288 Seiten
gebundene Ausgabe
August 2013
Stefanie de Velasco liest die ersten Seiten *zeit.de*
Zur Autorin (vom Verlag)
Stefanie de Velasco, geboren 1978 in Oberhausen, studierte Europäische Ethnologie und Politikwissenschaft in Bonn, Berlin und Warschau. 2011 erhielt sie für den Anfang ihres Debütromans den Literaturpreis Prenzlauer Berg, 2012 war sie Stipendiatin der Schreib werkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung. 2013 erhielt sie das Schreibstipendium des Künstlerdorfes Schöppingen. Derzeit ist sie Stipendiatin der Dreh buchwerkstatt München. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
Zum Inhalt (vom Verlag)
Nini und Jameelah leben in derselben Siedlung, sie sind unzertrennlich und mit ihren vierzehn Jahren eigentlich erwachsen, finden sie. Deswegen kaufen sie sich Ringelstrümpfe, die sie bis zu den Oberschenkeln hochziehen, wenn sie ganz cool und pomade auf die Kurfürsten gehen, um für das Projekt Entjungferung zu üben.
Sie mischen Milch, Mariacron und Maracujasaft auf der Schultoilette.
Sie nennen das Tigermilch und streifen durch den Sommer, der ihr letzter gemeinsamer sein könnte. Die beiden Freundinnen lassen sich durch die Hitze treiben, sie treffen nicht Tom Sawyer oder Huck Finn, aber hängen mit Nico ab. Nico, der in der ganzen Stadt »Sad« an die Wände malt und Nini ein Gefühl von Zuhause gibt. Sie machen Bahnpartys, rauchen Ott in Telefonzellen und gehen mit Amir ins Schwimmbad. Amir, den sie beschützen wie einen kleinen Bruder. Und dessen großer Bruder Tarik im Dauerstreit mit seiner Schwester liegt, weil diese sich in einen Serben verliebt hat.
Meine Meinung
Stefanie de Velasco beschreibt in ihrem Debütroman einen kurzen Ausschnitt aus dem Leben zweier 14-jähriger Mädchen, die sich mitten in der Pubertät befinden.
Aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Nini wird in der aktuellen Jugendsprache eine Welt beschrieben, die so ganz anders ist als jene, in der ich selbst aufwuchs. Ninis Mutter ist depressiv und verlässt nur selten ihre Couch, zu ihrem Vater hat sie so gut wie keinen Kontakt, Rainer, der neue Partner ihrer Mutter bedient sich am liebsten alter Sprüche wie "solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst..." und in der Schule glänzt Nini auch nicht gerade. Ihre beste Freundin Jameelah stammt aus dem Irak und befürchtet, wieder dorthin abgeschoben zu werden. Jameelah liebt Sprachspiele, liest gerne, weiß fast alles und möchte gerne in Deutschland bleiben, wo auch ihre Freunde sind und wirkt oft deutlich reifer als es ihre gerade mal 14 Jahre vermuten lassen würden.
So unterschiedlich die beiden Freundinnen auch auf den ersten Blick sind, so ähnlich sind sie sich auf den zweiten. Einerseits möchten Nini und Jameelah schon sehr erwachsen sein, weise und cool wirken, andererseits sehnen sie sich auch nach Geborgenheit, verstecken ihre Unsicherheit und Ängste hinter "coolen" Sprüchen und toughem Verhalten. Dazu passt auch ihr Lieblingsgetränk - Tigermilch. Rasant und gefährlich klingt die erste Hälfte des Namens, so wie die beiden Mädchen momentan leben, in einem Wahnsinnstempo erwachsen werden wollen. Milch klingt eher nach Kindheit, Geborgenheit. Milch mit Mariacron und Maracujasaft sind die Zutaten - Kindheit und Erwachsensein-Wollen, Gefahr, Unvernunft, Mut...
In spröder Sprache wird auch das zerbrechliche Innenleben der beiden beschrieben, die schon früh lernen mussten, dass Träume oft eben auch nur Träume bleiben, dass Familien zerbrechen können und die sich gegenseitig mehr als Freundinnen sind, schon fast eine Art Mini-Ersatzfamilie. In ihrer kleinen Welt gibt es eine besondere und durchaus nachvollziehbare Moral, ganz eigene Spielregeln, dort spielen Schule und Erwachsene keine Rolle - außer wenn es darum geht, Geld zu beschaffen.
Aus der Sicht erwachsener Leser sind die Lebensumstände der beiden Freundinnen deprimierend, während die Hauptfiguren dies als mehr oder minder normal hinnehmen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Bezeichnend, dass der Klinikaufenthalt von Nini als Höhepunkt der Sommerferien angesehen wird und keiner der Erwachsenen den beachtlichen Alkoholkonsum bemerkt, oder dass die beiden auch rauchen.
Verträumt, verbittert, naiv, abgebrüht, verliebt, resigniert, überschäumend... es gibt wohl keine widersprüchlichere Lebensphase als die Pubertät und Ninis emotionaler und authentisch wirkender Erzählstil zog mich schnell in die Welt der beiden.
Viel wörtliche Rede und eine ordentliche Portion der aktuellen Jugendsprache lassen die Figuren und Handlung noch lebendiger werden. Wer sich an Umgangssprache oder wörtlicher Rede in Romanen stört, wird an diesem Buch (leider) nicht viel Freude haben.
Fazit
Wer sich auf die beiden 14-jährigen Hauptfiguren und ihre Sprache einlässt, wird in die Zeit der Pubertät, der ersten großen Liebe zurückversetzt und durch die Augen von Nini und Jameelah einen besonderen Sommer in Berlin erleben. Authentisch, überraschend, emotional und süchtigmachend - ich hätte die beiden gerne noch viel länger begleitet und wünsche "Tigermilch" noch viele begeisterte Leser.