Annett Gröschner: Hier beginnt die Zukunft, hier steigen wir aus. [... unterwegs mit der BVG]

  • Annett Gröschner: Hier beginnt die Zukunft, hier steigen wir aus. Unterwegs in der Berliner Verkehrsgesellschaft.
    Berlin Verlag 2002. 216 Seiten
    ISBN-13: 978-3827004208


    Verlagstext
    In Berlin sind sie zwar nicht knallrot, aber der Ausblick vom oberen Fahrgastdeck ist genauso schön wie bei ihren berühmten Londoner Verwandten: die Doppelstockbusse der Berliner Verkehrsgesellschaft. Annett Gröschner nutzt diese Perspektive, um die Befindlichkeiten der Bundeshauptstadt zu kartografieren - jenseits von neuer Mitte und Regierungsviertel. Zwei Jahre lang ist die Autorin, Journalistin und Dokumentarin in Berlin "professionell" Bus und Bahn gefahren. Mit großem sozialem Gespür beschreibt sie das Leben, das rechts und links der Fahrbahn liegt. Berlins eigenartige Mischung aus Metropole und Provinz, Welt- und Kleinbürgertum lässt diese Fahrten zu einer Reise durch die Republik werden. Nirgendwo zeigt sich so deutlich wie in den Berliner Bezirken, wie weit der Annäherungsprozess gediehen ist, in dem Ost- und Westdeutsche sich seit 1989 befinden. Sehr präzise macht Gröschner die nunmehr unsichtbaren Grenzen der ehemals geteilten Stadt sichtbar. Quer durch materielle, ideologische und kulturelle Milieus gehen ihre Zustandsbeschreibungen deutscher Befindlichkeiten und gewinnen Brisanz aus ihrer Alltäglichkeit. Gröschners Großstadtessays bestechen durch ihre literarische Qualität. Sorgfältig beobachtet, genau recherchiert und ausgesprochen kurzweilig, eröffnen sie mit subtiler Ironie neue Perspektiven auf Altbekanntes.


    Die Autorin
    Annett Gröschner wurde 1964 in Magdeburg geboren und lebt seit 1983 in Berlin. Sie arbeitet als freie Autorin und Schrfitstellerin und wurde als Chronistin des Ostberliner Lebens bekannt. Nach Gedichtbänden, Reportagen und Hörspielen veröffentlichte sie 2000 mit großem Erfolg den Nachwenderoman Moskauer Eis.


    Inhalt
    Meine Aufgabe lautete Blindkauf oder Blindgriff in das Regal ungelesener Bücher: Drittes Regal von links, zweites Regalbrett von oben, 17. Buch von links. Dort stand ein mit Schwarzweiss-Fotos illustriertes Buch mit Reportagen über Fahrten mit den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG). Als Touristin durchquere ich gern fremde Städte bis zur Endstation einer Buslinie, um aus dem Fenster die weniger glamourösen Gegenden und Industriebrachen kennenzulernen. Deshalb muss dieses Buch in unseren Haushalt gelangt sein. Auch Annett Gröschner lernt auf ihren Fahrten durch Berlin Ecken kennen, die eine Stadt ihren Gästen nicht zeigt: Kanäle, Häfen, Großmärkte, Gefängnisse und die in Jahrzehnten angesammelten Geschmacksverirrungen des Wohnungsbaus. Als zugezogene Ostberlinerin erkundet Annett Gröschner u.a. Gegenden, die, getrennt durch die Berliner Mauer, vor der Wiedervereinigung jeweils nur Ost- oder Westberlinern zugänglich waren. Das Rätseln über Straßenbahnschienen, die unter der Mauer zu verschwinden schienen, gehörten in Gröschners Kindheit zu ihren nachhaltigsten Eindrücken von öffentlichen Verkehrsmitteln. Die beiden bisher möglichen Varianten "in die Stadt fahren" (= ins Zentrum des eigenen Stadtviertels) und "nach Berlin fahren" (= in die Gegend, die man seinen auswärtigen Besuchern zeigt) sind in Gesamt-Berlin nun durch die Möglichkeit erweitert, "in den Osten" oder "in den Westen" zu fahren. Als Provinzler kann man direkt neidisch werden, wenn die Autorin als Großstadtpflanze über eine Buslinie lästert, die "nur" alle 20 Minuten fährt.


    Ein großer Teil von Gröschners sehr ironischen Essays über die unsichtbaren Grenzen zwischen dem wiedervereinten Ost- und Westberlin bezieht sich auf Beobachtungen in den Berliner Doppelstockbussen. Die Autorin schaut dabei der Spezies Berliner Busfahrer aufs Maul, beobachtet Schulkinder, Nachtschwärmer und fremdelnde, frisch aus Bonn importierte Politiker. Eine Nachtbuslinie, der Flughafenbus, die Schmalspur-Überlandbahn nach Schöneiche und die ehemalige Fähre Rahnsdorf/Mügggelheim ergänzen das Bild der Busse und Bahnen.


    Fazit
    Der mit einem extremen Weitwinkelobjektiv aus Bus und Bahn nach draußen gerichtete Blick des Fotografen Arwed Messmer lässt Gröschners bissige Texte sogar 10 Jahre nach Veröffentlichung ihres Buches noch sehr authentisch wirken, auch wenn ihr Buch inzwischen eher Sammelobjekt für Liebhaber öffentlicher Verkehrsmittel geworden sein wird.


    8 von 10 Punkten