'Das Haupt der Welt' - Seiten 084 - 192

  • Zitat

    Original von arter
    Was für mich aber etwas klischeehaft unglaubwürdig dargestellt wird, ist dieses an Wunderkraft grenzende medizinische Talent Tugomirs. Da darf auch wieder der fortgeschickte zur Ader lassende Schulmediziner nicht fehlen. Das haben wir genauso unglaubhaft schon bei Ken Follet und anderen gelesen. Tugomir will sich all dieses Wissen angeeignet haben, indem er dem Hohepriester (ich glaube der war es oder?) ein paar mal zugeschaut hat. Als Heveller-Prinz hatte er sicherlich andere Verpflichtungen. Da musste der Medicus bei Noah Gorden schon ganz andere Schulen durchlaufen, um dieses Niveau zu erreichen. Aber sowas liest sich natürlich auch immer gerne.


    Ob das historisch korrekt ist oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Aber im Buch wird beschrieben, dass Tugomir bereits seit seiner Kindheit zum Priester und Heiler ausgebildet wurde. Als er von den Sachsen als Geisel genommen wird, stand er am Ende seiner Priesterausbildung. Die Tötung von Anno war sozusagen seine letzte Prüfung.
    Er war nicht der Erstgeborene, war also für die Priesterlaufbahn bestimmt, was bei den Sachsen ja ähnlich gehandhabt wurde. Daß er sich in seiner Geiselhaft als Heiler betätigt, finde ich daher nicht unglaubwürdig.

  • arter : Das hat mich auch gewundert und ich muss zugeben, dass ich von der Materie leider keine Ahnung habe.
    Ich weiß nur, dass die Festlandeuropäischen Sachsen nach dem Zerfall des römischen Reiches Mitte des fünften Jahrhunderts gemeinsam mit Angeln, Jüten und Friesen auf die britischen Inseln gekommen sind und wenn man den Vergleich zur englischen/amerikanisch-englischen Sprache ziehen kann, die ja in etwa genauso viel Zeit hatten, sich auseinanderzuetwickeln, sich aber trotzdem noch verstehen, erachte ich das bei den Sachsen schon irgendwie als glaubwürdig. :wave

  • arter


    Mich hat es auch ein wenig gestört, dass Tugomir der perfekte Heiler ist (so wie die Waringhams bei den Pferden...) - wobei mir bewusst war, dass er jahrelang dafür ausbildet wurde und vermutlich auch eine gewisse Begabung dafür hat. Schlimmer hingegen finde ich die übersinnlichen Elemente, an die Tugomir von mir aus gerne glauben kann, die ich mir jedoch nicht vorstellen kann. (Im Wasser sehen können, was bei seiner Familie passiert, die Sache mit der Allergie usw.)


    Wegen der sprachlichen Verständigung, das kann ich mir schon vorstellen. Auch wenn es sicherlich unterschiedliche Entwicklungen auf den beiden Seiten des Kanals gab. Erstens war das Leben damals nicht so schnelllebig wie heute und zweitens gab es nach wie vor enge Kontakte zwischen den Herrscherhäusern und ich gehe davon aus, dass bei Hofe bzw. in der Familie sächsisch gesprochen wurde oder es die Kinder zumindestens lernen mussten.

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")

  • Wie gesagt, ich zweifle das ja auch nicht an, dass es glaubwürdig ist. Es hat mich nur im ersten Moment etwas verwundert. Aber man muss sich auch klar machen, der große sprachliche Einschnitt kam ja in England erst mit der normannischen Invasion ein Jahrhundert später.


    Das mit den Heilerkräften und dem Schuss Esoterik, der ja immer noch im Rahmen bleibt, akzeptiere ich dann mal einfach und widme mich dem nächsten Teil.

  • Mir gefällt die ganze Thematik sehr gut. Ich finde es wunderbar, wie zwei unterschiedliche Kulturen aufeinander treffen und wie toll heraus gearbeitet wird, dass beide ihre guten und schlechten Seiten haben. Auch sehr schön beschrieben, wie die meisten einfachen Menschen an den Naturgöttern festgehalten haben, weil der Gott "der in einem Buch wohnt" zu wenig greifbar ist.


