Anlässlich der Verleihung des Friedenspreises an Swetlana Alexijewitsch habe ich dieses Buch wieder ausgegraben und nochmals gelesen.
Und puh, diese Protokolle haben es ganz schön in sich.
Zehn Jahre nach der Havarie von Tschernobyl lässt Alexijewitsch in diesem Buch eine Vielzahl von Stimmen zu Wort kommen, Menschen, die in irgendeiner Weise von der Atomkatastrophe betroffen sind: Umsiedler und Heimkehrer, ehemalige Sowjetkader und alte Bäuerinnen, Atomphysiker und Krankenschwestern und natürlich die am unmittelbarsten Betroffenen: die Liquidatoren und ihre Angehörigen.
Herausgekommen ist ein ziemliches erschütternd Zeitdokument, dessen Wirkung jedoch nicht auf der bekannten Ikonographie der Katastrophe beruht, sondern auf den Blick dahinter: der Liquidator bekommt einen Namen, bekommt eine Frau, Eltern, Kinder. Die „Behörden“ werden zu Menschen, die aus ihrer Sicht berichten, was damals geschah. Und das Mädchen, das vielleicht auf irgendwelchen Fernsehbildern von der Evakuation Pripjats um die Welt geisterte, ist nun selbst erwachsen und sorgt sich, es überhaupt gesunde Kinder bekommen kann.
Gemein ist all diesen Berichten, dass der Nuklearunfall die Menschen erschüttert hat. Sowohl die Verantwortlichen, die felsenfest überzeugt waren, dass „die friedliche Nutzung des Atoms“ eine großartige Sache ist, als auch die einfachen Bewohner, die aus heiterem Himmel mit einer unsichtbaren, aber tödlichen Gefahr konfrontiert wurden: für alle hat sich Fühlen, Denken, Leben nachhaltig verändert.
Umso verschiedener sind die Reaktionen der Menschen. Viele flüchten sich in die Religion, sei es, um nicht an der Sinnlosigkeit des Lebens zu verzweifeln, sei es um Trost für eine zerstörte Existenz zu finden.
Einige bekommen einen ganzen neuen Blick auf die Natur, andere suchen Halt in der Literatur.
Das alles ist natürlich hemmungslos subjektiv. Vieles, was erzählt wird, kann objektiv nicht stimmen, aber natürlich ist es wahr, wenn die Menschen es so erlebt haben. Und vielleicht ist auch einfach unwahr, was wir im Westen so erfahren haben. Oder eben einfach durch eine andere Brille betrachtet.
Spannend ist aber auch der Kontext, in dem dieses Buch 1997 entstand. Die Sowjetunion ist Geschichte, die Menschen wurden vom Kapitalismus überrannt. Was in Tschernobyl begann, eine tiefgreifende Veränderung der Überzeugungen, Sicherheiten und Wertvorstellungen, setzt sich im Umbruch der Gesellschaft nach der Wende fort: nichts ist mehr, wie es war.
Während die einen im Wesen des „Sowjetmenschen“, seiner Obrigkeitsgläubigkeit und der Unterwerfung des Individuums unter die „Gesellschaft“ die Ursache für Tschernobyl und die soziale Katastrophe nach der Wende sehen, sehnen sich andere nach der Sicherheit, die das Sowjetsystem bot. Für sie ist Tschernobyl nur ein Symptom, ein Fanal, das dem von vielen als katastrophal empfundenen Zusammenbruch der Sowjetunion voranging.
In diesem Zusammenhang bin ich sehr gespannt, wie die Katastrophe von Fukushima dereinst aufgearbeitet werden wird. Hier kann ja nicht die Sowjetmentalität dafür herhalten, dass Menschen verdonnert werden können, das Chaos zu beseitigen, das andere angerichtet haben, dass Geigerzähler fehlen oder Fantasiewerte anzeigen, dass vertuscht wird, wo es nur geht. Und vor allem, dass die Bevölkerzúng das weitgehend klaglos hinnimmt.
Ich habe dieses Buch bewusst im "Zeitgnössischen" eingestellt, da es sich zwar formal um Protokolle handelt, aber deren Aufarbeitung und, ich nenn mal das verpönte Wort, Literarizität dieses Buch weit über ein gewöhnliches Sachbuch hinausheben.