Clara Immerwahr
Es ist die Nacht vom zweiten zum dritten Mai des Jahres 1915. In der Villa des angesehenen Chemieprofessors Fritz Haber in Berlin Dahlem findet dessen Ehefrau Clara keinen Schlaf. Sie begibt sich ins Schreibzimmer und verfasst Briefe. In diesen Briefen äußert sie ihre Ansichten über die jüngsten Projekte ihres Mannes, die sie bereits Tage zuvor in aller Öffentlichkeit als „Zeichen der Barbarei“ und „Perversion der Ideale der Wissenschaft“ gebrandmarkt hatte. Fritz Haber, der berühmte Erfinder einer billigen Synthese zur Herstellung des wichtigen chemischen Grundstoffes Ammoniak, genießt währenddessen einen durch Tabletten beförderten tiefen Schlaf. Am Abend zuvor wurde seine Beförderung zum Hauptmann des Deutschen Heeres gefeiert. Diese Auszeichnung hatte er sich durch seinen Vorschlag verdient, Chlorgas als Kampfmittel einzusetzen. 5000 Soldaten fanden wenige Tage zuvor an der Front bei Ypern in Belgien durch seine neue Waffe den Tod.
Nachdem sie die Briefe verfasst hat, entnimmt Clara die Dienstwaffe ihres Mannes aus der Schublade und begibt sich in den Garten der Villa. Ihr Sohn Hermann wird durch den Knall eines Schusses geweckt. Hermann weckt seinen Vater, die beiden finden Clara Haber nur noch tot auf dem Rasen vor dem Haus liegend vor.
Wer war diese Frau, die keinen anderen Ausweg sah, als mit dieser Verzweiflungstat ein Zeichen zu setzen?
Clara Immerwahr wurde 1870 als jüngste Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie in Breslau geboren. Ihr Vater besaß eine Chemiefabik und Clara erlangte dadurch eine frühe Beziehung zu den Naturwissenschaften. Als ehrgeizige und äußerst intelligente junge Frau schaffte sie es - auch mit der Unterstützung des Elternhauses - eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Die Wissenschaft war Ausgangs des 19.Jahrhudnerts noch eine reine Männerdomäne. Clara setzte sich aber gegen alle Widerstände durch und erhielt im Dezember 1900 als eine der ersten Frauen in Deutschland die Doktorwürde. Sie war die erste weibliche Wissenschaftlerin, die das auf dem Fachgebiet der Chemie erreichte.
Aus Anlass ihrer Promotion veröffentlichte sie ein Bekenntnis, dass sie nie entgegen ihren Überzeugengen schreiben oder sprechen und die hehren Ideale der Wissenschaft immer achten werde. Sie verstand diese Äußerung nicht als ein Lippenbekenntnis sondern beschloss auch, auch danach zu leben.
1901 heiratete sie ihren Wissenschaftlerkollegen Fritz Haber, ebenfalls Jude, ebenfalls Chemiker. Sie hatte ihn viele Jahre zuvor bei einem Tanzkurs kennengelernt. Seinen Heiratsantrag hatte sie damals abgewiesen, um ihre wissenschaftlichen Ambitionen verfolgen zu können. Jetzt vertraute sie darauf, dass sich der gemeinsam gefasste Plan umsetzen ließe, innerhalb ihrer Beziehung die wissenschaftliche Betätigung für beide Partner zu ermöglichen.
Das Paar zog nach Karlsruhe und Clara schaffte es zunächst tatsächlich Ehe und Wissenschaft miteinander zu vereinbaren. Dies änderte sich mit der Geburt des Sohnes im Jahre 1902, die unter Komplikationen verlief und sie zu einer längeren Auszeit zwang. Während sie selbst immer weniger forschend tätig sein konnte, machte ihr Mann eine große Karriere, bei der Clara zunächst noch zuarbeitend tätig war. 1911 erhielt Haber den Ruf zur Leitung des gerade gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie in Berlin. Claras Aufgabengebiet verlagerte sich immer mehr in die Richtung der Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Rolle als Ehefrau des berühmten Institutsleiters. Populärwissenschaftliche Vorträge zum Thema „Chemie in der Küche“ wurden zu ihrer letzten wissenschaftlichen Betätigung.
Mit dem Beginn des ersten Weltkrieges eröffnete sich auch der Nährboden für antisemitisches Gedankengut. Fritz Haber war als Jude in seiner Position umstritten, obwohl er bereits 1893 zum Katholizismus konvertiert war. Durch seine Pionierarbeit in der Entwicklung chemischer Kampfstoffe erhielt er die Gelegenheit, seine patriotische Gesinnung dem deutschen Kaiserreich gegenüber zu beweisen. Für Clara stellten diese Bestrebungen einen unlösbaren moralischen Konflikt dar, dem sie sich nur durch ihren Freitod entziehen konnte.
Fritz Haber flog noch am Tage des Selbstmordes seiner Frau an die Front, um weitere Giftgaseinsätze zu koordinieren. In der Folgezeit wurde Claras Ansehen durch ihn und besonders auch in biografischen Erinnerungen seiner zweiten Frau öffentlich beschädigt, indem sie als psychisch labil und geistig verwirrt dargestellt wurde. Die Machtergreifung der Nazis zwang ihn als Juden, Deutschland zu verlassen. Er starb 1934 in Basel an einem Herzinfarkt.
Fritz Habers Ansehen in der Wissenschaft ist wegen seiner großen wissenschaftlichen Verdienste trotz seiner Rolle als Erfinder der chemischen Kampfstoffe ungebrochen. Die wissenschaftliche Forschungsstätte der Freien Universität Berlin, die sich heute an dem Ort befindet, wo Clara Immerwahr sich das Leben nahm, trägt den Namen „Fritz-Haber-Institut“.
Das Gedächtnis an die mutige Einstellung seiner Frau wurde erst in den Siebzigerjahren belebt. 1991 stiftete die Internationale Vereinigung für Ärzte gegen den Atomkrieg einen Preis für hervorragende Leistungen von Wissenschaftlern gegen Krieg und Militarismus: Die „Clara-Immerwahr“-Medaille.
Es ist angemessen, dass dieser Preis nach ihrem Mädchennamen benannt wurde. Denn sie handelte gemäß der wörtlichen Bedeutung dieses Namens. Trotz aller schwierigen Umstände blieb für sie die anständige Rolle der Wissenschaft „immer wahr“.