Mini-LR ab 20.11. - Der Tod des Iwan Iljitsch - Leo Tolstoi

  • Ab dem 20.11. gibt es eine Mini-Leserunde zu einer Erzählung von Leo Tolstoi, die sich ganz dem Thema Sterben widmet.
    Ich freue mich sehr, dass sich einige Mitleser gefunden haben.
    Wer noch Interesse hat, ist herzlich eingeladen, mitzulesen.


    Die Erzählung ist eine von insgesamt sechs in der unten verlinkten Ausgabe.



    Inhalt:
    Auf dem Sterbebett bilanziert der 45-jährige erfolgreiche Anwalt Iwan Iljitsch sein äußerlich wohlgeratenes Leben und muss erkennen, dass er sich lebenslang getäuscht hat: Sein Beruf bedeutet ihm nichts, auch die Bindungen zu seiner Familie erscheinen ihm nun herzlos und hohl, Gleichgültigkeit und Eigendünkel beherrschen alles Zwischenmenschliche. Einzig die aufrichtige Sorge des Dieners Gerassim und die ehrliche Trauer seines kleinen Sohnes Wasja versöhnen ihn ein wenig, bis er schließlich stirbt.




    Teilnehmer:
    - SiCollier
    - Voltaire als ggf. mitschreibender Zaungast
    - Cith ab 26.11.
    - Lipperin



    Als Einteilung schlage ich vor:
    1. Teil: Kapitel 1
    2. Teil: Kapitel 2 - 4
    3. Teil: Kapitel 5 - 12

  • Ein „inniggeliebter“ Gatte ist verstorben. Seine Beerdigung steht an. Die Kollegen sinnieren, die Witwe seufzt. Doch worüber? Trauern sie? So scheint es keineswegs, man denkt über Umbesetzungen, Beförderungen und darüber nach, wie und woher man am besten und am meisten Geld aus dem Todesfall erlangen kann. Tolstoi ist schon brutal oder besser gesagt brutal ehrlich im Aufzeigen dessen, was in diesen Menschen vorgeht. Ein Trauerfall als gesellschaftliches Ereignis, für das auch bestimmte Regeln gelten, Verhaltensmaßnahmen, die man kennt oder auch nicht wie teilweise im Fall von Pjotr Iwanowitsch.


    Man macht sich ja schon so seine Gedanken, dass man wirkliche Trauer zumindest bisher nicht antrifft – mit einer Einschränkung, nämlich werden die verweinten Augen des Sohnes erwähnt. Wer war dieser Mensch, der da gestorben ist? Wie ist die Beziehung der Personen untereinander, dass es gar so geschäftsmäßig zugeht, so kalt, so … regelkonform?


    Tolstoi beschreibt den Toten unglaublich plastisch, finde ich. Ich sehe ihn förmlich vor mir. Aber auch die anderen Personen bilden sich in meiner Vorstellung recht schnell heraus, obwohl gar nicht so viel über ihr Äußerliches gesagt wird. Sie spielen alle eine, nein: ihre Rolle, so scheint es; besonders die Witwe hat einiges zu bieten, kann sozusagen schlagartig aufhören zu weinen und vermutlich auch ebenso wieder anfangen, ganz nach Bedarf, ganz wie es erwartet wird. „Was habe ich erduldet“, spricht sie und meint das Schreien des Verstorbenen, dem sie ausgesetzt war. Wie viele Gedanken verschwendet sie wohl an die Qualen ihres Mannes, dass er Grund dazu hatte?


    Die Momente des Nachdenkens über die Wirklichkeit des Todes, über die eigene Sterblichkeit scheint es eher nicht bzw. recht wenig zu geben. Von „Grauen“ wird da in Bezug auf Pjotr Iwanowitsch gesprochen, von „Furcht“, die ihn ergreift, weil auch er wohl einmal sterben wird. Aber wie schnell das beiseite geschoben wird.


    Das erste Kapitel ist wie ein Schlaglicht auf einen Trauerfall in gehobenerer Gesellschaft. Mir erscheint es sozusagen recht ergiebig, ein Blick von außen und von heute auf die Personen damals. Man lernt über die menschlichen Eigenheiten, gesellschaftlichen Spielregeln … und darüber, dass man mit „Zahnpulver“ eine „Goldborte“ blank putzt.