    In dem Zusammenhang fand ich eine Bemerkung von Tugomir sehr interessant. Als er sich mit seinem Cousin unterhält und der erzählt, dass er lesen kann, fragt Tugomir ihn, ob er denn auch sticken könnte. Weil Lesen einfach so unnötig war in seinen Augen oder weil es Frauensache war? Zweiteres würde mich sehr wundern, aber es klang fast so für mich. :gruebel


    Ich mag Otto nicht so wirklich. Nicht, weil er zu gut wäre, sondern fast im Gegenteil: Er ist völlig auf sich bezogen. Er interessiert sich überhaupt nicht für sein Volk - Thankmar zeigt das schön auf, in der Szene auf dem Marktplatz. Dabei sollte ein König diese Dinge doch unbedingt wissen! Und er behandelt Dragomira wie eine Puppe, die er jetzt in einem Schrank verstaut hat, weil er eine neue hat.


    Thankmar mag ich umso mehr. Er ist weltgewandt, interessiert sich wirklich für andere und sie liegen ihm trotz seiner spöttisch-sarkastischen Sicht auf die Dinge wirklich am Herzen. Ich hoffe, dass sich die Freundschaft zwischen Thankmar und Tugomir noch vertiefen wird.
    Das Karfunkel ist ein interessantes Detail. Mir tut es leid, dass er seine Königstochter wohl nicht heiraten wird.


    Dragomira hat es meiner Meinung nach ziemlich gut getroffen. Sie muss nicht mal irgendwelche Gelübde ablegen. Ich wünsche ihr unbedingt noch einen tollen Mann in ihrem Leben! :grin


    Und der arme Tugomir muss sich jetzt zwischen seinen beiden Neffen entscheiden.


    Definitiv sind die Figuren alle sehr vielschichtig, was den Reiz der Geschichte für mich größtenteils ausmacht.

    It’s not enough for the phrases to be good; what you make with them ought to be good too. - Aldous Huxley

  • Zitat

    Original von Dori
    So, Tugomir hat jetzt also erfahren, dass sein Vater von Boleslaw von Böhmen ermordet worden ist und hat zum ersten Mal seinen Neffen gesehen. Was für ein Gegensatz.


    Ich dachte, der Vater hat Selbstmord begangen? ?(

    It’s not enough for the phrases to be good; what you make with them ought to be good too. - Aldous Huxley

  • Zitat

    Original von Brigia


    Ich dachte, der Vater hat Selbstmord begangen? ?(


    Aber irgendwas hatte der Boleslaw damit zu tun, oder irre ich mich? :gruebel


    (Bin jetzt leider schon zu weit fortgeschritten mit dem Buch und kann mich daran nicht mehr wirklich erinnern, :-()

  • Zitat

    Original von Dori


    Aber irgendwas hatte der Boleslaw damit zu tun, oder irre ich mich? :gruebel


    (Bin jetzt leider schon zu weit fortgeschritten mit dem Buch und kann mich daran nicht mehr wirklich erinnern, :-()


    Hmmm... ist wahrscheinlich nicht wirklich wichtig. Ich habe aber nur was von diesem Tuglo gelesen oder wie er heißt, der ihn dazu gedrängt hat. Falls es doch noch mal wichtig wird, können wir ja notfalls nachlesen. :kiss

    It’s not enough for the phrases to be good; what you make with them ought to be good too. - Aldous Huxley

  • Tugomirs Vater hat sich selbst das Leben genommen. Zumindest spricht Tugomir das aus und Wenzel widerspricht ihm nicht.


    Ich reihe mich mal bei den Thankmarfans ein. Mir gefällt die Figur bislang am besten, eine eher graue, aber dabei sehr sympathische Figur. Otto bleibt für mich dagegen eher blass, als scheue sich Gablé bei dieser großen historischen Figur (die ja eindeutig gut gezeichnet sein soll) noch davor, sie mit Fehlern, Ecken und Kanten auszustatten. Tugomir erscheint mir noch als typischer "Gablé"-Trotzkopf, der schnell mal pampig wird, sich nicht scheut, Mächtigeren die Meinung zu sagen, und sehenden Auges Beeinträchtigungen Kauf nimmt, wenn er sonst mit seinen Prinzipien/ seinem trotzigen Verhalten brechen müsste. An einigen Stellen scheint er mir etwas modern, aber ich bin gespannt, wie er sich noch weiter entwickelt.
    Das Gleiche gilt für Dragomira, die mir auch noch recht konturlos erscheint. Aber das Buch ist ja noch lang :-]


    Die Sache mit dem Allergietest schien mir auch etwas seltsam, aber wenigstens waren es nicht die sonst immer üblichen Nüssen, die Otto beinahe das Leben gekostet hätten. Dass Tugomir Ahnung von der Heilkunst hat und dabei Methoden anwendet, die heute zum Bereich der Alternativen Medizin/ Naturheilkunde zählen, erscheint mir nachvollziehbar angesichts der Tatsache, dass er von Kindheit an zum Priester und Heiler ausgebildet wurde. Wobei auch "Schulmediziner" (=ärztlich tätige Mönche) zu dieser Zeit über weitreichende Erfahrungen auf dem Gebiet der Heilkräuter verfügt haben und sich ihre Heilkunde nicht so sehr von der Tugomirs unterscheiden dürfte. Medizinische Schulen gab es im 10. Jahrhundert in Westeuropa nicht, sodass medizinisches Wissen in den Klöstern unter Nutzung des klösterlichen Kräutergartens weitergegeben wurde. Aderlass ist in der Vier-Säfte-Lehre begründet, nach der die Körpersäfte im Gleichgewicht sein müssen, damit ein Mensch gesund sein muss. Folglich versuchte man, durch das Ablassen von Blut "schlechte Säfte" loszuwerden und das Gleichgewicht wieder herzustellen. Vor der Entstehung medizinischer Hochschulen (im 12. Jahrhundert wird die Schule von Salerno gegründet), die mit dem akademischen Zugang über Galens Physiologie die Säftelehre in den Vordergrund rückte, spielten Heilkräuter (neben der Säftelehre und natürlich Gott) eine große, wenn nicht dominierende Rolle in der mittelalterlichen Klostermedizin.


    http://de.wikipedia.org/wiki/Klostermedizin



    Brigia : Tugomir meint mit seiner Bemerkung zum Sticken wohl tatsächlich, dass Lesen und Schreiben "Weiberkram" sei. Adlige (!) Frauen waren neben den Mönchen im Früh- und Hochmittelalter Träger der Bildung. Männer mussten sich dem Kriegshandwerk widmen.


    CorinnaV : Vielen Dank für die interessanten Informationen zu Quedlinburg!


    :wave
    Heike

    Der Bernsteinbund - Historischer Roman - Juni 2010 im Aufbau-Verlag
    Die Tote im Nebel - Historischer Kriminalroman - März 2013 im Gmeiner-Verlag

    Rabenerbe/ Rabenbund - DSA-Fantasyromane - 2017/2018 bei Ulisses

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  • Zitat

    Original von colimuc
    Noch ein paar Seiten fehlen mir zur Beendigung diesen Abschnitts. Mittlerweile reihe ich mich dann auch mal in die Gruppe der Thankmar-Fans ein. Bisher ist er auf jeden Fall meine Lieblingsfigur in dem Buch. Er ist weder so schrecklich gutmenschig, wie Otto, noch so grobschlächtig wie Gero, hat das Herz am rechten Fleck und ist aber dennoch mit einer herrlich trockenen Sicht auf die Dinge gesegnet. Ja, den mag ich.


    Ja, das stimmt. Bei mir hat Thankmar mit seiner Art auch eindeutig Sympathiepunkte gesammelt. Selbst Tugomir überlegt sich ja hin und wieder, dass er den Prinzen eig ganz gut leiden kann. :grin
    Ich finde auch seinen Humor richtig gut!
    Und ich denke, dass er doch mehr an Egvina findet, wie er behauptet...
    Der Arme kriegts bisher auch nicht so gut ab. Bei Tugomir war es ja auch ein wenig so, dass sein Vater seinen Bruder bevorzugt hat und Heinrich bevorzugt eben Otto. Vll verbindet das die beiden ein wenig? Jedenfalls vom Gefühl her...


