Bewusstseinsstrom als Erzähltechnik

  • Bewusstseinsstrom oder Stream of Consciousness ist eine Erzähltechnik, die ich bis vor kurzem gar nicht kannte. Und dann ist sie mir dieses Jahr schon zweimal ueber den Weg gelaufen - und hat jedes Mal zum Abbruch des Buches geführt. Zuletzt bei einem Autor, der mir vorher sogar recht gut gefallen hat. Aber mit der Wahl dieser Erzählform hat Mark Haddon mit seinem neuesten Buch "Das rote Haus" nicht nur mich enttäuscht.


    Dieses Durcheinander von Gedankensplittern erlaubt m.M. einfach keine gut erzählte Geschichte. Warum dann hat diese Technik für manche Autoren/Leser einen solchen Reiz? Oder hab ich nur schlechte Versionen erwischt und es gibt tatsächlich auch gute Beispiele?

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

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  • Der stream of consciousness wird durchaus des öfteren eingesetzt, um die Gedanken einer Figur unmittelbar abzubilden. Ich wage zu behaupten, dass er dir in zahlreichen Büchern begegnet ist, ohne dass diese Erzähltechnik dir besonders aufgefallen ist. Bei Thomas Mann z.B. Allerdings ist der stream of consciousness dort dann als eine Technik unter vielen angewendet. Ein ganzes Buch nur so erzählt habe ich noch nicht gelesen. Möchte ich auch nicht.

  • Naja, laut Wikipedia fällt Dostojewskis "Schuld und Sühne" auch schon unter diese Kategorie. Das fand ich eigentlich sehr gur lesbar.


    Ich kenne dieses "Stream of Consciousness"-Schreiben sonst vor allem als Tipp, um "Schreibblockaden" zu überwinden. Eine Geschichte in diesem Stil zu erzählen, erfordert meines Erachtens in jeden Fall ein sehr rigoroses Auswählen. Es soll für den Leser am Ende zwar so aussehen, als seien ihm ausschließlich die unsortierten Gedanken und Eindrücke des Erzählers präsentiert worden. Aber es dürfen nicht die unsortierten Gedanken und Eindrücke des Schreibenden sein ;-).


    Das Hauptproblem bei einem echten "Stream of Consciousness" sehe ich darin, daß die meisten unserer Gedanken und Eindrücke doch völlig banal sind. Und daß mir oft mitten in einer hochwichtigen Angelegenheit einfällt, daß ich mir die Zehennägel mal wieder schneiden sollte oder ich nicht sicher bin, ob ich das Bügeleisen zu Hause ausgesteckt habe. Für einen Leser nicht wirklich die spannendsten Themen.

    Meine Bewertungsskala: 1-4 Punkte: Mehr oder minder gravierende formale Mängel (Grammatik, Rechtschreibung, Handlung). 5/6 Punkte: lesbar. 7/8 Punkte: gut. 9/10 Punkte: sehr gut. Details und Begründung in der Rezi.

  • Zitat

    Original von Josefa
    Naja, laut Wikipedia fällt Dostojewskis "Schuld und Sühne" auch schon unter diese Kategorie. Das fand ich eigentlich sehr gur lesbar.


    Wikipedia ist nicht unbedingt die verlässlichste Quelle, was Literatur angeht. Da werden Werke auch gern mal der falschen Epoche oder Gattung zugeordnet.


    Edit: was jetzt nicht heissen soll, dass in Schuld und Sühne nicht Gebrauch von dieser Technik gemacht wird, ich habe es noch nicht gelesen. Aber: es ist mit Sicherheit kein Buch, das ausschliesslich oder überwiegend als Bewusstseinsstrom formuliert ist.


    Edit 2
    Ich habe mal ein Zitat rausgesucht, das rote ist der stream of c.:

    Zitat

    Übrigens machte diesmal, als er auf die Straße trat, die Furcht vor einer Begegnung mit seiner Gläubigerin sogar ihn selbst stutzig. Bei dem, was ich wagen will, fürchte ich mich vor solchen Kleinigkeiten! dachte er mit einem seltsamen Lächeln. Hm ... ja ... alles ist dem Menschen in die Hand gegeben und alles läßt er sich entgehen, einzig aus Feigheit ... Das ist eine unumstößliche Tatsache ... Es ist interessant, was die Menschen am meisten fürchten [...]


    Bei alleiniger (oder überwiegender Verwendung) dieser (in rot markierter) Erzählweise kann eigentlich nur ein schwer zu lesender Text bei herauskommen.




    Edit 3: Buchstaben eingetauscht. Das iPad und meine Finger werden vermutlich nie Freunde ...

