Der Inhalt:
Auf dem Sterbebett bilanziert der 45-jährige erfolgreiche Anwalt Iwan Iljitsch sein äußerlich wohlgeratenes Leben und muss erkennen, dass er sich lebenslang getäuscht hat: Sein Beruf bedeutet ihm nichts, auch die Bindungen zu seiner Familie erscheinen ihm nun herzlos und hohl, Gleichgültigkeit und Eigendünkel beherrschen alles Zwischenmenschliche. Einzig die aufrichtige Sorge des Dieners Gerassim und die ehrliche Trauer seines kleinen Sohnes Wasja versöhnen ihn ein wenig, bis er schließlich stirbt.
Der Autor:
Ein Gigant unter den Schriftstellern, ein Leben wie ein Roman hat er geführt, geliebt und gehasst, gefeiert und angegriffen wurde er. Geboren 1828 in Jasnaja Poljana, gestorben 1910 im Bahnhofsgebäude von Astapowo.
Die Übersetzung besorgte Barbara Heitkam.
Meine Meinung:
Elisabeth Kübler-Ross zeichnete vor etlichen Jahren – durchaus nicht unumstritten – die fünf Phasen des Sterbens: Nichtwahrhabenwollen, Aufbegehren und Zorn, Verhandeln, Depression, Einverständnis. Es sind Phasen, die man als einen Sterbenden Begleitender durchaus nachvollziehen kann. Es sind Phasen, die nicht unbedingt linear verlaufen, sondern sich miteinander vermischen, verweben, die sich in innerhalb der Sterbephase keine zeitliche Begrenzung auferlegen lassen.
Sehr viel früher als Kübler-Ross und sicherlich ohne wissenschaftlichen „Hintergedanken“ zeichnete Leo Tolstoi das Sterben eines Menschen auf und nach, der, so sagt der Dichter, ein Leben geführt habe, das „ganz und gar alltäglich und gewöhnlich und ganz und gar schrecklich“ war. Da stockt des Lesers Auge, bleibt hängen an diesem „ganz und gar schrecklich“, versteht nicht, wie Alltägliches und Gewöhnliches so zu bezeichnen wäre. Nicht, dass das die erste Stelle gewesen wäre, über die der Leser stolpern würde, ganz im Gegenteil: Indem Tolstoi mit fast radikaler Ehrlichkeit die Zustände der damaligen Gesellschaft, der Iwan Iljitsch, seine Familie, seine Kollegen angehörten (die Erzählung schrieb Tolstoi zwischen 1884 und 1886, dem Jahr, in dem sie auch erschien, man darf annehmen, dass die Handlung nicht allzu weit in der Vergangenheit angesiedelt ist), ihr Regelwerk, ihre Rituale in wenigen Sätzen und Szenen beschreibt, scheint die ganze Fragwürdigkeit dieser glänzenden Fassade auf, die emotionale Kälte, die Korruptheit, der Egoismus, die Rücksichtslosigkeit. Das ist oftmals unerfreulich, „ganz und gar schrecklich“, das hat gleichwohl etwas Zeitloses.
Zeitlos und doch immer wieder neu, immer wieder zu durchleiden, immer wieder erbarmungswürdig, immer wieder ergreifend und sich doch immer wieder jedem Verständnis entziehend: Ein Mensch stirbt. Über Wochen, über Monate. Ein qualvolles Sterben ist es hier, aber es ist nicht nur die körperliche Erkrankung, die Körper, Geist und Seele beutelt. Wie hat er gelebt, wofür hat er gelebt, was war richtig, was war falsch in seinem Leben – diesen Fragen hat sich Iwan Iljitsch zu stellen, sie drängen sich ihm auf. Nicht ohne Grund taucht in diesen Gedanken häufiger das Wort „Rechtfertigung“ auf. Und indem der Todkranke realisiert, dass es eine solche für sein bisheriges Leben nicht gibt, bleibt ihm einzig der Schrei, der des Entsetzens, des Grauens vor der Nichtigkeit, der Vergeblichkeit seines Lebens.
Der Tod des Iwan Iljitsch gehört für mich zu den eindrücklichsten Erzählungen der Literatur, in dem an Sterbeszenen nicht gerade armen Werk Tolstois ist sie mein ganz persönliches Highlight. Natürlich wird man bemerken, dass Tolstoi seine Moralvorstellungen in dem Werk integriert hat, natürlich kann man als christlich orientierter und geprägter Leser in dem „Licht“, das „an die Stelle des Todes“ getreten war, wie es in einem der letzten Sätze der Erzählung heißt, das Licht der Auferstehung sehen, spürt man in manchem Luthers „sola gratia“ nach. Aber für mich weist Tolstoi in seinem Erzählen und Beschreiben weit über jegliche religiöse Deutung hinaus auf Grundsätzliches, nämlich auf die Erfahrung des – vielleicht nicht nur – menschlichen Leids, auf die ganz kreatürliche Angst, auf das Entsetzung und das Grauen vor dem Endpunkt des eigenen Lebens, dem Tod. Und indem er Iwan Iljitsch in den letzten Stunden vor Todeseintritt doch noch seinen Frieden finden lässt, weist er auf etwas, was selbstverständlich sein sollte, es aber durchaus nicht ist, nämlich dass aus Hass nichts Gutes erwachsen kann, dass die Fähigkeit des Mitleidens keine Schwäche darstellt, dass im Tun für andere ein Reichtum zu finden ist, der mit Geld nicht aufzuwiegen ist. Iwan Iljitsch stirbt erlöst von seiner Angst und seinem Entsetzen; dass er zu diesem Punkt finden konnte, darf man getrost als Gnade bezeichnen.
Verlinkt ist die Ausgabe des Anaconda-Verlages.
Gelesen habe ich die Erzählung, die in dem Band „Erzählungen“ von Leo Tolstoi, erschienen bei Reclam, erschienen ist.
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