    Zitat

    Original von CorinnaV


    Nein, die Informationslage ist nicht so schlecht - man kann es sogar in der Wikipedia nachlesen (und ich weiß, Wiki ist alles andere als verlässlich, in diesem Fall will ich damit auch nur sagen, dass man nicht mal sehr tief graben muss, um das zu wissen). Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass sowas mit "Absicht" gemacht wird, weil man mit Quedlinburg ja gerne diese romantische Ansicht von dem Burgberg vor Augen hat, wenn es darum geht, die Stadt als einen Lieblingsort der Ottonen ins rechte Licht zu rücken. Die heutzutage eher ernüchternd wirkende Wipertikirche im Tal (in die man erst reingehen muss, um ihre Schätze würdigen zu können) macht da weit weniger her, rein visuell.
    Wenn Tugomir also hinter der Kirche auf der Wiese darüber nachdenkt, über die steilen Sandsteinfelskanten nach unten zu klettern, dann ist das fiktiv ein sehr schönes Bild, aber historisch eben unrichtig. (Was niemanden davon abhalten soll, den Ort zu besuchen.)


    Also ich weiß nicht. Wenn es wirklich nur so reingenommen wurde, damit es sozusagen "cooler" ist, dann find ichs blöd.
    Weil ich kenn Quedlinburg zB gar nicht und weiß auch null über die Sachsen und dann finde ich solche Ungenauigkeiten schon ein bisschen doof... Ich weiß, es ist ein Roman und man soll nicht alles glauben was man liest, aber so macht mir Geschichte einfach mehr Spaß. Davon abgesehen, dass es weniger Zeit kostet, die ich einfach nicht habe im Moment...
    Danke jedenfalls für die historischen Infos zu allem Corinna!! :)
    Woher kennst du dich so gut aus?


    Zitat

    Original von Maharet
    was auf jeden Fall keinen Sinn macht ist die Sache mit dem Armdrücken - wegen einer Allergie verliert ein gestandener Mann sicherlich nicht gegen einen 10 (?) jährigen. Aber das fällt wohl in die selbe Ecke wie die Waringham`sche Pferdegabe ;) interessant fand ichs trotzdem, wie Tugomir sich die Allergie anhand irgendwelcher Geister zusammengereimt hat...


    Tztz ja, das ist echt Quatsch. Und auch, wenn es manche Heilpraktiker oder sonst wer glaubt. Sorry. Ich finde das mit der Waringham'schen Pferdegabe noch nachvollziehbarer, da ich wirklich Menschen gesehen habe, die eine sehr innige Beziehung zu Tieren haben und sie auch echt krass teilweise beeinflussen können. Das ist für mich einfach ein Talent.
    Aber sowas, nee, sorry. Als Mediziner kann ich nur sagen: das ist absolut unsinnig und geht gar nicht in meinen Augen.
    Es hätte noch mehr Sinn gemacht den Jungen irgendwie damit in Berührung kommen zu lassen, oder ihm ne seeeehr geringe Menge zu geben.
    Aber Muskeln beeinflussen durch die Nähe zum Allergen? Nee!! :bonk :bonk


    Ich denke, dass es eigentlich nicht so schlecht ist, dass Tugomir nun bei den Sachsen bleibt. Ob er alleine was gegen diesen herrschsüchtigen Priester hätte machen können??
    Vermutlich ist es besser, wenn er bei der Erziehung von diesem Kind mit reinpfuscht, vll kann er da ja auch was beeinflussen!?


    Ich musste übrigens Pimpernell erstmal googeln :grin Ist wohl Anis und so. Interessant. Ich kenne niemanden, der dagegen allergisch ist, aber man kann ja grundsätzlich gegen alles allergisch sein^^

  • Zitat

    Original von Nightflower


    Danke jedenfalls für die historischen Infos zu allem Corinna!! :)
    Woher kennst du dich so gut aus?


