Es ist der Gründonnerstag des Jahres 1968. Der Mann, über den wir sprechen, ist bundesweit bekannt. Eine Person die polarisiert. Für die konservativen Medien, insbesondere für die Springer-Presse, ist er ein Gegenstand des Hasses. Mit dieser liefert er sich seit Monaten einen öffentlichen Schlagabtausch. Besonders der gewaltsame Tod des Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien hat diese Auseinandersetzung eskalieren lassen. Jedes Mal, wenn in der Bild-Zeitung eine weitere verleumdende Polemik erscheint, organisiert er eine Gegenaktion. Er fordert gar öffentlich die Enteignung des Springer-Konzerns.
Es ist eine Zeit, in der die Jugend gegen althergebrachte Denkweisen und Moralvorstellungen rebelliert. Diese Rebellion wird auch auf die Straße getragen. Es ist eine Bewegung, die die gesamte westliche Welt erschüttert. In Frankreich eskalieren Studentenproteste, in den USA entsteht die Hippie-Bewegung, in Deutschland nennt man das später die „Achtundsechziger“. Diese Bewegung wird viele Veränderungen in der Gesellschaft anstoßen. Korrekturen, die längst überfällig sind. Aus ihr geht aber auch der Terror hervor, der die Bundesrepublik Deutschland unter dem Stigma „RAF“ für lange Zeit beeinflussen wird.
Der Mann, um den es geht, ist noch heute die Symbolfigur der Achtundsechziger-Bewegung. Er versteht sich als Marxist, als Demokratischer Sozialist. Er hat ebenso wenig mit Terrorismus am Hut, wie mit der Form Sozialismus, die man den „real existierenden“ nennt. An jenem Vormittag hatte ihn ein Reporter des SFB gefragt, ob er sich bedroht fühle. In seiner Antwort äußerte er, dass er jederzeit damit rechne, dass irgendein Neurotiker, ein Wahnsinniger sich zu einer Kurzschlussreaktion hinreißen lassen könnte, deshalb würde er sich in der Öffentlichkeit nie ohne Begleitung bewegen.
Diese Vorsicht hat auch damit zu tun, dass er neuerdings die Freuden und die Ärgernisse durchlebt, die eine junge Familie durchstehen muss. Er hat vor zwei Jahren die Amerikanerin Gretchen Klotz geheiratet. Vor einigen Wochen ist ihr Sohn zur Welt gekommen. Der Säugling ist erkältet, bekommt schlecht Luft. Seine Frau bittet ihn, dass er doch schnell Nasentropfen besorgen möge. Er schwingt sich sofort auf sein Fahrrad und fährt zur nahegelegenen Apotheke. Diese hat gerade wegen der Mittagspause geschlossen, aber nur noch für wenige Minuten. Er beschließt, solange auf dem Sattel seines Fahrrads sitzen zu bleiben. Aus der Peripherie seines Gesichtsfeldes sieht er einen Mann auf sich zukommen. Schlagartig kommt ihm das Interview des Vormittags wieder ins Bewusstsein. Der Mann macht aber keinen feindseligen Eindruck. Er ist jung, offenbar ein Sympathisant der Bewegung und fragt ihn in einem völlig neutralen Ton: „Sind sie Rudi Dutschke?“. Er antwortet freundlich mit „Ja“, dann nimmt er nur noch wahr, wie der junge Mann eine Waffe zieht.
Es werden drei Schüsse auf Rudi Dutschke abgegeben. Zwei davon treffen ihn am Kopf, einer an der Schulter. Der Angreifer flieht. Rudi stürzt vom Fahrrad, aber er kann sich wieder erheben, taumelt einige Schritte auf die Straße, wo er besinnungslos zusammenbricht. Schwer verletzt überlebt er das Attentat. Dutschke trägt aber bleibende Schäden davon. Sein Sprachzentrum ist gestört, er leidet für den Rest seines Lebens unter schweren epileptischen Anfällen.
Geboren wird Rudi Dutschke 1940 in Schönefeld bei Luckenwalde als Sohn eines Postbeamten. In seiner Jugend engagiert er sich in der evangelischen Gemeinde, begeistert sich aber auch für kommunistische und sozialistische Ideen. Der Traum, Sozialismus und Religion zusammenzubringen, bleibt eine Illusion. Der Alltag in der jungen DDR stellt für ihn schon bald einen unlösbaren Konflikt dar, spätestens als er gegen die Remilitarisierung protestiert und öffentlich dazu auffordert, den Dienst in der NVA zu verweigern. Mehr und mehr orientiert er sich nach Westberlin, wo er das Abitur wiederholt, da dort der DDR-Abschluss nicht anerkannt wird.
Kurz vor dem Mauerbau siedelt er endgültig nach Westberlin über. Dort beschäftigt er sich mit philosophischen Studien und verkehrt in linksorientierten intellektuellen Studentenkreisen wie dem „Sozialistischen Deutschen Studentenbund“. Er bringt eine Publikation mit dem Titel „Anschlag“ heraus, die selbst von seinen sozialistischen Weggefährten als „anarchistisch“ bezeichnet wird. Kapitalismuskritik und Aufruf zum offenen Widerstand gegen das System werden zu seiner Lebensaufgabe. Ende der Sechzigerjahre wird die Politik der Bundesrepublik Deutschland durch eine große Koalition bestimmt, die seitens der CDU von Kanzler Kurt Georg Kiesinger und seitens der SPD von Außenminister Willy Brandt geführt wird. Es gibt damals noch keine parlamentarische Kraft, die sich gegen Initiativen wendet wie die „Notstandsgesetze“ oder die Unterstützung des Vietnamkriegs. Rudi Dutschke wird in jener Zeit eine Symbolfigur des Protestes und zu dem Protagonisten der sogenannten „Außerparlamentarischen Opposition“.
Nach dem Attentat findet er nur allmählich ins Leben zurück. Er unterzieht sich einer Sprachtherapie und geht ins Ausland unter anderem in die Schweiz nach Italien und nach Großbritannien. Mit dem Ex-Bundespräsidenten Gustav Heinemann hat er einen Förderer, der ihn auch finanziell unterstützt. Zuletzt lässt sich Dutschke im dänischen Aarhus nieder. Dort erhält er eine Anstellung an der Universität und promoviert zum Doktor der Philosophie.
Dutschke nimmt brieflichen Kontakt zu seinem inhaftierten Attentäter Josef Bachmann auf, dem er bescheinigt, keinen persönlichen Groll gegen ihn zu hegen und er versucht, ihn von sozialistischen Idealen zu überzeugen. Dieser begeht aber 1970 im Gefängnis Selbstmord. Später konnte bewiesen werden, dass es rechtsextreme Motive waren, die ihn zu dem Anschlag bewegt hatten. Dutschke lässt seinen Anwalt an dessen Beerdigung teilnehmen und einen Blumenstrauß an der Grabstätte hinterlegen. Er trägt die Aufschrift: „Ein Opfer der Klassengesellschaft“.
Dutschke bleibt eine anerkannte Größe in linken intellektuellen Kreisen und beteiligt sich weiter an der öffentlichen politischen Diskussion. Ab 1972 bereist er wieder die Bundesrepublik. Dem Terrorismus der RAF steht er ablehnend gegenüber. Er knüpft Kontakte mit der Szene der politischen DDR-Flüchtlinge um Robert Havemann und Wolf Biermann. Er organisiert 1978 den „Rudolf-Bahro-Solidaritätskongress“ und unterstützt damit den in der DDR politisch inhaftierten Dissidenten, der angesichts der großen Öffentlichkeit 1979 amnestiert und in die Bundesrepublik entlassen wird.
Im gleichen Jahr engagiert Dutschke sich in der „Bremer Grünen Liste“, beteiligt sich an deren erfolgreichen Wahlkampf und wird als Gründungsmitglied für den konstituierenden Kongress einer neuen Partei delegiert. „Die Grünen“ sollen seine neue politische Heimat werden. Diese für Januar 1980 geplante Parteigründung erlebt er aber nicht mehr. Am Heiligabend 1979 ertrinkt Rudi Dutschke in der Badewanne in der Folge eines epileptischen Anfalls.
Ein posthumer Triumph wird ihm im Jahre 2008 zuteil. Mitten in der Berliner City, direkt am Axel-Springer-Hochhaus vorbei führt heute die „Rudi-Dutschke-Straße“.