Nashville oder das Wolfsspiel - Antonia Michaelis [14 - 17 Jahre]

  • 'NASHVILLE' ist ein unerhört spannender und außergewöhnlich gut geschriebener Thriller, eine wunderbare Verbindung aus Poesie und Hochspannung, wie man sie nur ganz selten zu lesen bekommt. Nach dem - wie ich fand - etwas schwächeren 'Solange die Nachtigall singt' von Antonia Michaelis schließt dieses Buch wieder zu der Exzellenz ihres zu Recht hochgelobten Märchenerzählers auf.


    Svenja, Medizinstudentin im zweiten Semester, zieht von Leipzig nach Tübingen, in ihre erste eigene kleine Wohnung, eine unsanierte Bruchbude mitten in der Stadt. Heruntergekommen aber romantisch, vor allem im sonnendurchfluteten Mai. Svenja, liebenswürdig und ein bisschen chaotisch, ist eine typisch Neunzehnjährige, die sich beweisen will, dass sie ihr Leben von nun an selbstständig auf die Reihe kriegt. Als sie allerdings die Tür ihres Küchenschranks aufmacht, findet sie darin einen verwahrlosten, elfjährigen Jungen, auf dem Kopf stehend, der nicht spricht und auf dessen T-Shirt NASHVILLE steht. Ihre zaghaften Versuche, ihn beim Jugendamt abzugeben, scheitern, weil Nashville davonläuft, um später erneut bei ihr aufzutauchen. Um erst in ihre Wohnung, dann in ihr Leben einzuziehen. Aber Nashville hat ein dunkles Geheimnis. Und er leidet unter unerklärlichen Panikattacken. Hat Verbindungen zu Leuten, die Svenja Angst einjagen und nun auch ihren Namen kennen. Er kommt und geht, ist nachts oft verschwunden. Wenn er Panik bekommt, flüchtet er nach oben, denn er ist ein ausgezeichneter Kletterer. Er schläft unter Svenjas Bett und sammelt Messer.
    Kurze Zeit später wird in einem Wäldchen am Stadtrand die Leiche einer Frau gefunden, der jemand die Kehle durchschnitten hat... und Svenjas Leben gerät immer weiter aus den Fugen.



    Es ist gar nicht so leicht, dieses Buch zu rezensieren, ohne zuviel über den Inhalt zu verraten, weil das die Spannung schmälern würde.
    Nashville ist ein Thriller, aber es ist zugleich auch eine Milieustudie über die unsichtbare Welt der Obdachlosen, eine psychologisch vielschichtige Annäherung ans Erwachsenwerden und ein rauschhafter Trip durch das, was es ausmacht, Student zu sein. Es ist eine Sammlung ganz großartiger Charakterstudien von Figuren, die so strotzen vor Saft und Kraft, dass es eine Freude ist. Svenja, die Protagonistin, ist gewiss kein einfacher Mensch, und manchmal möchte man sie schütteln und ihr rechts und links eine runterhauen. Aber sie ist real, sie verkörpert perfekt dieses Lebensgefühl, wenn man achtzehn ist, voller Unsicherheiten und gleichzeitig vom Gefühl beseelt, sich (und der Welt) was beweisen zu müssen, wenn Brüche und Gegensätzlichkeiten den Charakter prägen und man selbst noch nicht weiß, was für ein Typ Mensch man eigentlich ist.
    Und so schillernd wie Svenja sind es auch die anderen Menschen, auf die sie trifft. Die Kunstgeschichtsstudentin Katleen mit streichholzkurzrasiertem Haar, die ihre Einzimmer-Wohnung in eine Küche mit Matratze umgewandelt hat. Friedel, Thierry und Kater Carlo, drei höchst unterschiedliche Freunde, die in einem Abbruchhaus wohnen und dort nur Strom zahlen, den sie vom Nachbarhaus abzapfen. Der stille junge HNO-Arzt, der ihr Fahrrad repariert.


    Die ohnehin verzwickte und vielfach um sich selbst gewundene Geschichte erzählt Antonia Michaelis in ihrer gewohnt schönen und märchenhaft poetischen Sprache, die das Lesen zusätzlich zum Genuss macht. NASHVILLE ist ein Thriller, aber kein typischer Thriller. Es kommt nicht besonders viel Gewalt darin vor, aber dennoch ist er atemberaubend fesselnd, weil die Frage nach dem Who's done it bis zum Ende offen bleibt.
    Das übrigens völlig anders ausfällt, als man erwarten würde.


    Der Oetinger Verlag, bei dem NASHVILLE erscheint, ist ein Jugendbuchverlag, und das Buch wird auch als Jugendthriller gelistet, Alter 14-17. Ich bin mir nicht sicher, wie man es als 14-bis-17-jähriger Leser sehen würde. Aus der Perspektive von jemandem, der mehr als doppelt so alt ist würde ich sagen, es ist ebenso gut ein Buch für Erwachsene. Mag sein, dass man aus der Erwachsenenperspektive sogar mehr daraus zieht, weil es so nachvollziehbar ist, weil man seine eigenen Unsicherheiten und Dummheiten von vor 20 Jahren in den Protagonisten wiederfindet, aber auch die wunderbare, überwältigende Schönheit eines rauschhaften Lebens, in dem man weder Ziel noch Verantwortung wirklich kennt.


    Auf jeden Fall ist es ein Buch mit einem langen Nachhall, das nicht gleich wieder aus dem Kopf verschwindet. Es ist voller philosophischer und moralischer Fragen, es stellt Richtig und Falsch auf den Kopf und es hat Ecken und Kanten, an denen man sich reiben möchte.


    Ich kann es wärmstens jedem empfehlen, der sich an der Verbindung von schöner Sprache und enorm spannenden Elementen, vor allem aber an Büchern erfreuen kann, die einfach anders sind.
    Ich wünschte, es gäbe mehr davon, von dieser Art von Büchern.



    10 Eulenpunkte.

    Ich hab' mich verirrt.
    Ich bin dann mal weg, um nach mir zu suchen.
    Sollte ich zurückkommen, bevor ich wieder da bin, sagt mir bitte, ich soll hier warten!

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  • Dieser wunderbaren Rezi kann ich mich nur anschließen



    Ich bin noch ganz gefangen in dem Spiel um Liebe, Vernunft, erwachsen werden, Verantwortung übernehmen und Überleben.



    Unbedingte Leseempfehlung und MEIN Buch des Jahres 2013


    okay, hatte es vergessen, nach "Tränenperle"

    "Leute die Bücher lesen, sind einfach unberechenbar." Spruch aus "Wilsberg "
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  • Auch ich kann mich der Rezension von elwe anschließen. Besser kann man es nicht sagen.
    Der Märchenerzähler hatte mich schon sehr beeindruckt, seitdem habe ich einige weitere Bücher von Antonia M. gelesen und alle gefielen mir sehr.
    Nashville beginnt so schräg und mitreißend, dass ich sofort wusste: Dieses Wochenende werde ich alles aufschieben, nur das Notwendigste eingekaufen und lesen, lesen, lesen.
    Die erste Hälfte war sehr spannend, der Anfang geradezu genial, die Auitorin hat hier wieder einmal ihre Ideen nur so sprühen lassen. Die Welt obdachloser Menschen wird in diesem Roman mit Thriller-Elementen lebendig und ungeschönt miterlebbar und sie wird der Welt der Reichen und Schönen gegenübergestellt. Dies allerdings nicht als trockene Sozialstudie oder als moralinsaurer Apell, sondern in der einmaligen Art, in der Antonia Michaelis erzählt: voller Überraschungen, rätselhafter Ereignisse, schräger und lustiger Szenen, Melancholie und manchmal auch Ironie, dezent eingestreuten Wort- oder Satzspielereien, die einfach super passen und das Lesen zur Freude machen.
    Nur im letzten Drittel wurde ich manchmal der Verwicklungen und Verzwickungen, etwas überdrüssig. Auch ging es mir zweimal so, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass Svenja sich wirklich so verhält, wie es die Autorin uns glauben machen will.
    Da schien mir einiges doch zu sehr konstruiert zu sein.
    Zum Ende hin steigerte sich die Spannung noch einmal und schlug hohe Wellen, und dann folgte etwas, das mich sehr mitgenommen hat.


    Auf jeden Fall hat mich dieser Roman mitgerissen, durchgeschüttelt und in einer traurigen und nachdenklichen Stimmung zurückgelassen, so dass ich erst einmal einen Tag Zeit brauchte, um alles sacken zu lassen.


    9 Eulenpunkte

  • Ich habe für das Buch recht lange gebraucht, so richtig gepackt hat es mich nicht. Was vor allem am Schreibstil lag. So richtig flüssig fand ich es auch nicht, eher etwas holprig.


    Die Geschichte an sich finde ich schon ganz gut, die Idee dahinter und den Storyaufbau, aber die Art der Erzählung liegt mir weniger. Die Personen sind mir zu oberflächlich du mir fehlt ein wenig die Tiefe, um manche Handlungen nachvollziehen zu können. Eine Zeitlang hatte ich ja den Verdacht, Svenja bildet sich alles nur ein und das alles passiert nur in ihrer Fantasie. Das Ende kam mir dann auch ein wenig zu schnell.


    6 Punkte

  • Klappentext:
    Atemlos spannend! Ein mörderischer Thriller über Liebe und Verrat. Die achtzehnjährige Svenja findet in einer Abseite ihrer neuen Tübinger Studentenwohnung einen verwahrlosten, stummen 11-jährigen Jungen und nimmt ihn bei sich auf. Nach seinem T-Shirt-Aufdruck nennt sie ihn Nashville. Als eine Serie von Morden an Obdachlosen die Stadt in Aufruhr versetzt, wird Svenja unruhig. Hat Nashville, der immer wieder heimlich verschwindet, etwas damit zu tun? Bald schon merkt sie, dass nicht nur Nashvilles, sondern auch ihr Leben bedroht ist. Ein grandioser Thriller der mehrfach ausgezeichneten Autorin Antonia Michaelis, eine packende und fesselnde Geschichte von Liebe, Sehnsucht, Ängsten und Freunden, denen man nicht trauen kann.


    Die Autorin:
    Antonia Michaelis wurde in Kiel geboren und ist in Augsburg aufgewachsen. Sie hat in Greifswald Medizin studiert und unter anderem in Indien, Nepal und Peru gearbeitet. Heute lebt sie mit Mann und zwei Töchtern gegenüber der Insel Usedom im Nichts, wo sie zwischen Seeadlern, Reet und Brennnesseln in einem alten Haus lauter abstruse Geschichten schreibt.


    Meine Meinung:
    Svenja zieht nach Tübingen, um Medizin zu studieren. In der Wohnung, die sie angemietet hat, findet sie einen verwahrlosten Jungen, der nicht spricht. Er sieht mitgenommen aus und hat große, dunkle Augen. Auf seinem T-Shirt steht Nashville, und so nennt sie ihn fortan. Svenja entscheidet sich, den Jungen bei sich wohnen zu lassen, sie kann es nicht übers Herz bringen, ihn bei der Polizei zu melden. Aufopfernd kümmert sie sich um Nashville, der langsam Vertrauen zu ihr fasst. Trotzdem braucht er seinen Freiraum und verschwindet in den Nächten. Wohin, das weiß zunächst nur er.
    Sie lernt Friedel kennen, der mit ihr studiert, seine Freunde Thierry und Kater Karlo, und Katleen, die vor der Stiftskirche gern ihr Gemüse schneidet. Und da ist noch Gunnar, der an seiner Doktorarbeit schreibt und in den sich Svenja verliebt.
    Ihr wächst bald alles über den Kopf, denn ein Mörder geht in Tübingen um, der es auf Obdachlose abgesehen hat. Sie hat Angst um Nashville, der mehr über die Morde zu wissen scheint. Kann Svenja ihn schützen?


    "Nashville oder Das Wolfsspiel" wartet mit einer mal mehr, mal weniger spannenden Handlung auf, die auch den Leser bis zuletzt im Dunkeln lässt, wer der Mörder ist. Die Auflösung war überraschend, gelungen und auch traurig.
    Bücher von Antonia Michaelis nehmen mich immer auf eine Reise in die Stadt, in die Gegend mit, in der sie spielen. Mich fasziniert, mit welcher Intensität die Geschichte erzählt wird. Und am Ende ist man schockiert und melancholisch, weil es eben nicht immer ein Happy End gibt. Aber auch das passt, denn im wahren Leben ist es leider auch so.


    Was mir dieses Mal nicht so gut gefallen hat, war, dass die Handlung sich hinzog. Das nahm dem Nervenkitzel die vollständige Entfaltung. Auch dass Svenja einfach so Nashville "behalten" konnte und wollte - das war doch zu einfach und auch blauäugig von ihr. Wobei das ihren 18 Lebensjahren geschuldet ist, da hat man eine andere Sichtweise.
    Die Figuren um sie herum, die neu gewonnenen Freunde, fand ich alle gut charakterisiert. Man wusste oft nicht, wem man trauen kann und ob sie ihr eigenes Spiel spielten.


    Was mir wieder besonders gefiel, war die Poesie, mit der die Seiten angefüllt waren. Das ist ein Talent, das nicht alltäglich ist und sich in den Büchern von Antonia Michaelis ständig wiederfindet. Dabei gibt es aber keine Wiederholungen, sondern immer neue Beschreibungen und bildhafte Darstellungen der Figuren, der Umgebung, der Gefühle, des Wetters etc.
    Das macht es zu einem Vergnügen, nachzudenken, manche Phrasen noch einmal zu lesen und diese zu verinnerlichen.


    "Nashville oder Das Wolfsspiel" ist ein eher ruhig erzählter Thriller, dem es ab und an an Dramatik gefehlt hat, der aber originell mit vielen Botschaften über das Leben und das eigene Dasein verpackt wurde.


    8 Punkte.