'Veronika beschließt zu sterben' - Seiten 056 - 100

  • Der Roman entwickelt sich in Handlung und Erzählweise anders, als ich es nach dem ersten Abschnitt erwartet habe.


    Beleuchtet werden neben Veronika unterschiedliche Personen:
    Die depressive Zedka, mit der die Ärzte in der Anstalt "Heilversuche" mit Insulinschocks durchführen und die außerkörperliche Erfahrungen macht (durch Insulinüberdosierung? :gruebel) holt Veronika als menschliches Wesen und Erdung aus der Lethargie.
    Der Arzt Dr. Igor verwechselt Forschergeist mit dem Dran sich zu profilieren.

    Und Veronika? Sie balanciert zwischen dem immer noch bestehenden Sterbenswunsch und dem jedem inne wohnenden Überlebensdrang. Seit sie von ihrem Herzschaden weiß, will sie die ihr verbleibende Zeit verkürzen. Denkt sie für uns laut. Wird sie das tun oder wird sie sich an den letzten Strohhalm klammern?


    Ich bin gespannt.

  • Ein Arzt namens Igor!!!


    Da muss ich an den buckligen Gehilfen von Dr. Frankenstein denken. :grin


    Ob das von Coelho eine Anspielung ist?
    Ich vermute Nein, denn Paulo Coelho schreibt eigentlich durchgehend ironiefrei!
    Außerdem ist Igor wohl ein gängiger Name auf dem Balkan.


    Das Gespräch von Dr.Igor mit Veronikas Mutter fand ich ganz gut. Igor macht da einige treffende Bemerkungen, denke ich.

  • Ich denke auch, dass Coelho den Namen Igor nur wegen seiner Häufigkeit verwendet hat.


    Im Gespräch mit der Mutter war interessant. Es geht um Verantwortlichkeiten, die für sich selbst und die für Andere. Vielleicht ist es generationsbedingt, die Erziehung, die man dem eigenen Kind angedeihen ließ, und das Vorbild, das man ihm vorgelebt hat, für das Schicksal und den Lebensweg des Nachwuchses als ausschließlich verantwortlich anzunehmen. Eben das tut die Mutter und meint, dass sie doch alles Notwendige getan hätten.
    Man kann nur Grundsteinen legen. Eine Straße bauen sich die Kinder allein daraus, und wohin sie sie führt, kann man nie vorher wissen.

  • Zitat

    Original von Clare
    Der Roman entwickelt sich in Handlung und Erzählweise anders, als ich es nach dem ersten Abschnitt erwartet habe.


    Hm, also die Erzählweise hat sich für mich nicht groß verändert, die Richtung allerdings, da stimme ich mit Dir überein, ist nicht unbedingt so, wie ich erwartet habe.



    S. 76 „Die Liebe, die keine Gegenleistung erwartete, erfüllte sie mit Schuldgefühlen, mit dem Wunsch, den in sie gesetzten Erwartungen zu entsprechen, auch wenn das bedeutete, aufzugeben, was sie für sich erträumt hatte.“
    Na ja, das kann ich bis zu einem gewissen Grade schon nachvollziehen und verstehen.


    Seite 81, die Überlegungen zu Reintegration. Wenn das so ist mit den Anstalten, weshalb setzt man dann nicht an der Wurzel des Problems, also den Anstalten an?


    S. 83 “...daß Verrücktheit ein Luxus war, den man sich nur unter bestimmten Voraussetzungen leisten konnte.“
    Nachdenkenswert - und vermutlich zutreffend.



    Zitat

    Original von Clare
    Der Arzt Dr. Igor verwechselt Forschergeist mit dem Dran sich zu profilieren.


    Das ist für meine Begriffe heute weit verbreitet.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Auch Dr. Igor hat eine Tochter namens Veronika.


