Die Informationen innerhalb der Spoilermarkierungen kann man mitlesen, muss es aber nicht tun. Sie enthalten keinen Geheimnisverrat, sondern lediglich weitere Informationen zu Personen und Handlungsverlauf.
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Gina Mayer: In guten wie in toten Tagen, Thriller, Bindlach 2013, script5 (ein Imprint der Loewe Verlag GmbH), ISBN 978-3-8390-0164-6, Softcover/Klappenbroschur, 357 Seiten, Format: 21,4 x 14 x 3 cm, EUR 14,95(D), EUR 15,40 (A), EUR 11,99 (Kindle).
„Wenn du den Mund gehalten hättest, wären Helena und Tom jetzt verheiratet“, sagte Cara und überlegte, ob das wirklich besser wäre. Ob Helena und Tom miteinander glücklich geworden wären. Für Tom, dachte sie, wäre es definitiv von Vorteil, er wäre nämlich nicht tot. (Seite 242)
Für die angehende Landschaftsgärtnerin Cara Fliedner, 20, ist ihre drei Jahre ältere Schwester Helena der wichtigste Mensch auf der Welt. Natürlich ist es schade, dass nun aus der Schwestern-WG in Münster nichts wird, weil die Lehramtsstudentin Helena ihren ehemaligen Deutschlehrer Tom Schenker heiratet. Ein bisschen neidet die einzelgängerische Cara der schönen Schwester schon ihre Ausstrahlung, den beruflichen Erfolg und vielen Freunde. Doch gerne will sie ihr Bestes geben, um für sie und ihre Freundinnen einen unvergesslichen Junggesellinnenabschied, eine „Hen Night“ auszurichten.
Unvergesslich wird die Veranstaltung in der Tat, wenn auch ganz anders, als Cara das geplant hat. Die Mädchen ziehen um die Häuser, trinken, werfen ein paar Pillen ein, und zu fortgeschrittener Stunde plaudert die offenherzige May aus, dass auch sie mal etwas mit dem Bräutigam hatte. Und nicht nur sie! Eine ganze Reihe von Schülerinnen und Referendarinnen soll der umschwärmte Deutschlehrer flachgelegt haben. Die Braut glaubt ihr kein Wort, aber die Stimmung ist im Keller und die Hühnerparty zu Ende.
Am nächsten Morgen wird Tom Schenker brutal ermordet in seiner Wohnung aufgefunden. Helena taucht erst in den Morgenstunden völlig derangiert zu Hause auf und kann sich nicht daran erinnern, was sie in den letzten Stunden getan hat. Die Kriminalpolizei hat davon ihre eigene Vorstellung. Helena landet in Untersuchungshaft.
Obwohl sich von den Teilnehmerinnen des Junggesellinnenabschieds keine mehr an den Ablauf des Abends erinnern kann, sind die Mädels erstaunlich schnell von Helenas Schuld überzeugt. Alle außer Cara. Sie kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass ihre Schwester eine Mörderin sein soll. Sie war doch ein Herz und eine Seele mit ihrem Bräutigam und hätte ihm wegen irgendwelcher blöden Gerüchte verschmähter Verehrerinnen nie im Leben etwas angetan!
Vielleicht erinnern sich die Freundinnen doch noch an Details, wenn sie ihnen nur ordentlich auf den Zahn fühlt? Am Ende war’s gar eine von ihnen! Jede scheint ihre Geheimnisse zu haben und manch eine war nicht gut auf Tom zu sprechen. Besonders ehrlich sind Helena und ihre Girls nicht miteinander umgegangen, muss Cara feststellen. Unter Freundschaft stellt sie sich etwas anderes vor. Zusammen mit ihrem Kollegen Vitali, der gerne ein bisschen mehr wäre als nur ein Kumpel, durchleuchtet sie nicht nur die Partyhühner, sondern das gesamte Umfeld von Helena und Tom.
Was Freunde, Kommilitonen, Arbeitskollegen und Nachbarn zu berichten haben, ist gelinde gesagt überraschend. Offensichtlich war bei den beiden Turteltauben nicht alles so rosig, wie es nach außen hin schien. Machen sich Toms Nachbarn eigentlich nur wichtig, oder wissen sie tatsächlich mehr, als sie sagen? Und worauf will die Ehefrau eines Studienkollegen hinaus, als sie sagt, Cara solle doch mal ihre eigene Familie unter die Lupe nehmen?
Je länger Cara Detektivin spielt, desto schlechter geht es ihr. Sie leidet unter Schlafstörungen, Albträumen und Panikattacken. Eine Vielzahl schmutziger Geheimnisse und gestörter Beziehungen hat sie zutage gefördert, aber was in der „Hen Night“ geschehen ist, weiß sie noch immer nicht. Auch wenn sie fast nicht mehr kann – sie muss unbedingt Toms Mörder finden! Vielleicht hätte sie auf seine exaltierte Nachbarin hören sollen, die sie warnt: „Wer fragt, bekommt Antworten. Aber vielleicht gefallen sie dir nicht, die Antworten.“ (Seite 112)
Obwohl der Roman für junge Erwachsene geschrieben ist, lassen sich auch ältere Thriller- und Krimifans in den Sog von Caras Nachforschungen ziehen – und tappen genauso im Dunkeln wie jüngere Leser. Das hat Autorin Gina Mayer schon raffiniert gemacht!
Die egoistische Oberflächlichkeit der Personen ist mindestens genauso grausig wie der Mord. Der einzige Mensch, der hier (noch) nicht rettungslos verkorkst ist, ist das Baby von Helenas Freundin Jacky. Okay: Vitali ist auch noch ganz in Ordnung. Und Frau Engel, die esoterische Nachbarin. Wenn ausgerechnet eine Figur zu den annähernd normal tickenden Sympathieträgern zählt, die als schrille Olle angelegt ist, sagt das eine Menge über das Restpersonal aus …
Der Schluss ist auf jeden Fall ein Knaller. Man verdächtigt im Verlauf der Geschichte mal diese(n) und mal jene(n), aber was sich in der Nacht wirklich ereignet hat, werden sich wohl die wenigsten Leser richtig zusammenreimen.
IN GUTEN WIE IN TOTEN TAGEN bietet packende Unterhaltung für Thrillerfreunde jeden Erwachsenenalters. Es besteht durchaus die Gefahr, dass man, wenn man in der Geschichte so richtig drin ist, Termine vergisst, den Kaffee kalt werden lässt oder ein paar Bahnstationen zu spät aussteigt, weil man unbedingt wissen will, was Caras und Vitalis neueste Erkenntnisse sind. Das sind die Risiken und Nebenwirkungen eines guten Thrillers. Genau so wollen wir es haben.
Die Autorin
Gina Mayer wurde 1965 in Ellwangen geboren. Nach der Schulzeit in Schwäbisch Hall zog sie für ein Jahr nach Neapel. Anschließend studierte sie Grafik-Design und arbeitete als Werbetexterin. Durch den Umzug ihrer Familie in die Friederike-Fliedner-Straße in Düsseldorf begann sie sich für Straßennamen zu interessieren und schrieb mit Die Protestantin ihr vielbeachtetes Debut, einen historischen Roman über Theodor und Friederike Fliedner. Eine Reihe weiterer Romane folgte. Mit ihrer Familie lebt sie in Düsseldorf-Kaiserswerth