  • Kapitel 2
    Im ersten Kapitel hatte ich viel Mitleid mit Iwan Iljitsch, da zwar um ihn geweint und geschluchzt wurde, aber ich doch meine Zweifel hatte, dass beides wirklich ihm galt. Einzig die Tränen des Sohnes wirkten auf mich echt. Und nun lernen wir ihn kennen, er passt im Grunde perfekt in diese Gesellschaft, die nach ihrem Regelwerk ein Trauerspiel um ihn veranstaltet. Mir kommt er machthungrig vor, vielleicht auch kalt, wohl auch berechnend (oder gar bestechlich?), auf jeden Fall aber stets auf den eigenen Vorteil bedacht. Er scheint mir die Frau geheiratet zu haben, die ihm gemäß war, und zwar in jeder Beziehung. Viel zu schenken scheinen sie sich nicht. Er führte ein Leben, das „angenehm und anständig“ war und man fragt sich wieder, nach welchen Regeln denn „anständig“? Natürlich ist die Frage rein rhetorisch, hin und wieder könnte man aber doch irre werden über derlei Gebaren. Und wie gerne würde man doch anfügen „vergangener Zeiten“.


    Kapitel 3
    Man lebt über die Verhältnisse, das scheint auch so etwas zu sein, was sich schlecht abschaffen lässt. Der Schein muss ja gewahrt werden. Und hat man mehr Geld, hat man auch mehr von der Verwandtschaft. Mehr Freunde und Bekannte hat man auch, man findet sich überall gleich zurecht, schließlich ähneln sich die Wohnungen „wie ein Ei dem anderen“. Das klingt fast ein bisschen spaßig, aber zum Lachen ist mir dennoch nicht zumute. Das ist letztlich alles so … platt, so ausrechenbar, so banal. Und man kann sich sehr gut vorstellen, wie jemand behandelt wird … äh … wurde, der aus diesem Rahmen herausfällt.


    Das Einzige, was für mich heraussticht, weil ich es so nicht erwartet hat, ist die Tatsache, das Iwan Iljitsch die Wohnung komplett allein einrichtet. Und dabei hat er einen kleinen Unfall, weil er, man glaubt es kaum, selbst auf eine Leiter klettert. Da dieser Unfall so ausführlich behandelt wird, wird er wohl noch eine Rolle zu spielen haben.


    Spielen, das ist eigentlich das Stichwort. Ich habe den Eindruck, einem Schauspiel beizuwohnen. Nicht, dass Tolstoi sich eine Inszenierung ausgedacht hat, sondern das er sie „nur“ beschreibt, dem, was er wohl beobachten und erleben konnte und musste, sozusagen abschreibt.


    Kapitel 4
    Iwan Iljitsch verändert sich, seltsamer Geschmack im Mund, Beschwerden in der linken Magenhälfte; die psychischen Veränderungen scheinen (anfangs?) allerdings mehr ins Gewicht zu schlagen.


    Die Schilderung des ärztlichen Gebarens und Verhaltens erscheint mir fast … soll man sagen: boshaft, soll man sagen: satirisch, soll man sagen: … ehrlich? Erschreckend, dass der Mensch hinter der Krankheit so wenig zu gelten scheint, erschreckend, wie „mitfühlend“ Familie und Umgebung auf den Kranken reagieren. Aber in einer Welt, in der das Äußere Geltung vor allem hat, darf man sich da beschweren? Iwan Iljitsch jedenfalls ahnt den Ernst seiner Lage; beeindruckend, wie Tolstoi auch dieses (Teil-)Porträt zeichnet: Nicht nur die Besuche bei den verschiedenen Ärzten, einem Homöopathen, auch das Lauschen auf Berichte über andere Kranke, das Veränderte seines Wesens, das (im Grunde verzweifelte) Festhalten am Gewohnten, der Versuch des Beiseiteschiebens, Nichtwahrhabenwollens – um doch immer wieder zur Krankheit zurückzukehren, gewollt oder ungewollt.

  • Dieses Kapitel, das quasi die Einleitung zur Geschichte bildet, habe ich gestern Abend gelesen. Bei der Gelegenheit muß ich zugeben, daß ich zwar einige Bücher von Tolstoi besitze, das jetzt aber das erste Werk ist, das ich von ihm auch lese. Schon nach wenigen Seiten wird mir bewußt, daß dies ein Fehler ist. Sein Stil gefällt mir außerordentlich gut, ich bin sehr schnell in seiner Welt angekommen und fühle mich zuhause.