  • Zitat

    Original von Beatrix


    Warum dann hat diese Technik für manche Autoren/Leser einen solchen Reiz? Oder hab ich nur schlechte Versionen erwischt und es gibt tatsächlich auch gute Beispiele?



    Gibt es. Genannt sei hier nur als geradezu lehrbuchmäßiges Beispiel von Virginia Woolf "Mrs. Dalloway".


    Der Reiz liegt darin, der Figur sehr nah kommen zu können.


    Wenn dies gelingt, liegt es sicherlich daran, dass die Autorin in der Lage ist zu erkennen, wie viel an Gedanken und wiedergegebener Handlung den LeserInnen zuzumuten sind. Oder ob doch mal ein lebendiger Dialog nötig ist, der aber durchaus ein Bestandteil des Bewusstseinsstroms sein kann, also eine intensiv nacherlebte Erinnerung.


    :wave

  • Angenehme Lesbarkeit für den Leser ist beim Bewusstseinsstrom in aller Regel kein Kriterium für den Autor. Zumindest der berühmteste Bewusstseinstrom in Joyces Ulysses ist für den Leser richtig harte Arbeit. Auch in Mrs. Dalloway muss man sich schon reinknien um was mitzunehmen. Aber ein "süffige Lektüre" muss ja auch nicht immer das Ziel von Literatur sein.


    Bei einem eher populären Autor wie Haddon wundert das natürlich und befremdet sicher viele Leser.

    :lesend Walter Kempowski "Das Echolot"

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  • Zitat

    Original von Clio
    Angenehme Lesbarkeit für den Leser ist beim Bewusstseinsstrom in aller Regel kein Kriterium für den Autor. Zumindest der berühmteste Bewusstseinstrom in Joyces Ulysses ist für den Leser richtig harte Arbeit. Auch in Mrs. Dalloway muss man sich schon reinknien um was mitzunehmen. Aber ein "süffige Lektüre" muss ja auch nicht immer das Ziel von Literatur sein.


    Genau deswegen habe ich um einige Werke (Ulysses z.B.) immer einen großen Bogen gemacht. Mir fehlt die Zeit, mich durch derartige Literatur durchzuarbeiten.


    Ich kenne das von Beatrix verlinkte Buch nicht; ist es tatsächlich vollständig als Bewusstseinsstrom geschrieben?

  • Zitat

    Original von Tilia Salix
    Ich kenne das von Beatrix verlinkte Buch nicht; ist es tatsächlich vollständig als Bewusstseinsstrom geschrieben?


    Bei Amazon kann man in das Buch von Haddon reinlesen, wobei der Beginn des Buches noch relativ harmlos ist. Es ist wohl kaum ein "reiner" Bewusstseinsstrom, der da durchkommt. Schon eine ziemliche Mischung aus Gedankensplittern, Landschaftsbeschreibungen, Buchzitaten (was der Protagonist gerade liest), Liedtexten, Dialogen (ohne Anfuehrungszeichen) etc.


    Ich denke als Autor muss man sich da wohl entscheiden, ob man dem Leser Gedankenwelten oder Geschichten praesentieren will. Nicht, dass man es nicht mischen kann, aber bei zu viel inneren Welten geht die Geschicht unter. Ich bin da eher fuer Geschichten (story telling!) zu haben ;-)

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

  • Zitat

    Original von Beatrix
    Dieses Durcheinander von Gedankensplittern erlaubt m.M. einfach keine gut erzählte Geschichte. Warum dann hat diese Technik für manche Autoren/Leser einen solchen Reiz?


    Ich lese ziemlich oft Bücher, die diese Erzähltechnik enthalten. Überwiegend habe ich positive Leseerfahrungen damit gemacht.


    Ich finde, dadurch sind Emotionen der Figuren ungefiltert spürbar, der Roman wirkt lebensnaher.


    Seit Joyce, Faulkner und Woolf gab es zahlreiche Variationen in unterschiedlichen Ausprägungen.


    Ein zeitgenössischer Autor, der in dieser Form sehr weit ging, sie bis zum Extrem treibt, ist Antonio Lobo Antunes.


    Auch jetzt lese ich gerade ein Buch, dass diese Technik radikal anwendet: Die Eroberung von Gibraltar von Rachid Boudjedra.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Ich finde, dadurch sind Emotionen der Figuren ungefiltert spürbar, der Roman wirkt lebensnaher.


    Interessant. Ich hab genau das Gegenteil empfunden, da fuer mich aufgrund des Mangels an Action der Roman weniger lebendig wirkt.