    Seite 83 - Ja, SiCollier sehr nachdenkenswert. Auch um diese Seitenzahl herum kommt der Gedanke, dass viele die ganze Woche arbeiten und keine Zeit haben und am Wochenende ab Sonntagmittag nicht wissen, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen.
    Depressionen weil es dem Volk zu gut geht? :gruebel
    Hier könnte man - meine ich - eine lange Diskussion beginnen, die ganz schnell vom Buch weg zum Tagesschehen hin ging.
    Vielleicht doch was für die Plauderecke :gruebel

    Don't live down to expectations. Go out there and do something remarkable.
    Wendy Wasserstein

  • Zitat

    Original von Lesebiene
    Hier könnte man - meine ich - eine lange Diskussion beginnen, die ganz schnell vom Buch weg zum Tagesschehen hin ging.


    Ja, es gibt so einige sim Buch, an das man eine lange aktuelle Diskussion anhängen könnte.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von Lesebiene
    ...
    Depressionen weil es dem Volk zu gut geht? :gruebel
    Hier könnte man - meine ich - eine lange Diskussion beginnen, die ganz schnell vom Buch weg zum Tagesschehen hin ging.
    Vielleicht doch was für die Plauderecke :gruebel


    Und warum nicht hier? ;-)
    Zufriedenheit kann schon depressiv machen - muss nicht, aber kann. Träume und unbefriedigte Bedürfnisse sind Triebfedern für Aktion, wecken den Wunsch zu verändern und das macht das Leben bunt und abwechslungsreich. Wenn diese Motivation wegfällt, versinkt man auch schnell in Gleichförmigkeit, ohne dass man es gleich merkt.
    Wer nichts mehr hat, gegen das er sich auflehnen kann, der wird vielleicht bald inaktiv.
    Ich glaube schon, dass der Mensch an sich Idealzustände zwar anstrebt, sie aber eigentlich gar nicht annimmt, weil dann alles schnell langweilig wird.

  • Ganz einfach, weil das Thema dann irgendwann nicht mehr buchbezogen wäre. :lache


    Früher, da haben die Deutschen immer über die Amerikaner gelästert, jeder hätte seinen eigenen Psychiater. Und heute in Deutschland? Psychiater haben Hochkonjunktur. Geht es uns zu gut?
    Das Buch ist ein Roman, aber es beinhaltet viele Wahrheiten. Wem geht es nicht so, dass ihm die Zeit davonrennt?

    Don't live down to expectations. Go out there and do something remarkable.
    Wendy Wasserstein

  • Viele Gedanken schwirren mir beim Lesen durch den Kopf und wieder bin ich sehr froh um diese Querbeet-Runde! :-)


    Zitat

    "In einer psychatrischen Anstalt gewöhnte man sich an die Freiheiten, die es in einer Welt der Verrückten gab, und wurde süchtig danach."

    S.61
    Umgekehrt heißt das, das in der Welt der sogenannten "Normalen" keine Raum für Freiheiten ist, kein Raum abseits der Norm.
    Oder: Es lohnt sich, schräg angeguckt zu werden oder zum Gesprächsthema der Nachbarn zu werden, um ein Stück Lebens-Freiheit zu gewinnen. Ver-rückt hin zu eigenen Ideen, Träumen und Überzeugungen.


    Zitat

    "Weinen, sich sorgen, sich ärgern wie jeder andere Mensch auch, dabei aber nie vergessen, dass dort oben unser Geist über alle schwierigen Situationen lacht."

    S.61
    Dieses Bild hat mir sehr gefallen. Es ist eine Kunst, in schwierigen Situationen eine Sicht außerhalb der Dinge zu bewahren. Genauer kann ich nicht ausdrücken, was ich gerade empfinde.


    Zitat

    "Das Wachsen eines Menschen verlangt seinen Preis, (...)"

    S. 64
    Das meinte ich im ersten Abschnitt, SiCollier. :wave


    :gruebel Ist Veronika jetzt tödlich erkrankt oder benutzt Dr. Igor sie nur zu Studienzwecken?