    Daß Iwan Iljitsch stirbt, ergibt sich schon aus dem Titel. Die Erzählung beginnt nun mit eben diesem Ereignis und wie selbiges auf die Umgebung wirkt. Ich lese die hier verlinkte Ausgabe, auf die sich auch Seitenzahlen beziehen.


    S. 106: Das zufällige Ereignis der Einsegnung des Iwan Iljitsch kann in keiner Weise einen hinreichenden Grund abgeben, um die Tagesordnung als gestört zu betrachten, das heißt, es darf uns in keiner Weise hindern, auch heute Abend, wenn wir ein neues Kartenspiel beginnen, mit den Karten zu schnalzen, während der Lakei vier neu angebrannte Kerzen aufstellen wird; es besteht überhaupt kein Grund, anzunehmen, daß dieser Zwischenfall uns daran hindern könnte, auch den heutigen Abend auf das angenehmste zu verbringen.
    Abgesehen davon, daß ich solch lange Sätze liebe, wirft das ein sehr bezeichnendes Licht auf die „Trauernden“. Und wie oft werden solche oder ähnliche Gedanken wohl wirklich gedacht?


    S. 110: Drei Tage und drei Nächte entsetzliche Schmerzen, und dann der Tod! Das kann doch jederzeit, jetzt, auch mich treffen, dachte er, und einen Augenblick lang war ihm entsetzlich zumute. Sogleich aber - er wußte selbst nicht, wie - kam ihm der gewöhnliche Gedanke zu Hilfe, daß das ja Iwan Iljitsch zugestoßen sei, aber nicht ihm und daß das ihm gar nicht geschehen dürfte und nicht geschehen könnte; (...)
    Nur kurz währt die Besinnung auf die eigene Endlichkeit.


    Ich habe ein bißchen Schwierigkeiten, irgendetwas herauszugreifen. Tolstoi entwirft ein Gemälde, baut eine Stimmung auf, in der einfach alles paßt. Ich fühle mich mitten drinnen, als ob ich direkt dabei wäre. Ein Mensch ist gestorben, aber anscheinend sieht man ihn nicht als solchen, sondern definiert ihn über seine Funktion, die nur frei ist und neu besetzt werden muß und wird. Wem anders als den Überlebenden kann das nun zugute kommen, daraus (aus dem Tod) Nutzen ziehen?


    Zitat

    Original von Lipperin
    Das erste Kapitel ist wie ein Schlaglicht auf einen Trauerfall in gehobenerer Gesellschaft. Mir erscheint es sozusagen recht ergiebig, ein Blick von außen und von heute auf die Personen damals. Man lernt über die menschlichen Eigenheiten, gesellschaftlichen Spielregeln (...)


    :write Wobei ich vermute, daß das auch heute noch in vielen Fällen nur allzu zutreffend ist.


    (Ich habe zwar den nächsten Teil auch schon gelesen, komme jetzt aber nicht mehr zum Schreiben hier.)
    .

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von SiCollier
    Ich habe ein bißchen Schwierigkeiten, irgendetwas herauszugreifen. Tolstoi entwirft ein Gemälde, baut eine Stimmung auf, in der einfach alles paßt. Ich fühle mich mitten drinnen, als ob ich direkt dabei wäre.



    :write



    Weil ich es gerade parallel lese: Serge Schmemann schreibt in seinem herrlichen Buch „Ein Dorf in Rußland“, dass das Kartenspiel für einen „russischen Ehrenmann“ eine gravierende Rolle spielte. Die Einsätze seien hoch und oft gar dramatisch gewesen. Ob Iwan Iljitsch jedoch den gleichen Einsatz wie ein gewisser Fürst Alexander Nikolajewitsch Golizyn gewagt hätte, nämlich seine Frau?