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

  • Vielleicht kommt es auf die Menge an? Die Bücher, in denen mir diese Technik begegnet ist, wirkten schon unmittelbarer in der Schilderung. Es ist ein bisschen so, als würde man ein Selbstgespräch belauschen. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass sich der Effekt abnutzt, wenn er zu exzessiv eingesetzt wird?


    Edit: ich hab mir das Buch jetzt mal vorgemerkt - bin neugierig geworden :lache

  • Das andere Buch, wo mir dieser Stil negativ aufgefallen ist, beinhaltet die Memoiren eines ehemaligen Drogenabhaengigen. Da hab ich nur gedacht, dass die wenigsten Leute unter Drogeneinfluss wirklich intelligente Gedanken haben :rolleyes


    Dazu fand ich auch einen passenden Kommentar auf amazon.com:


    "Words scatter like a roomful of junkies when there's a suspiciously loud knock at the door."

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

  • Ich bin überrascht, daß Haddon diese Technik angewendet hat. Mir gefällt seine Entscheidung. Mir zeigt sie, daß sich da ein Autor Gedanken darüber macht, was er tun möchte.
    Geschichten erzählen hat viel mit der Form zu tun, mit dem 'Wie' des Erzählens. Das lineare Berichten ist nur eine Möglichkeit. Sie scheint naheliegend, weil sie eine der einfacheren ist. Sie ist griffig, vor allem aber ist sie gängig.


    Eine weniger populäre und schwierigere Form zu wählen, heißt, daß sich Autorin/Autor Gedanken darüber machen, was ihren Beruf ausmacht. Zu dem Beruf gehört auch das Gestalten. Das wird leicht vergessen, man erzählt darauflos, geht altgewohnte Wege.
    Eigentlich aber geht es darum, für bestimmte Gegebenheiten eine passende sprachliche Umsetzung zu finden. Das lineare Erzählen reicht dafür nicht immer aus, es kann das, was man zum Ausdruck bringen will, flach, konventionell und langweilig machen.


    Ich findes es mutig, daß ein Autor, der bislang zwar besondere Themen, aber keine besondere Form gewählt hat, sich traut, einen neuen Weg zu gehen. Egal, wie das Publikum reagiert.
    Sich mal ausprobieren, zu sehen, wohin und wie weit eine das eigene Talent trägt, statt immer den gleichen Pfad zu nehmen.
    Und das angsichts eines Buchmarkts, auf dem vor lauter Schielen auf den Umsatz Althergebrachtes alles überwuchert und Experimente gefürchtet werden wie ein GAU.


    Alle Hochachtung!
    Auch wenn diese Technik ebenfalls schon über hundert Jahre auf dem Buckel hat.
    ;-)

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali
    Eigentlich aber geht es darum, für bestimmte Gegebenheiten eine passende sprachliche Umsetzung zu finden.


    Da stimme ich mit dir vollkommen ueberein. Haddon hat das ja auch schon vorzueglich in "Supergute Tage" gemacht, das auch keinen traditionellen Schreibstil hatte. Es war aber dennoch - oder gerade deswegen - eine gut erzaehlte Geschichte. Und sehr gut lesbar ...


    Gute Geschichtenerzaehler benutzen selten einen linearen Erzaehlstil und wechseln durchaus Perspektiven, fuegen Rueckblenden ein etc. Ich finde der Schreibstil soll das Geschichenerzaehlen unterstuetzen - und nicht umgekehrt. Bei den Buechern, die den Bewusstseinsstrom bzw. Variationen sehr stark verwenden, hab ich das Gefuehl, dass der Schreibstil wichtiger als die Geschichte ist.

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

  • Verstehe ich vollkommen.
    Inhalt und Form paßgenau zuammenzubringen, ist eine Talentfrage. Aber man weiß im Voraus eben nie, ob man die Sache rund kriegt.
    Zum Schreiben, also richtig schreiben, künstlerisch Arbeiten, gehört der Mut zum Experiment und zum Scheitern.
    Es ist ein Lernprozeß.



    Aber die AutorInnen, die z.B. Herr Palomar aufführt, scheitern nicht. Sie schufen und schaffen neue Gestaltungsmöglichkeiten.
    Wir leben im 21. Jahrhundert, es ist ganz natürlich, daß man sich über andere Formen und Stilmittel Gedanken macht.
    Man komponiert auch nicht mehr wie Mozart und malt nicht mehr wie Botticelli.


    Der Junkie-Roman, den Du verlinkt hast, ist eigentlich schon konventionell. Wir haben längst die feste Vorstellung, daß Junkies eigenartig denken. Stimmt das eigentlich wirklich?
    ;-)

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus