahr wieder Weihnachten in den Flieger zu steigen und der Heimat für zehn friedvolle Tage den Rücken zu kehren.


    Am 23. Dezember fuhr sie mit gepacktem Koffer an den Flughafen. Das Taxi hatte zwar schon leichte Probleme gehabt, sich durch die langsam ansteigenden Schneemassen, die vom Himmel fielen, hin durchzukämpfen, kam aber noch pünktlich an den Flughafen.
    Kaum war sie durch die Abfertigungshalle, schon erschienen auf den Anzeigetafeln die Verspätungsanzeigen.
    Ausgerechnet ihr Flugzeug sollte sich verspäten.


    Durch die immer stärker werdenden Schneemengen hatten die Flughafenbediensteten Probleme, die Flugzeuge zu enteisen.
    Nachdem sich das ganze schon eine Stunde hinzog, die immer unruhiger werdenden Passagiere entnervter wurden, kam dann eine freundliche Mitarbeiterin des Bodenpersonals und brachte einen großen Topf Glühwein in die Wartehalle.
    Langsam wurde die Stimmung etwas gelöster. Die Passagiere guckten nicht mehr ganz so unfreundlich.


    Auch die Mitteilung eine Stunde später, daß der Flug gestrichen sei und das Flugzeug erst am morgigen Tag würde fliegen können, schienen die Menschen schon etwas gelassener zu sehen.
    Das Personal brachte Decken, Luftmatratzen und etwas Eßbares in die Halle, um den Passagieren, das überdauern bis zum nächsten Morgen zu erleichtern.


    Nach einer unruhigen Nacht so mitten unter vielen fremden Menschen in einer Halle, spürte sie morgens doch eine leichte Müdigkeit und Erschöpfung.
    Immerhin machte das Flughafenpersonal dieses durch ein kleines Frühstück etwas wett.


    Das Warten begann erneut, bis dann gegen Mittag des 24. Dezember die ernüchternde Mitteilung kam, daß bis auf weiteres der Flugverkehr leider eingestellt werden müsse, da sich der Schnee in einen regelrechten Schneesturm verwandelt hätte.
    Ihre Enttäuschung war riesig, da sie nun nicht wegkonnte und wohl gezwungen sein würde, den Heiligen Abend nun doch allein zu Hause zu verbringen.


    Viele der Fluggäste murrten und konnten ihren Ärger nicht verbergen, die Stimmung schien in der gesamten Abflughalle immer gereizter und schlechter zu werden, bis die Türe der Halle sich öffnete und der Direktor des Flughafens vor die Gruppe der Wartenden trat und ihnen mitteilte, daß die gesamte Crew den Vorfall sehr bedauere, es ihnen unendlich leid tue, sie aber ja leider nichts gegen die Naturgewalten ausrichten könnten.


    „Aber“, setzte der Direktor an: “damit für Sie der heutige besondere Abend nicht ganz so traurig und ohne Urlaubsgefühle ablaufen soll, haben wir uns entschlossen, Ihnen neben der selbstverständlichen Rückerstattung der Reisekosten einen Abend auf Kosten des Flughafens zu organisieren.
    Wir haben einen gemütlichen Raum neben der Abflughalle zur Verfügung gestellt, diesen geschmückt und laden sie ein, den Abend hier zu verbringen und gemeinsam zu feiern.
    Für ein ordentliches Weihnachtsmenu wird natürlich ebenfalls gesorgt sein.“


    Die Stimmung besserte sich deutlich und die meisten der Fluggäste wollten auf das freundliche Angebot eingehen.
    Sie dachte sich:“Was solls, besser, als den heutigen Abend alleine auf der Couch zu verbringen“
    Entschied sich, das Angebot anzunehmen und folgte den anderen Gästen in den bereits vorbreiteten Raum.


    Das Personal hatte sich wirklich Mühe gegeben, den Raum wunderbar hergerichtet, sogar für einen kleinen Weihnachtsbaum gesorgt.
    Als dann ein weihnachtlich gedeckter Tisch mit Kuchen, Keksen, Stollen, sogar dem obligatorischen Glühwein, von den Gästen entdeckt wurde, stieg die Stimmung der meisten noch weiter.
    Sie merkte, wie sie sich langsam entspannte, der Ärger über die verpasste „Flucht“ sich langsam aufzulösen begann.
    Ihre Laune wurde stündlich besser und als dann gegen Abend ein festliches Menu aufgetischt wurde, die Gäste alle nicht mehr ganz nüchtern waren, sich miteinander unterhielten, kennenlernten und auch begannen, miteinander zu lachen, fühlte sie sich auf einmal wohl.
    Sie genoß es geradezu, unter den vielen fremden Menschen zu sein, die langsam immer weniger fremd für sie wurden, einige nahezu richtig sympathisch.


    Als der Abend sich der Nacht zuneigte, sie dann endlich nach Hause kam, fühlte sie sich plötzlich überhaupt nicht mehr einsam und allein…

  • 16. Dezember 2013 von Heike



    History Error


    „Scheiße.“


    Sein Kommunikator rauschte, dann hörte er Bens verzerrte Stimme. „Was ist? Ist was schiefgelaufen?“


    „Das kann man wohl so sagen.“ Chris hielt die Hand vor das Mikrophon und warf einen verstohlenen Blick hinüber zu den Kamelen. Zum Glück verbargen ihn die Büsche, die einzigen, die es hier weit und breit zu geben schien. Vermutlich hatte sich der Kerl deshalb ausgerechnet hier die Stelle zum Pinkeln ausgesucht. „Ich glaube, ich habe einen der Könige erschlagen.“


    „Du hast ... Was für ein König?“


    „Das weiß ich nicht. Ich konnte die noch nie unterscheiden.“ Chris ging neben dem gefällten Weisen in die Knie und legte die Finger prüfend an die Halsschlagader. Eindeutig tot. Vermutlich hatte es ihm das Genick gebrochen, als sich Chris unmittelbar über ihm materialisiert hatte. Chris fluchte leise. In dieser ganzen verfluchten Wüste trieb sich vermutlich niemand herum außer diesen drei Typen mit ihren Kamelen, die einem Stern nachliefen. Wenigstens trug der Tote einen Kaftan, sodass ihm die Peinlichkeit erspart blieb, mit heruntergelassener Hose umzukommen.


    „Chris?“ Der Kommunikator brummte und rauschte erneut. „Chris, der Boss will mit dir sprechen. Bleib dran, ja?“


    Na klar, was blieb ihm auch anderes übrig. Chris fluchte erneut, dieses Mal stumm, denn der Boss mochte es nicht, wenn man fluchte. Worauf hatte er sich mit diesen Kirchenfritzen nur eingelassen.


    „Signore Carter?“ Die Stimme des Boss‘ klang durch den Kommunikator noch schriller und unangenehmer als sonst. „Sagen Sie mir jetzt genau, wen haben Sie da erschlagen?“


    Chris beugte sich über den Toten, um das Tuch mit den eingewobenen Goldfädchen, das das Gesicht zur Hälfte verdeckte, ein wenig zur Seite zu ziehen. „Ich glaube, das ist der Greis. Hat nen weißen Bart.“


    „Melchior.“ Der Boss machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr: „Hören Sie zu, Signore Carter. Sie ziehen sich jetzt die Kleidung über und schließen sich den anderen beiden an. Sprechen Sie kein Wort, verstanden? Sie melden sich wieder, sobald sie am Stall sind.“


    „Ja, aber ...“, begann Chris, verstummte dann, als erneut Bens Stimme aus dem Kommunikator erklang.


    „Der Boss hat recht. Stell dir vor, was passiert, wenn da plötzlich nur zwei Könige vor der Krippe stehen.“ Selbst durch das Rauschen hindurch konnte Chris hören, dass Ben gerade etwas im Mund hatte. Wahrscheinlich Thunfischpizza. „Ich gehe jetzt off. Im Notfall weißt du ja, was zu tun ist, hm?“