    Zum Adel findet sich in nämlichen Buch auch einiges Interessante, was auch meine Frage zu Laras adeliger Stellung im „Doktor Schiwago“ beantwortet: Es war – natürlich – Peter I, genannt auch „der Große“, der den („allen“) zivilen und militärischen Beamten, die die höheren Ränge einnahmen, den Adelsrang verlieh, selbstverständlich einen erblichen. Auch die Art und das Tragen von Uniformen wurde geregelt. Wenn ich mir allerdings auch die übrige „Verleihungspraxis“ des Zaren anschaue (so schuf er neue Adelsränge, angepasst an die europäische Praxis), gewinne ich eher den Eindruck einer eher inflationären Einrichtung. Aber es erklärt vieles, was man so in russischen Romanen und Erzählungen, ob nun in vorrevolutionärer Zeit geschrieben oder handelnd, liest.

  • Kapitel 2
    Ich konnte es nicht lassen und habe die Geschichte in einem Rutsch durchgelesen, so daß die Aufteilung in Kapitel etwas schwierig ist, weil in meinem Kopf die ganzen Geschehnisse quasi zu einer Einheit verschmolzen sind.


    Zu Beginn des Kapitels 2 mußte ich aber doch erst mal grinsen, als von Leuten in einer Stellung "aus der sie - wenngleich es sich ganz deutlich erweist, daß sie gar nicht dazu taugen -, ohne irgendeine wesentliche Dienstleistung zu erfüllen, mit Rücksicht auf ihre lange Dienstzeit und ihren Rang nicht mehr weggejagt werden können, (...)" (S. 113)


    Iwan Iljitsch führt ein Leben, von dem ich das Gefühl habe, er möchte zum einen geachtet sein, und zum anderen nicht (unangenehm) auffallen. Da dazu auch eine Frau gehört, heiratet er eben, zumal das - was ihm ebenfalls überaus wichtig ist - die Möglichkeit eine angenehmen Lebens eröffnet; zumindest dachte er das.


    Zitat

    Original von Lipperin
    Er führte ein Leben, das „angenehm und anständig“ war und man fragt sich wieder, nach welchen Regeln denn „anständig“? Natürlich ist die Frage rein rhetorisch, hin und wieder könnte man aber doch irre werden über derlei Gebaren. Und wie gerne würde man doch anfügen „vergangener Zeiten“.


    „Anständig“ habe ich hier verstanden, wie „man“ das seinerzeit eben allgemein verstand, damit man nicht auffiel und bei der besseren Gesellschaft dazugehörte. Und ich schätze, in manchen Kreisen ist das heute noch so.




    Kapitel 3


    Iwan Iljitsch richtet sich im Leben ein und ist ziemlich zufrieden, denn „alles war sehr gut“. Ein Leben ohne große Höhen oder Tiefen, immer bestrebt, es möglichst bequem zu haben. Ich schätze, im Dienst möchte ich ihm nicht begegnet sein.


    Das Gefühl eines „Schauspiels“ habe ich eigentlich nicht. Tolstoi beschreibt dermaßen anschaulich, daß ich das Gefühl habe, mitten drin dabei zu sein in einer Geschichte, die sich so zugetragen haben könnte bei einer Familie, die es genau so vielleicht viele Male gegeben hat (gibt?).




    Kapitel 4


    Jetzt beginnt es langsam und schleichend. Die Gesundheit beginnt nachzulassen, Beschwerden stellen sich ein, und die Konzentration ist dadurch auch nicht mehr die alte. Die Ärzte könnte man zitieren mit „nichts Genaues weiß man nicht“. Das wirkt fast schon unheimlich.


    Allerdings bin ich beim letzten Satz dieses Kapitels hängengeblieben, über den ich noch Nachdenken und Reflektieren muß:
    Und so lebte er am Rande des Grabes, ganz allein, ohne einen einzigen Menschen, der ihn verstanden und der ihn bedauert hätte.


    Zitat

    Original von Lipperin
    Erschreckend, dass der Mensch hinter der Krankheit so wenig zu gelten scheint,(...)


    Auch daran hat sich bis heute nicht viel geändert, eher im Gegenteil. Meine Frau ist ja Apothekerin und bekommt da so einiges mit. In unserem Tanzkurs ist auch ein Zahnarzt, mit dem wir diese Woche ins Gespräch kamen. Der hat auch so manches erzählt. Der Mensch ist im heutigen Gesundheitssystem eine störende Nebensache. Hauptsache die Kosten bleiben niedrig und Politiker und Funktionäre behalten ihre Macht und ihren Einfluß. Klingt bösartig? Entspricht aber jahrelangen Erfahrungen.



    Danke für den Hinweis aus „Das Dorf in Rußland“. Das Buch werde ich mir bald besorgen und lesen, es klingt sehr interessant und nach etwas für mich.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • oh, wie schön, dass ihr gerade was von Tolstoi lest. Schade, dass ich keine Zeit hab, mitzumachen und gerade ein anderes Buch angefangen habe.
    aber ich freu mich schon auf eure Rezensionen und werd hier auch ein bisschen mitlesen.. :wave

  • Kapitel 5
    Der Blick eines Besuchers auf einen Kranken ist oftmals ernüchterner als jedes ärztliche Gespräch, das ist nicht nur heute so, sondern geschah auch Iwan Iljitsch (wobei dessen Ärzte natürlich … nun ja, vielleicht wussten sie es wirklich nicht besser). Und dann der erste „wirkliche Blick“ auf den sich verändernden Körper, das mühsame Wahrhaben des Ernstes der Situation.


    Memento mori – Iwan Iljitsch kommt dem Fakt immer näher, muss sich bewusst werden, sterblich zu sein. Wut, „schreckliche Furcht“, ganz schlichte kreatürliche Angst vor diesem Moment beginnen ihn zu ergreifen. Verständlich, so meine ich. Wobei ich gerne wissen würde, ob für Iwan Iljitsch Sterben und Tod das Gleiche ist.


    „Wir sterben vom Moment unserer Geburt an“, sagte einst ein kluger Mensch. Und Gian Domenico Borasio legt in seinem Buch „Über das Sterben“ dar, wie das eigentlich vor sich geht, das langsame Sterben der einzelnen Organe, der Zelltod, bemerkt aber auch, dass wir über den Tod des „Gesamtorganismus“ immer noch sehr wenig wissen. Das kommt mir immer wieder in den Sinn beim Lesen dieser Erzählung.


    Was mich interessieren würde, ist noch ein anderes: „Tod, wo ist dein Stachel?“, wer kennt nicht dieses Wort? Es wird immer deutlicher, dass Iwan Iljitsch furchtbare Schmerzen haben muss, dass er sich einem Grenzbereich nähert, wo die Qual jede Sekunde dessen, was er sein Leben nennt, bestimmt und vielleicht sogar in Frage stellt. Wird es einen Punkt geben, an dem er sagen kann: „Es ist genug“? Wird er sich sozusagen mit sich selbst, mit seiner Sterblichkeit versöhnen?


    Bei der „Doktor Schiwago“-Leserunde haben wir auch über die – unsere – Distanz zu den Protagonisten gesprochen. Mir scheint das hier sehr ähnlich: Die Menschen sind mir fremd, mir kommt es vor, als wolle ich schon aus Selbstschutz nicht allzu viel mit ihnen zu tun haben, aber der leidende Mensch, die geschundene Kreatur fordert mein Mitfühlen heraus. Das hat Tolstoi – für mich und auch hier in dieser Erzählung – ganz „besonders“ gelöst. Menschen, die man im Grunde ablehnt, weil man ihr Wertesystem nicht akzeptieren kann und will, so zu zeichnen, dass ich doch noch einen Weg zu ihnen finden kann. Seltsam eigentlich nur, dass es dann fast immer sozusagen um „letzte Dinge“ geht.


    Kapitel 6
    Iwan Iljitsch wird sich, so mein Eindruck, seines „Gegners“ bzw. der Größe seines „Gegners“ bewusster und bewusster.


    Dieses Kapitel habe ich fast wie ein Kammerspiel empfunden. Zwei nur auf der Bühne – Iwan Iljitsch und der Tod, alle anderen gehören sozusagen zur Bühnendekoration. Tolstoi legt Schicht für Schicht in der Angst, dem sich offensichtlich steigernden Entsetzen offen, mir scheint es, als wenn er immer noch ein Türchen weiter in das Innere Iwan Iljitschs, in seinen Geist und seine Seele, öffnet.


    Kapitel 7
    Tolstoi nimmt schlicht kein Blatt vor den Mund. Natürlich wäre Iwan Iljitsch zu wünschen, dass seine Qualen beendet wären, zumindest erleichtert wären, aber dass er sterben soll, um die anderen „von den Zwang, den ihnen seine Gegenwart auferlegte“, zu befreien … Nun gut, auch das ist nichts Altes und nichts Neues. Sterben auszuhalten, so nah mitzuerleben ist nicht für jeden ein erstrebenswertes Ziel. Spricht man heutzutage nicht auch vom „Abschieben“ der alten und kranken Menschen?


    Iwan Iljitsch tritt ein Engel an die Seite, Gerassim sein Name, ohne Scheu vor Krankheit und der offensichtlichen Todesnähe, ohne Scheu auch vor den Handreichungen, die er zu leisten hat. Ganz allein wollte Tolstoi ihn wohl doch nicht lassen, wobei ich aber das Gefühl habe, in und hinter der ausführlichen Schilderung des „sauberen, frischen Bauernburschen“ steckt noch ein bisschen mehr. Gerassim jedenfalls ist ehrlich, er scheint sich nicht verstellen zu können, macht bei den „Lügen“, der „Heuchelei“, die Iwan Iljitsch so zusetzen, nicht mit. Er handelt freiwillig und auch „gern“, einen besonderen Lohn hat er allein in der Hoffnung, ihm werde, wenn seine Stunde da ist, gleiches geschehen.

  • Kapitel 8
    Wenn es doch nur vorbei wäre und dann wieder: „Alles ist besser als der Tod“. Iwan Iljitsch durchlebt Tage voller Schmerzen an Körper und Seele und klammert sich doch an sein Leben, Aber wohl nicht, so verstehe ich es, weil er es nun so liebt, sondern weil sein Grauen vor dem Tod so groß ist. Wieder wird ein Arzt beschrieben, der mir gänzlich fehl am Platz zu sein scheint. Aber in einer Gesellschaft, die so fixiert auf ihre Rituale war, ist sein Verhalten wohl in gewisser Weise erklärbar. Und wer weiß, vielleicht hat er auch Patienten, die genau dieses Verhalten für gut und richtig befinden, auch wenn sie in einer vergleichbaren Situation wie Iwan Iljitsch sind.


    Das Verhalten von Frau und Tochter macht mich betroffen, ist jedoch nichts, was neu wäre bzw. allein vergangenen Zeiten angehört. Als sie zu ihrem Theaterbesuch aufbrechen, nehmen sie die „Lüge“ mit. Schade, dass sie sie auch wieder mitbringen werden.


    Kapitel 9
    Also doch, nun kommt das, worauf ich eigentlich schon gewartet habe: „Warum hat du mir das alles angetan?“ usw. Natürlich verständlich die Fragen, aber trotzdem habe ich das Gefühl, für Iwan Iljitsch läuft das nicht so, dass sein Sterben „leichter“ würde. Der Akt des Sterbens als persönlicher Affront? Da ist er nicht der Einzige, der das so empfindet.


    Eine leise Stimme spricht zu ihm, spricht in ihm. Erstaunlich angesichts seines vorherigen Verhaltens eigentlich seine Selbsterkenntnis, ja sein Mut zur Selbsterkenntnis. Oder wird sie ihm aufgedrängt, kann er ihr nicht mehr ausweichen? Die letzte Konsequenz allerdings zieht er nicht, den letzten Schritt wagt er nicht zu tun, zu sehr greifen immer noch die Regeln seiner Gesellschaft, ist er immer noch zu sehr verwoben in seinem Wertesystem. Er hat alles getan, was von ihm „verlangt wurde“ - dafür leidet er jetzt? Wenn er die Kraft dazu gehabt hätte, hätte er sich wohl empört.


    Kapitel 10
    Tolstoi beschreibt den fortwährenden Gang der Krankheit auf das Ereignis des Todes hin mit einer unglaublichen Eindringlichkeit und ebensolchen Konsequenz. Er lässt nichts aus. Das hat fast etwas Pathologisches und ist, so schrecklich das klingt, fesselnd.


    Iwan Iljitsch nähert sich einem Gedankengang, den er nicht zulassen will, weil es sein Leben als Erwachsener, als Mensch der Gesellschaft, in Frage stellen würde.