    Zitat

    "Diese Woche war ihm in Gestalt einer gescheiterten Selbstmörderin eine Chance vom Himmel gefallen. Diese Chance durfte er sich um kein Geld der Welt entgehen lassen."

    S.82
    Spritzt Dr. Igor ihr ein Mittel, damit Veronka denkt, sie sei krank und er heilt sie dann und wird berühmt?


    Zitat

    Original von Clare
    ...
    Im Gespräch mit der Mutter war interessant. Es geht um Verantwortlichkeiten, die für sich selbst und die für Andere. Vielleicht ist es generationsbedingt, die Erziehung, die man dem eigenen Kind angedeihen ließ, und das Vorbild, das man ihm vorgelebt hat, für das Schicksal und den Lebensweg des Nachwuchses als ausschließlich verantwortlich anzunehmen. Eben das tut die Mutter und meint, dass sie doch alles Notwendige getan hätten.
    Man kann nur Grundsteinen legen. Eine Straße bauen sich die Kinder allein daraus, und wohin sie sie führt, kann man nie vorher wissen.


    Loslassen können, das ist ein Lebensthema. Aber wahrscheinlich fühlt man sich als Eltern immer verantwortlich für seine Kinder, auch wenn sie erwachsen sind.
    Ob Veronikas Mutter auch als ein Erfolg ihrer Erziehung gewertet hätte, wenn Veronika der glücklichste Mensch auf Erden geworden wäre? Wahrscheinlich nicht. Es ist leichter, sich für ein Misslingen schuldig zu fühlen als für ein Gelingen.

    Zitat

    Original von Clare


    Und warum nicht hier? ;-)
    Zufriedenheit kann schon depressiv machen - muss nicht, aber kann. Träume und unbefriedigte Bedürfnisse sind Triebfedern für Aktion, wecken den Wunsch zu verändern und das macht das Leben bunt und abwechslungsreich. Wenn diese Motivation wegfällt, versinkt man auch schnell in Gleichförmigkeit, ohne dass man es gleich merkt.
    Wer nichts mehr hat, gegen das er sich auflehnen kann, der wird vielleicht bald inaktiv.
    Ich glaube schon, dass der Mensch an sich Idealzustände zwar anstrebt, sie aber eigentlich gar nicht annimmt, weil dann alles schnell langweilig wird.


    Da ist viel Wahres dran.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Ein sehr interessanter Abschnitt mit vielen Aussagen über das Leben in der Psychiatrie und allgemein über das menschliche Verhalten. Ich kann mir vorstellen das psychisch Kranke sich in der Psychiatrie wohl fühlen, weil sie unter Gleichgesinnte sind und sie einen überschaubaren Lebensraum ohne Verantwortung haben.
    Auch das Veronika sich irgendwie durch die liebevolle Erziehung unter Druck gesetzt fühlt und ihre Eltern nicht enttäuschen möchte, ist für mich plausibel. Und ich verstehe auch Veronikas Mutter, die sich irgendwie schuldig am Selbstmord der Tochter fühlt.


    Mir hat dieser Satz auf S. 84 am besten gefallen.

    Zitat

    Je glücklicher die Menschen sein können, desto unglücklicher werden sie.


    Ich glaube, das ist wirklich so.


    Mich würde ja noch interessieren, welche Ursache der Anfall bei Veronika wirklich hatte. Bekam sie keine Luft auf Grund des geschädigten Herzens oder war das eine ganz normale Panikattacke, weil sie ihre Mutter nicht sehen wollte?

    Kein Buch ist so schlecht, dass es nicht auf irgendeine Weise nütze.
    (Gaius Plinius Secundus d.Ä., röm. Schriftsteller)

  • Zitat

    Original von Lesebiene
    Das Buch ist ein Roman, aber es beinhaltet viele Wahrheiten. Wem geht es nicht so, dass ihm die Zeit davonrennt?


    Ja gewißlich. Ziemlich viele. Je weiter ich im Buch komme, je mehr komme ich ins Grübeln.


    Danke für die Links, Regenfisch! :wave

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

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