    Chris schaltete das Gerät aus und machte sich daran, den Toten aus seinen Gewändern zu schälen. Natürlich wusste er, was zu tun war. Ben und er waren ein Team. Batman und Robin. Frodo und Samweis. Kreuz Ass und Karo Sieben. Gemeinsam hatten sie „History Error“ aufgebaut und boten ihre Dienste nun jedem an, der in der Vergangenheit ein paar Dinge aufzuräumen hatte. Ben hatte die Zeitmaschine entwickelt, und er, Chris, der ehemalige Marine und Einzelkämpfer, kümmerte sich um den Rest. Das Geschäft lief gut, es gab überraschend viele Kunden, die die Geschichte ein wenig gerade gebügelt wünschten. Sie arbeiteten schnell, sauber und diskret. Wären sie 1974 bereits auf dem Markt gewesen, hätte sich Nixon um den Watergate-Skandal keine Sorgen machen müssen. Und Ben Affleck wäre niemals als Batman im Gespräch gewesen.


    Dieses Mal waren sie im Auftrag eines dubiosen Kunden unterwegs. Nicht, dass irgendeiner ihrer Kunden nicht dubios gewesen wäre, aber dieser hier tat besonders mysteriös. Ben und Chris waren sich einig, dass es sich um einen wichtigen Kirchenmann handeln musste. Soweit sie verstanden hatten, hatten der „Boss“ und seine Freunde Probleme mit einem uralten Dokument, das kürzlich aufgetaucht war. Das sollten sie gerade rücken. Genauere Anweisungen würde er ihnen geben, sobald Chris vor Ort war.


    Die beiden anderen Könige schienen daran gewöhnt, dass Melchior nicht sprach. Sie redeten zu Chris Erleichterung ohnehin nicht viel, denn er hätte nicht einmal gewusst, auf welche Sprache er seinen Simulator hätte einstellen sollen. So ließ er sein Kamel schweigend hinter den anderen her trotten, dem Stern nach, der sie kurz und quer durch die Wüste führte. Chris spielte mit dem Gedanken, den beiden zu verraten, wo es hingehen sollte, und ihnen zu empfehlen, nicht den König Herodes aufzusuchen, aber er hielt seinen Mund. Es war nicht gut, wenn er allzu leichtfertig die Vergangenheit manipulierte, und der Boss machte nicht den Eindruck, als verstünde er sonderlich viel Spaß. Vermutlich brauchte die Kirche dieses frühe Massaker für ihr Selbstbild. So ein Verfolgungsmythos machte sich immer gut.


    Endlich erreichten sie den Stall. Eine unscheinbare Bruchbude, über dem ein heiliger Lichtschein stand wie eine Leuchtstrahler-Discoreklame. Chris ließ die anderen beiden Könige vortreten und blieb ein wenig zurück, um den Kommunikator wieder anzustellen.


    „Signore Carter?“, tönte die Stimme des Boss sogleich aus dem Rauschen. „Sind Sie da?“


    „Gerade angekommen.“ Chris sprach leise. Er ignorierte den fragenden Blick eines Hirtenjungens, der mit seinem Vieh vor dem Stall hockte. Unwahrscheinlich, dass der Englisch verstehen konnte. „Sagen Sie mir jetzt, was ich tun soll.“


    „Gehen Sie jetzt hinein“, befahl der Boss. „Und sagen Sie mir, was Sie sehen.“


    Chris betrat den Stall und warf einen Blick über die beiden kniende Könige zu der wohlbekannten Szene mit Maria und Josef, dem Ochs und dem Esel und dem Jes... Chris schnappte japsend nach Luft und ließ sich auf die Knie fallen, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.


    „Da sind zwei Kinder! Zwillinge.“


    Einen Moment, der ihm wie eine Ewigkeit erschien, blieb der Kommunikator stumm. Dann hörte er erneut die Stimme des Boss.


    „Holen Sie sich das zweite Kind. Egal wie.“


    „Egal wie“ mochte Chris am liebsten. Er war Profi genug, um von einem Moment zum anderen umzuschalten. Ohne einen Augenblick zu zögern stieß er die vor ihm knieenden Könige beiseite und riss wahllos eins der Kinder aus der Krippe. Marie schrie auf, Josef brüllte etwas, ebenso der Esel, aber Chris war bereits wieder draußen und rannte davon. Sie würden ihn nicht einholen. Ehe sie sich von ihrem Schrecken erholt hatten, hatte er seinen Auftrag erfüllt und war zurück in der Gegenwart.


    Er frohlockte. „Boss? Ich hab das Kind. Ben kann mich jetzt zurückholen.“


    „Nein“, klang es aus dem Kommunikator. Die Stimme klang aufgeregt. „Töten Sie zuerst das Kind.“


    „Was?“ Chris blieb abrupt stehen, blinzelte perplex in die Dunkelheit über den nächtlichen Feldern. Ein Kind töten? Er hatte noch nie ein Kind getötet. „Aber ...“


    „Töten Sie es, und dann können Sie zurückkehren.“ Er meinte, ein Lachen zu hören. „Oder haben Sie schon einmal von einem zweiten Messias gehört? Nicht? Wir auch nicht. Bringen Sie es zu Ende, ehe es unnötige Verwirrung gibt.“


    Ein kurzes Rauschen im Kommunikator, dann war Stille.


    Chris stand wie angewurzelt. Dann brüllte er in das Mikrophon. „Ben? Hörst du mich?“


    „He, natürlich höre ich dich, Mann.“


    „Ist er noch da?“


    „Nein, der ist gerade raus. Holt wohl das Geld.“


    Chris atmete tief durch. „Das kann ich nicht machen, Ben. Ich kann doch kein Kind töten.“


    „Joah.“ Schweigen. „Und jetzt?“


    „Wir müssen es fortschaffen.“


    „Und das Geld?“


    „Scheiß auf das Geld. Ich töte kein kleines Kind. Schick mich irgendwohin, wo es in Sicherheit ist.“


    „Ist das jetzt wirklich Jesus’ Bruder? Also Gottes Sohn?“


    „Ich glaube schon.“


    Wieder Schweigen. Dann hörte er Bens Stimme mit kaum verhaltenem Enthusiasmus: „Weißt du eigentlich, dass das verdammt gut für’s Karma ist, Mann? Jesus‘ Zwilling retten! Dafür müssen andere hundert Mal auf ihrem Hintern nach Santiago di Compostella rutschen.“


    „Aber wohin?“ Chris überlegte fieberhaft. „Nicht in unsere Zeit, das wäre zu auffällig. Hast du ne Idee?“


    „Ne.“ Es knisterte im Kommunikator. „Du weißt doch, von sowas hab ich keine Ahnung.“ Ein Strohhalmschlürfen, offenbar hatte sich Ben wieder ein Menü liefern lassen. „Ich könnte würfeln.“


    „Und am Ende lande ich bei den Hunnen. Nein, lass mal. Nimm was mit ... 1800. Ja, 1800 ist gut. Aufklärung und so. 1809 vielleicht ... England. Da haben die Kirchenheinis wenig zu melden. Irgendein unauffälliges Datum.“


    „Geht klar.“ Ben rülpste. „Dann halt dich mal gut fest, geht gleich los.“


    __________


    Eine halbe Stunde später saß Chris wieder im Labor. Natürlich hatten sie dem Boss nicht erzählt, was sie mit dem Kind gemacht hatten. Er hatte nicht gefragt, sondern ihnen lediglich den Umschlag mit den dicken Scheinen ausgehändigt, wie sie es vereinbart hatten. „History Error“ hatte wieder einmal einen Kunden vollends zufriedengestellt.


    Als er endlich gegangen war, erkundigte sich Chris, welche Koordinaten Ben nun eingegeben hatte.


    „12. Februar“, grinste der Techniker stolz. „Unauffälliger geht’s nicht mehr. Und halt dich fest, ich habe da doch ein Kaff gefunden, da denkt im Leben keiner dran. Shrewsbury an der Grenze zu Wales. Von dort aus kann der kleine Racker den Kirchenfritzen nun wirklich keinen Ärger machen.“


    Chris lachte und schnappte sich eine Dose von Bens billigem Bier. „Nein, ganz bestimmt nicht.“


    (Mit bestem Dank an Doc Hollywood für’s erfolgreiche Hirnstürmen :-))

  • 17. Dezember 2013 von Rumpelstilzchen



    Der Weihnachtskaktus

    Kennen Sie den Weihnachtskaktus? Es handelt sich um eine Pflanze mit vielen reich verzweigten Trieben, flach zusammengedrückt wie Kettenglieder. An den Enden dieser Triebe trägt die Pflanze auffallende, längliche Blüten, die hierzulande zur Weihnachtszeit erscheinen, daher der volkstümliche Name.


    Ich konnte diesen Kaktus noch nie leiden. Meine Tante Hedwig dagegen liebte Weihnachtskakteen. Sie mussten leuchtend rot sein. Eine Adventszeit ohne Weihnachtskaktus war völlig undenkbar.


    Diese Geschichte spielt vor etlichen Jahren an einem 17. Dezember. Das Wetter war grässlich, es regnete und stürmte bei 13 Grad, von weihnachtlicher Stimmung war nichts zu spüren und die meisten Menschen rannten mit hochgeschlagenen Mantelkrägen und schräg gehaltenen Regenschirmen eilig durch die Straßen.


    Wie jedes Jahr um diese Zeit besuchte ich meine Tante Hedwig, die damals schon in einem von katholischen Ordensfrauen geführten Altersheim in einem hessischen Dörfchen lebte.


    Ich hielt am ortsansässigen Blumenladen an, kaufte dort den üppigsten rot blühenden Weihnachtskaktus, der zu finden war und zusätzlich zwei lange Rollen Geschenkpapier mit Weihnachtsmotiven. Die Tante hatte ausdrücklich darum gebeten und obwohl ich mich wunderte, was sie wohl mit solchen Mengen an Geschenkpapier anfangen wollte, brachte ich ihr das Gewünschte gerne mit.


    Auf dem kurzen Weg zum Altenheim kam ich an der Sparkassenfiliale vorbei. Damals gab es noch eine in jedem Dorf, meist mit einer einzigen Angestellten und ohne besondere Sicherheitsmaßnahmen. Mein letztes Bargeld hatte ich im Blumenladen ausgegeben und ich wollte die Gelegenheit nutzen, das nötige Geld für die kommende Woche abzuheben. Geldautomaten waren hierzulande noch völlig unbekannt.


    Die Filiale war winzig. Bei mehr als drei Kunden, musste der nächste draußen vor der Tür warten, sonst hätte man sich gegenseitig auf die Füße getreten. Ich hatte Glück. Nur eine einzige Kundin stand am Bedienungstresen und bei der handelte es sich um Schwester Veronika, die häufig für bettlägerige Patienten das Taschengeld abhob. Sie war selbst längst im Rentenalter und vermutlich älter als viele ihrer Schutzbefohlenen. Sie war sehr klein, rund, ihr Gesicht voller Lachfalten und ihre knallroten Wangen bildeten einen hübschen Kontrast zu ihrem strengen grauen Ordensschleier. Meist summte sie vergnügt vor sich hin, am liebsten natürlich fromme Kirchenlieder.


    Schwester Veronika war herzensgut und dabei ein wenig schreckhaft, alles Unvorhergesehene brachte sie völlig aus der Fassung. Ich begrüßte sie erfreut und sie drehte sich zu mir, um mit mir über die Neuigkeiten aus dem Heim zu plaudern. Plötzlich weiteten sich ihre Augen vor Schreck, sie flüsterte ein kaum hörbares „Oh“ und ich drehte mich nach links zur Tür hinter mir, um den Grund für ihr Erschrecken herauszufinden.


    Durch die geöffnete Tür war eine mit einer Skimütze maskierte Gestalt getreten. „Das ist ein Überfall, dreht alle die Gesichter zur Wand, aber schnell“, zischte der Unbekannte. Ich war noch in meiner Drehung nach links begriffen, als Schwester Veronika erschreckt zusammenzuckte und sich gehorsam zur Wand umdrehte, dabei aber mit ihrem Schleier an den Geschenkpapierrollen, die ich unter den rechten Arm geklemmt hatte, hängenblieb.


    Sie stolperte, konnte sich nicht mehr halten und stieß mit dem Kopf gegen meinen linken Ellbogen, wodurch ich den Weihnachtskaktus, den ich noch immer in der Hand gehalten hatte, dem Bankräuber gegen die Brust schleuderte, der dadurch einen länglichen Gegenstand auf den Boden fallen ließ. Ich versuchte, Schwester Veronika aufzufangen, verhedderte mich aber in den mittlerweile zu Boden gefallenen Geschenkpapierrollen und wir stürzten beide, uns in den Armen haltend und in den grauen Schleier gewickelt, direkt vor die Füße des Bankräubers. Um uns herum lagen die Trümmer des Blumentopfs, Blumenerde, und abgerissene Blüten und Triebe des Weihnachtskaktus.


    Der Bankräuber starrte einen Moment fassungslos auf das Durcheinander und wandte sich dann zur Flucht.


    Die wenige Minuten später eintreffende Polizei stellte fest, dass es sich bei dem zu Boden gefallenen länglichen Gegenstand um eine Spielzeugpistole handelte. Ob der Möchtegernbankräuber je gefasst wurde, kann ich nicht sagen.


    Glücklicherweise war außer dem zerstörten Weihnachtskaktus und einem Riss in Schwester Veronikas Ordensschleier kein bleibender Schaden entstanden. Selbst die beiden Rollen Geschenkpapier waren nur leicht zerknickt. Tante Hedwig verriet mir später, sie würden ohnehin nur als Requisiten für das Weihnachtsspiel benötigt, da käme es auf ein paar Knicke gar nicht an.


    Die Sparkasse ließ es sich nicht nehmen, Tante Hedwig einen riesigen Weihnachtskaktus zu verehren.


    Für mich brauchen Sie aber keinen Weihnachtskaktus mitzubringen. Ich kann diese Pflanze noch immer nicht ausstehen.

  • 18. Dezember 2013 von Voltaire



    Lemmy


    Anfang Dezember. Es ist windig und regnerisch.


    Aber es hilft nichts. Auch das letzte Laub muss zusammengekehrt werden. Schließlich soll der Rasen auch im Winter atmen.


    Eigentlich eine gute Gelegenheit sich die Kopfhörer in die Ohren zu stopfen und etwas Musik oder ein Hörbuch zu hören. Aber manchmal können eben auch die beste Musik oder das spannendste Hörbuch nicht die Lautstärke der eigenen Gedanken übertönen.


    Es war kein gutes Jahr.


    Eine Beziehung ging in die Brüche, der Krankenhausaufenthalt war auch nicht dazu angetan die Stimmung grundlegend zu verbessern, was weniger am Krankenhaus als an der Diagnose lag. Und die Kinder zeigten auch so gut wie kein Interesse mehr an ihrem Vater.


    Aber egal - alles keine Gründe sich jetzt nicht mit dem Laub zu beschäftigen.


    Nach etwa 10 Minuten eifrigen Kehrens bewegte sich etwas unter dem Laufhaufen und ein kleiner Igel kam unter den Blättern hervor. Eigentlich sollte der doch längst seinen Winterschlaf halten, aber um den Winter zu überstehen war er eh zu dünn.


    Der Igel zeigte keine Scheu, rollte sich nicht zusammen sondern beschnupperte das Leder meiner Arbeitsschuhe.


    Ich würde ihn wohl zum Überwintern mit ins Haus nehmen müssen.


    Vorsichtig nahm ich ihn auf den Arm und ich hatte den Eindruck, er würde sich bemühen mich mit seinen Stacheln nicht zu verletzen. Von wegen Igel seien scheue Tiere.


    Ich baute ihm im Haus ein Nest aus alten Zeitungen.


    Doch wie den kleinen Kerl ernähren.


    Google wusste auch hier Rat:


    „Igel dürfen niemals einseitig ernährt werden! Zur abwechslungsreichen Ernährung eignen sich als Grundnahrungsmittel:


    - Katzen- oder Hundedosenfutter
    - Eier (hartgekocht oder als Rührei)
    - Geflügelfleisch (gekocht)
    - Hackfleisch (kurz anbraten, so dass es durchgegart ist)


    Als darunter zu mischende „Ballaststoffe“ (zur guten Verdauung unerlässlich) eignen sich:


    - Weizenkleie
    - Haferflocken
    - Igeltrockenfutter“.


    Ich hatte ihm den Namen Lemmy gegeben. Und Lemmy war ein sehr aktiver Zeitgenosse. Den ganzen Tag war er im Haus unterwegs, war aber immer sofort zur Stelle wenn es Futter gab.

    Er benahm sich irgendwie „igel-untypisch“. Er ließ sich anfassen, schaut auf meinem Bauch sitzend zusammen mit mir Fernsehen und gab mir das Gefühl als könne er mich verstehen; denn ich redete viel mit ihm.


    Und dann kam der Heilige Abend.


    Mir war so gar nicht nach Weihnachten, es war der Tag an dem einem die Decke so richtig auf den Kopf fallen konnte.


    Um mich in die richtige Stimmung zu bringen – es dunkelte bereits – legte ich eine CD mit Weihnachtsliedern in den Player, was aber nur dazu führte, dass ich noch sentimentaler wurde.


    Lemmy war ganz ruhig, schaute mich aber an, als wollte er mir etwas sagen.


    Ja, und was dann kam ist wirklich so passiert. Ich habe es mir nicht eingebildet.


    Die Weihnachts-CD hatte ihren letzten Ton verbraucht, als Lemmy sein kleines Maul öffnete und ganz deutlich (ich hatte bis dato noch keinen Schluck Alkohol getrunken) und lapidar meinte:


    „Sag mal Alter, hast du echt nur diese Weihnachtsscheiße? Nichts von Motörhead oder Iron Maiden in deiner Sammlung?“


    Mein Mund klappte auf, mein Mund klappte wieder zu.


    „Du kannst reden?“ Es dauerte etwas, bis ich diesen Satz herausgestottert hatte.


    „Ja, wieso nicht?“ Lemmy schnuffelte vor sich hin.


    „Aber warum hast du denn bisher nichts gesagt? Und Tiere können doch gar nicht reden.“


    „Hast du eine Ahnung was Tiere alles können. Und außerdem hast du ja auch bisher immer ordentliche Sache in den Player gepackt und nicht einen solchen Müll wie heute. Da musste ich ja nichts sagen. Also, Alter – mach ne Flasche auf und ab geht die Lucy.“


    Und seit diesem Weihnachten feiern Lemmy und ich Weihnachten immer zusammen und wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann wird er dieses Jahr auch seine ganze Familie mitbringen.

  • 19. Dezember 2013 von imandra777



    Wintersturm


    Ein heftiger Windstoß fasst mich und ich musste mich gegen den Wind lehnen. Leicht taumelte ich ein paar Abschritte vorwärts. Der rote Klippenrand kam immer näher. Dann war die Böe auch schon wieder vorbei. Ich zog meine Kapuze etwas fester zu. Schließlich ließ ich meinen Blick wieder in den Himmel wandern. Die Möwen umkreisten den einzelnen Felsen noch immer. Aber auch sie spüren den kräftigen Wind, von dem sie immer wieder verweht werden. In Windpausen mussten sie sich mit Flügelschlägen wieder auf Kurs bringen. Langsam spürte ich wie die Kälte von meinen Füßen aus hochwanderte. Gegen die Kälte hatte ich mich schon fest eingepackt, aber die Polarluft, die der Sturm mit sich brachte, war viel kälter, als gedacht. Einige Momente verharrten meine Augen an dem Draht, der als Absperrung zum Klippenrand aufgestellt worden war. Würde er mich halten können, wenn eine Böe mich erneut nach vorne stoßen würde? Ich bezweifelte es. Ein Gedanke, der mich neben dem Eiswind, frösteln ließ. Unbarmherzig bahnte sich der Wind nun auch einen Weg durch meine Kleidung. Die aufgewühlte Nordsee schickte immer höhere Wellen aus, dich sich an den Tetrapoden der Nordwestmole brachen. Lautstark heulte der Wind um die Felsen und irgendwo knallte eine Fahne, die der Besitzer vergessen hatte einzuholen.


    Ich warf noch einen letzten Blick durch mein Fernglas auf die Lange Anna. Dann drehte ich mich um und stemmte mich gegen den Wind, um mich von den gefährlichen Klippen entfernen zu können. Interessante Vogelarten waren an dem Felsen nicht zu sehen gewesen und würden sich wohl erst zeigen, wenn der Wind etwas nachließ. Kurz öffnete ich den Reißverschluss meiner Jacke etwas und verstaute mein Fernglas unter ihr. In der Wettervorhersage hatten sie Sturm gemeldet und die Schiffe fuhren schon längst nicht mehr. Dennoch hatte ich mit dieser Sturmstärke nicht gerechnet. Der Weg übers Oberland zurück zu meiner Pension war sehr beschwerlich. Kaum war ich mehrere Meter vorangekommen, wurde ich wieder zurückgeweht. Manchmal war es schwierig mich überhaupt auf den Beinen zu halten. Vor Anstrengung begann ich zu schwitzen, während ich dem Rundwanderweg zu folgen versuchte. Trotz meiner Bemühungen mich gegen den Wind zu stemmen, landete ich immer wieder auf den Grasflächen. Ein taubes Gefühl machte sich auf meinen Wangen breit, während der Wind an meinem Gesicht zerrte. Meine Lippen fühlten sich wie Eis an und Tränen standen in meinen Augen. Normalerweise genoss ich den Blick auf die Wellen der rauen See, sie sich wie eine wilde Ebene um die Felsen herum ausbreitete. Aber dafür hatte ich jetzt keine Zeit und Geduld mehr. Die Wärme der Pension zog mich mehr an.


    Erleichtert atmete ich auf, als ich die James-Krüss-Schule erreicht hatte und somit den Oberlandort. Doch die Erleichterung hielt nicht lange an. Die kleinen Gassen waren zu Windkanälen geworden, fast vergleichbar mit dem Wind an den Klippen und doch schwächer. In der Nähe meiner Pension wurde mein Blick auf einen kleinen Vogel mit roter Brust gezogen. Er kauerte in einer leicht windgeschützten Ecke und sah mich aus seinen großen schwarzen Augen fragend an. Kurz zögerte ich und wollte gleich ins Warme gehen, dann aber näherte ich mich dem Rotkehlchen. Überraschenderweise floh es nicht vor mir, sondern beäugte mich nur misstrauisch. Erst jetzt bemerkte ich seine ungelenke Haltung auf dem Boden. Als wenn es am Bein verletzt war. Ich streifte meine Handschuhe von den Händen und nahm es behutsam auf. Mit dem Vogel zusammen betrat ich die Pension, in der mir Claudia, der Leiterin, aufgeregt entgegenkam.


    „Gott sei Dank bist du wieder da, Sophie. Ich dachte schon dir wäre etwas passiert. Sie haben eine Ausgangssperre verhängt. Der Sturm hat sich zu einem schlimmen Orkan ausgewachsen.“ Während sie redete, führte sie mich in ihre Wohnung. Im Wohnzimmer angekommen bemerkte sie erst den Vogel in meiner Hand. „Was ist denn mit dem Vogel passiert?“ Ich erklärte ihr kurz wie ich das Rotkehlchen gefunden hatte. Schon machte sie sich hilfsbereit auf, einen alten Vogelbauer aus dem Keller zu suchen. In der Zwischenzeit hatte ich meinen Nagellack herausgesucht und fixierte das Bein mithilfe des Nagellacks notdürftig. Schließlich konnte ich den Vogel, dem ich den Namen „Robin“ gegeben hatte, in den Vogelbauer setzen, wo es auch etwas Zuckerwasser zu trinken hatte und nun seine Umgebung betrachtete. Endlich konnte auch ich meine warme Kleidung ausziehen.


    Nach einer heißen Dusche saß ich mit Claudia bei einem Tee zusammen und lauschten dem Rütteln und Heulen des Orkans. Es war beeindruckend gewesen, den Orkan auch draußen zu erleben, umgeben von der See. Er war eine Naturgewalt, vor der man einfach Respekt haben musste. Der Kalender zeigte den 19. Dezember an. Wenn die Prognosen der Meteorologen stimmten, war es unsicher, ob ich zu Weihnachten von der Insel herunterkam. Zumindest in den nächsten zwei Tagen würde kein Schiff mehr auslaufen. Aber hier war auch ein Teil meiner Heimat. Immerhin kam ich seit meiner Jugendjahre bald jährlich nach Helgoland, beobachtete Vögel und genoss die Natur. Doch war es das erste Mal, dass ich die Insel in einem Wintersturm erlebte, ein neues und gewaltiges Erlebnis.