    Ich bin in Quedlinburg geboren und aufgewachsen und beschäftige mich schon lange mit den Ottonen. Also nicht so lange wie ich lebe - aber zumindest seit ich aus Quedlinburg weggezogen bin. Kennst du das? Wenn man den Ort, an dem man aufgewachsen ist, erst dann zu würdigen weiß, wenn man ihm den Rücken gekehrt hat? Ich hab zum Glück immer noch Familie dort und bin ein paarmal im Jahr da ...

  • Der Armdrücktest wegen der Allergie ist interessant aber gar nicht so unglaubwürdig wie er scheint. Mein Bioresonanztherapeut testet so ähnlich die Verträglichkeit und Allergie. Ich erlebte das selber mit. Hielt ein Medikament in der einen Hand und der andere Arm war ausgestreckt. Der Therapeut drückte dann meinen Arm runter. Bei dem unverträglichen Medikament hatte er keine Gegenwehr meines Armes, wie wenn er auf einmal ganz schwach war. Also so unglaublich ist das mit dem Armdrücken nicht.


    Thankmar und Tugomir gefallen mir beide, sie scheinen eindeutig Sympathien zu haben für einander, also im freundschaftlichen Sinne natürlich.

  • Zitat

    Original von CorinnaV


    Ich bin in Quedlinburg geboren und aufgewachsen und beschäftige mich schon lange mit den Ottonen. Also nicht so lange wie ich lebe - aber zumindest seit ich aus Quedlinburg weggezogen bin. Kennst du das? Wenn man den Ort, an dem man aufgewachsen ist, erst dann zu würdigen weiß, wenn man ihm den Rücken gekehrt hat? Ich hab zum Glück immer noch Familie dort und bin ein paarmal im Jahr da ...


    Kann ich ein Lied von singen!


    Ich bin ja aus Augsburg, und bei Otto I macht es bei mir da sofort :alarm... Schlacht auf dem Lechfeld, Bischof Ulrich von Augsburg und so weiter... das ist Heimat und Sachkunde Unterricht vom Feinsten :lache


  • Ich bin mit diesem Abschnitt noch nicht ganz durch, wollte aber schon ein paar Dinge festhalten, bevor ich sie vergesse.


    Meine Lesefreude wurde leider schon ziemlich gedämpft, völlig unerwartet, weil ich den Einstieg wirklich gut zu lesen fand. Aber ich merke, wie ich jetzt schon anfange, mich beim Lesen zu quälen.


    Da sind erst mal diese dauernden Vergewaltigungen. Auf einen Typen mit moralischen Skrupeln kommen in dieser Geschichte gefühlte neunundneunzig, die alles bespringen, was im entferntesten weiblich aussieht. Was ist denn das für ein Männerbild, das dahinter steht? (Mal abgesehen davon, daß der Arbeitsalltag eines Mannes im Mittelalter doch körperlich durchaus fordernd gewesen sein müßte und ich den armen Kerlen gelegentlich mal eine Mütze Schlaf gönnen würde). Und mal eine dumme Frage: ich bin bisher ganz naiv davon ausgegangen, eine Vergewaltigung sei zumindest laut Gesetz auch im Mittelalter eine Straftat gewesen? Natürlich nicht in erster Linie an der Frau, sondern an dem, in dessen Munt sie war. Aber eben doch grundsätzlich ein Verbrechen? Was ja zunächst mal für einen Mann, der sich selbst als anständigen Kerl sieht (und wer will das nicht tun), eine gewisse Hemmschwelle bedeuten müßte?


    Der zweite Punkt, der mich stört, fiel mir zum Beispiel bei der Ankunft der beiden englischen Prinzessinnen auf. Das ist alles so ... unzeremoniell. "Na, denn kommt mal rein in die gute Stube, Mädels. Aber behaltet die Schuhe an, bei uns ist's nicht so sauber." - Vielleicht habe ich ein völlig falsches Bild vom Mittelalter, aber meinem Gefühl nach wurde damals (gerade im weitgehend analphabetischen FrüMi) unheimlich viel mit Ritualen gearbeitet. Und diese Rituale waren wichtig, da konnte wegen einer falschen Handbewegung ein Vertrag platzen. Stattdessen latschen diese beiden piekfeinen heiratswilligen Damen einfach so ins Wohnzimmer, man plaziert mal kurz das Heiratsgut auf dem Fußboden, im Hintergrund steht schon das Abendessen auf dem Tisch. Überhaupt, wo sind die Typen im grauen Anzug mit den Aktenkoffern die Heerscharen an Rechtskundigen und Sonderbeauftragten, die diese Hochzeit zweier Königshäuser ausarbeiten? Das ist keine private Hochzeit, das ist ein Staatsvertrag, der hier zustande kommt. Da müssen Einflußsphären abgesteckt, Handelsverträge abgeschlossen und Neutralitäts- und Bündnisvereinbarungen ausgehandelt werden. - Zumindest hätte ich erwartet, daß irgendein ausgewähltes Mitglied des Königshauses den Damen entgegen reist und sie ans Ziel geleitet.


    Auch die Figuren benehmen sich ... hm. Mit der einen Ausnahme von Thankmar, der sich und seine Emotionen im Griff hat (womit er seinem Vater weit ähnlicher zu sein scheint als Otto), kommen sie mir alle ziemlich unbeherrscht vor. Plump aggressiv. Dümmliche Rüpel. Gero ist so extrem, den kann man ja kaum ernst nehmen.

    Vielleicht wird das im Laufe des Buchs noch besser, aber im Moment trübt das meine Laune sehr. Vielleicht wollte Frau Gablé ja einfach nur einen krassen kulturellen Gegensatz aufzeigen zur Zeit der Rosenkriege, mit der sie sich vorher beschäftigt hat?


    Zu diesem "Allergietest" habt ihr ja schon genug gesagt. Wenn ich den Artikel aus der SZ richtig überflogen habe, ist es ja sogar nachgewiesenermaßen medizinischer Blödsinn, der nur über die unbewußte Suggestion des Therapeuten "funktioniert". Ich finde es halt immer schade, wenn moderner semi-esoterischer "Firlefanz" (um es mal mit Heinrich zu sagen) aufs Mittelalter rück-projeziert wird. Auf der nächsten Webseite für "nachhaltiges Leben" steht dann wahrscheinlich "Ein altes Verfahren, das man im Mittelalter schon praktizierte (siehe R.Gablé) ..."


    Edit: Tippfehler ausgebessert.
    Und noch ein Edit: Inzwischen bin ich mit dem Abschnitt durch. Thankmar versöhnt mich mit der Geschichte. Seine Reaktion auf Ottos Erhöhung und seine zynischen Gedanken und Kommentare gefallen mir gut.


    Sonstige Eindrücke: Ich rätsle etwas über Tugomirs rechtliche Stellung. Für mich ist ein Kriegsgefangener (der auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist) etwas anderes als eine Geisel (die zumindest in der Theorie gestellt wird und bei der ich auf der anderen Seite einen Verhandlungspartner habe).
    Egvinas Benehmen ist für eine Prinzessin schon ... außergewöhnlich. :grin
    Und ich denke auch, daß Dragomira ihr Kind selbst unter anderen Umständen, als adlige Ehefrau, nicht lange hätte behalten dürfen.
    Heinrich hat seinen Laden (diese sächsische Räuberbande, die seinen Hofstaat bildet) irgendwie nicht so wirklich im Griff, oder? Wenn jeder sich da rausnehmen kann, sich ohne Befehl an einer Geisel zu vergreifen?
    Geärgert habe ich mich etwas darüber, daß Tugomirs Bemerkung über die Bettler, die es bei den Slawen nicht gebe, unwidersprochen stehen bleibt. Ich hoffe, da kommt noch was. Daß Tugomir in seiner Verbitterung die Verhältnisse in seinem Volk verklärt, ist begreiflich. Realistisch ist es nicht. Eigennutz und mangelndes Mitgefühl sind keine Eigenschaften, die sich an Nationalitäten festmachen ließen.

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

    Dieser Beitrag wurde bereits 4 Mal editiert, zuletzt von Josefa ()