    Kapitel 11
    Iwang Iljitsch hat eine große Wut auf Frau und Tochter – und nur auf die? Mir scheint, nicht nur weil er sie in früheren Kapiteln der „Lüge“ und „Heuchelei“ bezichtigt, sondern mehr, weil sie ihn stören beim Hören in seinem Innersten, auf die leise Stimme, weil er auf eine Frage gestoßen ist, die seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Er ahnt, dass eine „Rechtfertigung“ für sein vergangenes Tun und Lassen nicht nur nicht da ist, sondern dass sie zu konstruieren auch gelinde gesagt nicht förderlich wäre.


    „Du hat verkehrt gelebt“ - was für ein entsetzliches Fazit am Ende eines Lebens.


    Kapitel 12
    Dieses Kapitel habe ich mehrfach lesen müssen. Erstaunt es mich wirklich, dass die Tatsache, die Iwan Iljitsch ans Leben und damit an die Qualen und Schmerzen kettet, seine persönliche „Rechtfertigung“ ist? Was geht in diesem Menschen alles vor, zu welchen Gedanken bringt er doch den Mut auf. „Tod, wo ist dein Stachel?“. Das Ende des Iwan Iljitsch hat für mich etwas überaus Versöhnliches. Er war ein Angepasster, ein Machtmensch, kalt und stets auf seinen Vorteil bedacht, sein Ego scheint mir das gewesen zu sein, was das Wichtigste für ihn war. Er war niemand, den ich hätte kennen mögen. Aber in seinem Sterben wurde für mich der Kern sichtbar, die leidende Kreatur, die sich in Angst und Entsetzen zu verkriechen sucht und doch kein Entrinnen findet.


    „An die Stelle des Todes war das Licht getreten.“ Einer der letzten Sätze der Erzählung, einer auch, den man so oft schon gelesen hat, in sogenannten Nahtodberichten und auch anderswo.


    Eine ganz große Erzählung. Und für mich mehr als verblüffend, wie sehr sich mir immer wieder etwas in die Gedanken drängte, was deutlich jünger ist, deutlich weniger literarisch, nämlich die Bücher von Elisabeth Kübler-Ross über das Sterben.

  • Zitat

    Original von SiCollier


    Das Gefühl eines „Schauspiels“ habe ich eigentlich nicht. Tolstoi beschreibt dermaßen anschaulich, daß ich das Gefühl habe, mitten drin dabei zu sein in einer Geschichte, die sich so zugetragen haben könnte bei einer Familie, die es genau so vielleicht viele Male gegeben hat (gibt?).


    Vielleicht ist Schauspiel das falsche Wort, mir fiel kein besseres ein. Auf mich wirkte es so, das schreibe Tolstoi seine Erzählung nach der Realität, schreibe sozusagen "ab", die immer gleichen Wohnungen, die immer gleichen Rituale, die immer gleichen Handlungen, so gesehen: ein Abbild, ein "Schauspiel" der Realität. Ich glaube, dass er dergleichen in seiner Gesellschaft genau so wahrgenommen hat.

  • Ihr Lieben, ich habe diese Leserunde nicht vergessen. Meine Terminfestsetzung mit dem 26.11. war wohl bloß einfach ein bisschen zu optimistisch. ;-)


    Mittlerweile habe ich das Büchlein aber fast durch. Ich bin gerade bei Kapitel 8.
    Mir gefällt die Erzählung sehr gut. Ich habe Tolstois Sprache und Ausdruck schon bei "Anna Karenina" bewundert und auch hier kommt sein erzählerisches Talent Figuren zu charakterisieren und Beziehungen zu entwickeln zur Geltung.


    Für Iwan Iljitsch empfinde ich eine grundsätzliche Sympathie, auch wenn er mir ein oberflächlicher Mensch scheint. Es gibt drei Bereiche in seinem Leben, die ihm wirkliche Freude bereiten: das Amt und die damit verbundene Macht, die Unterhaltungen mit den Kollegen und das Whistspiel. Er wird als virtuoser Beamter geschildert, seine Aufgaben beherrscht er völlig, gleichzeitig ist er fair und richtet nach den geltenden Gesetzen, lässt sich nicht von Sympathie oder Beziehungen leiten.
    Was den häuslichen Bereich angeht, empfinde ich jedoch Unverständnis. Iwan Iljitsch mochte seine Frau zwar und hat sie einerseits geheiratet, weil es von der Gesellschaft gebilligt wurde, aber doch auch, weil er ihr zugeneigt war und sich gut mit ihr verstand. Die Ehe selber ist jedoch von Streit und gegenseitigem Missverstehen geprägt, durchbrochen von seltenen kurzen Phasen des Einverständnisse und der Zuneigung. Ich habe das Gefühl, dass die Eheleute keine nahe Bindung zueinander haben, auch zu den Kindern besteht kein enges Band, auf deren Eigenarten und Charakter wurde (bisher) nicht näher eingegangen.


    Zitat

    Original von SiCollier
    Tolstoi entwirft ein Gemälde, baut eine Stimmung auf, in der einfach alles paßt.


    Das kann ich so unterschreiben. So empfinde ich es auch immer. Tolstois Schreibstil ist lebendig und ich verfolge jede Charakterisierung der Personen mit Interesse. Er beschreibt jeweils das Innenleben der Personen, gleichwohl wie auch ihre Außenwirkung und die Reaktionen der in Beziehung zu ihr stehenden Personen. Auch kleine Momente, Aussagen zum Schmunzeln wie eben zum Beispiel die von SiCollier zitierte fehlen nicht.

  • Entschuldigung, wenn ich erst heute darauf eingehe!:knuddel1


    Zitat

    Original von Cith
    Was den häuslichen Bereich angeht, empfinde ich jedoch Unverständnis. Iwan Iljitsch mochte seine Frau zwar und hat sie einerseits geheiratet, weil es von der Gesellschaft gebilligt wurde, aber doch auch, weil er ihr zugeneigt war und sich gut mit ihr verstand. Die Ehe selber ist jedoch von Streit und gegenseitigem Missverstehen geprägt, durchbrochen von seltenen kurzen Phasen des Einverständnisse und der Zuneigung. Ich habe das Gefühl, dass die Eheleute keine nahe Bindung zueinander haben, auch zu den Kindern besteht kein enges Band, auf deren Eigenarten und Charakter wurde (bisher) nicht näher eingegangen.


    Wenn ich solches in Romanen lese - und Tolstoi bildet da ja durchaus keine Ausnahme -, frage ich mich doch immer mal wieder, inwieweit die Vorstellungen von Ehe damals und heute noch und/oder überhaupt übereinstimmen. Damals: Ehe - auch - als gesellschaftliches "Ereignis", Kinder ab einer gewissen gesellschaftlichen Klasse waren zwar "da", aber wie viel wirkliche Erziehungsarbeit leisteten die Eltern? Sie gaben den Rahmen vor, aber sonst? Damals: Ehe hatte zu halten, lebenslang, Scheidung ein Skandal schlechthin.
    Heute sieht das alles nicht nur etwas anders aus. Und wer mag entscheiden, welche Sicht besser ist/war/sein könnte?

  • Zitat

    Original von Lipperin
    Wenn ich solches in Romanen lese - und Tolstoi bildet da ja durchaus keine Ausnahme -, frage ich mich doch immer mal wieder, inwieweit die Vorstellungen von Ehe damals und heute noch und/oder überhaupt übereinstimmen. Damals: Ehe - auch - als gesellschaftliches "Ereignis", Kinder ab einer gewissen gesellschaftlichen Klasse waren zwar "da", aber wie viel wirkliche Erziehungsarbeit leisteten die Eltern? Sie gaben den Rahmen vor, aber sonst? Damals: Ehe hatte zu halten, lebenslang, Scheidung ein Skandal schlechthin.
    Heute sieht das alles nicht nur etwas anders aus. Und wer mag entscheiden, welche Sicht besser ist/war/sein könnte?


    :write Oder ob überhaupt eine allein (damals / heute) die richtige ist?


    Sorry, wenn ich hier bis auf Weiteres im Allgemeinen nur still mitlese. Aber momentan ist es bei mir sowohl mit dem Lesen von als auch dem Diskutieren über Bücher etwas schwierig. Und zum Thema dieser Geschichte gleich gar.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von SiCollier


    :write Oder ob überhaupt eine allein (damals / heute) die richtige ist?


    Darüber kann man lange grübeln.


    Zitat

    Sorry, wenn ich hier bis auf Weiteres im Allgemeinen nur still mitlese. Aber momentan ist es bei mir sowohl mit dem Lesen von als auch dem Diskutieren über Bücher etwas schwierig. Und zum Thema dieser Geschichte gleich gar.


    :knuddel1