'NASHVILLE' ist ein unerhört spannender und außergewöhnlich gut geschriebener Thriller, eine wunderbare Verbindung aus Poesie und Hochspannung, wie man sie nur ganz selten zu lesen bekommt. Nach dem - wie ich fand - etwas schwächeren 'Solange die Nachtigall singt' von Antonia Michaelis schließt dieses Buch wieder zu der Exzellenz ihres zu Recht hochgelobten Märchenerzählers auf.
Svenja, Medizinstudentin im zweiten Semester, zieht von Leipzig nach Tübingen, in ihre erste eigene kleine Wohnung, eine unsanierte Bruchbude mitten in der Stadt. Heruntergekommen aber romantisch, vor allem im sonnendurchfluteten Mai. Svenja, liebenswürdig und ein bisschen chaotisch, ist eine typisch Neunzehnjährige, die sich beweisen will, dass sie ihr Leben von nun an selbstständig auf die Reihe kriegt. Als sie allerdings die Tür ihres Küchenschranks aufmacht, findet sie darin einen verwahrlosten, elfjährigen Jungen, auf dem Kopf stehend, der nicht spricht und auf dessen T-Shirt NASHVILLE steht. Ihre zaghaften Versuche, ihn beim Jugendamt abzugeben, scheitern, weil Nashville davonläuft, um später erneut bei ihr aufzutauchen. Um erst in ihre Wohnung, dann in ihr Leben einzuziehen. Aber Nashville hat ein dunkles Geheimnis. Und er leidet unter unerklärlichen Panikattacken. Hat Verbindungen zu Leuten, die Svenja Angst einjagen und nun auch ihren Namen kennen. Er kommt und geht, ist nachts oft verschwunden. Wenn er Panik bekommt, flüchtet er nach oben, denn er ist ein ausgezeichneter Kletterer. Er schläft unter Svenjas Bett und sammelt Messer.
Kurze Zeit später wird in einem Wäldchen am Stadtrand die Leiche einer Frau gefunden, der jemand die Kehle durchschnitten hat... und Svenjas Leben gerät immer weiter aus den Fugen.
Es ist gar nicht so leicht, dieses Buch zu rezensieren, ohne zuviel über den Inhalt zu verraten, weil das die Spannung schmälern würde.
Nashville ist ein Thriller, aber es ist zugleich auch eine Milieustudie über die unsichtbare Welt der Obdachlosen, eine psychologisch vielschichtige Annäherung ans Erwachsenwerden und ein rauschhafter Trip durch das, was es ausmacht, Student zu sein. Es ist eine Sammlung ganz großartiger Charakterstudien von Figuren, die so strotzen vor Saft und Kraft, dass es eine Freude ist. Svenja, die Protagonistin, ist gewiss kein einfacher Mensch, und manchmal möchte man sie schütteln und ihr rechts und links eine runterhauen. Aber sie ist real, sie verkörpert perfekt dieses Lebensgefühl, wenn man achtzehn ist, voller Unsicherheiten und gleichzeitig vom Gefühl beseelt, sich (und der Welt) was beweisen zu müssen, wenn Brüche und Gegensätzlichkeiten den Charakter prägen und man selbst noch nicht weiß, was für ein Typ Mensch man eigentlich ist.
Und so schillernd wie Svenja sind es auch die anderen Menschen, auf die sie trifft. Die Kunstgeschichtsstudentin Katleen mit streichholzkurzrasiertem Haar, die ihre Einzimmer-Wohnung in eine Küche mit Matratze umgewandelt hat. Friedel, Thierry und Kater Carlo, drei höchst unterschiedliche Freunde, die in einem Abbruchhaus wohnen und dort nur Strom zahlen, den sie vom Nachbarhaus abzapfen. Der stille junge HNO-Arzt, der ihr Fahrrad repariert.
Die ohnehin verzwickte und vielfach um sich selbst gewundene Geschichte erzählt Antonia Michaelis in ihrer gewohnt schönen und märchenhaft poetischen Sprache, die das Lesen zusätzlich zum Genuss macht. NASHVILLE ist ein Thriller, aber kein typischer Thriller. Es kommt nicht besonders viel Gewalt darin vor, aber dennoch ist er atemberaubend fesselnd, weil die Frage nach dem Who's done it bis zum Ende offen bleibt.
Das übrigens völlig anders ausfällt, als man erwarten würde.
Der Oetinger Verlag, bei dem NASHVILLE erscheint, ist ein Jugendbuchverlag, und das Buch wird auch als Jugendthriller gelistet, Alter 14-17. Ich bin mir nicht sicher, wie man es als 14-bis-17-jähriger Leser sehen würde. Aus der Perspektive von jemandem, der mehr als doppelt so alt ist würde ich sagen, es ist ebenso gut ein Buch für Erwachsene. Mag sein, dass man aus der Erwachsenenperspektive sogar mehr daraus zieht, weil es so nachvollziehbar ist, weil man seine eigenen Unsicherheiten und Dummheiten von vor 20 Jahren in den Protagonisten wiederfindet, aber auch die wunderbare, überwältigende Schönheit eines rauschhaften Lebens, in dem man weder Ziel noch Verantwortung wirklich kennt.
Auf jeden Fall ist es ein Buch mit einem langen Nachhall, das nicht gleich wieder aus dem Kopf verschwindet. Es ist voller philosophischer und moralischer Fragen, es stellt Richtig und Falsch auf den Kopf und es hat Ecken und Kanten, an denen man sich reiben möchte.
Ich kann es wärmstens jedem empfehlen, der sich an der Verbindung von schöner Sprache und enorm spannenden Elementen, vor allem aber an Büchern erfreuen kann, die einfach anders sind.
Ich wünschte, es gäbe mehr davon, von dieser Art von Büchern.
10 Eulenpunkte.