Berlin-Festival, Tag eins, 6.9.2013, Flughafengelände Berlin-Tempelhof

  • Achtung. Dieser Text ist teilweise politisch unkorrekt.


    Schon der Einlass ist ein absurdes Spektakel. Obwohl die Pforten seit halb eins mittags geöffnet sind, muss ich, als ich gegen fünf erscheine, einmal für die Kartenkontrolle warten, dann durch ein Labyrinth wanken, um für die Sicherheitskontrolle anzustehen, danach folgt im Inneren der ehemaligen Abfertigungshalle überraschenderweise eine dritte Schlange auf mich. Hinter den Check-In-Countern sitzen mitteljunge, mittelhübsche Frauen mit Stewardessenkäppis, bei denen ich meine Eintrittskarte gegen ein Bändchen einzutauschen habe. Ein Typ zeigt auf Schalter 15.
    "Ich will aber kein Bändchen", sage ich am Counter. "Ich finde Bändchen blöd."
    "Du musst aber eins nehmen", erklärt die mittelhübsche Frau.
    "Du?"
    "Nein, du."
    "Wir duzen uns?"
    Hilfloser Blick zur Kollegin, die einen Döner mümmelt.
    "Sie müssen bitte ein Bändchen nehmen."
    Ich nehme ihr das bescheuerte Bändchen aus der Hand und stecke es in die Hosentasche. Sie ruft noch etwas, aber ich bin bereits am Hallenende angelangt, wo Dutzende Menschen vor den alten Abfluganzeigen stehen und sie fotografieren. Hübsche Idee, dort ist das Line-Up zu sehen. Es gibt auch weniger hübsche Ideen, etwa große Videopanels, die überall auf dem Gelände hängen und vollkommen idiotische Tweets vollkommen hirntoter Leute anzeigen, die unter dem entsprechenden Häschtäck gepostet wurden. Allerdings wird sich das in Grenzen halten, denn ebenfalls überall sitzen Menschen herum und schauen irritiert auf ihre Smartphones, weil es keine Datenfunkversorgung gibt. Das ist ohnehin die Hauptbeschäftigung auf dem - ansonsten bemerkenswerten - Gelände: auf Smartphones starren. So gegen zehn wird das Netz völlig zusammenbrechen, dem Ansturm erliegen, den fünfzehntausend Leute verursachen, die auf ein Konzert gehen, um von dort Kurznachrichten zu verschicken, Tweets abzusetzen oder Blödsinn auf Facebook. Erst nach dem zwanzigsten Versuch wird es mir zu dieser Uhrzeit gelingen, eine Kurznachricht an einen Freund zu schicken, der auch hier ist.


    Es ist ein strahlender Spätsommertag, es ist warm, von fern hört man leichtes Bummern, aber auf der Hauptbühne tut sich derzeit nichts. Das weitläufige Areal, von dem aus ich früher ein paar Male mit einer einmotorigen Maschine gestartet bin, was immer ein Erlebnis war, ist mit Catering- und Werbeständen gepflastert, es gibt asiatisches Futter und Leberkäse in der Semmel, Pasta und Pizza, aber keine einzige Bratwurst. Überall stehen Dixiklos, die allesamt besetzt sind, obwohl sich zu diesem Zeitpunkt höchstens sieben-, achttausend auf dem betonierten Grund verlieren. Auf dem ehemaligen Flugfeld sind Kitesurfer und Menschen mit Lenkdrachen unterwegs; der kobaltblaue Himmel ist voll davon. Der Wind ist recht stark.


    Ich hole mir ein halbes Bier, das ich aber voll bezahlen muss, und bekomme keine Pfandmarke. Kurz darauf beginnen auf der Hauptbühne die schwedischen The Sounds mit ihrem Set. Eigentlich mag ich die Mucke gelegentlich ganz gerne, aber das, was man jetzt hört, ist eine Karikatur des Bandnamens. Als würden Plastikbecher auf den Mikrofonen hängen. Es ist außerdem sehr leise, und das bisschen Klang wird auch noch vom Wind weggeweht. Zwei- oder dreitausend Leute stehen eher gelangweilt herum und schauen Maja Ivarsson zu, die ziemlich unmöglich gekleidet ist und häufig ins Mikro schreit. Sie bekommt von mir einen Sympathiepunkt, weil sie auf der Bühne raucht. Und gleich wieder einen Abzug, weil sie so scheiße singt.
    Ich versuche, meinen leeren Bierbecher bei der gleichen Frau, bei der ich ihn eine Viertelstunde vorher halbgefüllt gekauft habe, gegen einen zweiten zu tauschen, soll aber erneut Pfand zahlen, weil ich keine Marke habe. Das mache ich nach einem kurzen Disput schließlich auch, lasse den Becher aber zweimal zurückgehen, weil er nicht annähernd voll ist. Immerhin nur 4 Euro für 0,4 Liter. Labbriges Warsteiner. Ich bin schlecht gelaunt, obwohl die Sonne strahlt.


    Um mich herum seltsame Menschen. Viele Frauen, deren Röcke aussehen, als befänden sich darunter mehrere Gesäße, und ich befürchte, schon wieder einen wichtigen Modetrend verpasst zu haben. Andere, deren Kleidung schreit: "Hey, seht, so jung könnte ich aussehen, wenn ich noch jung wäre." Beauty is in the eye of the viewer. Wäre ich Zielgruppe, würde in meinen Eiern Panik herrschen, weil die kleinen Kollegen Angst davor hätten, möglicherweise in so einer Tusse zu landen.


    Ich schlurfe zum Hangar 2, in etwa achthundert Metern Entfernung, um die Villagers zu sehen. Sie spielen bereits, als ich ankomme, obwohl es erst in ein paar Minuten losgehen sollte. Conor J. O'Brien trägt eine Sonnenbrille, aber der Auftritt findet in der Halle statt. Ich hasse es, wenn Leute auf der Bühne Sonnenbrillen tragen. Deutlicher kann man nicht zeigen, dass man das Publikum scheiße findet (es nicht einmal sehen will) und nur wegen der Kohle hier ist. Entsprechend verläuft der Auftritt, der runtergerotzt wird. Immerhin ist der Sound ganz okay, aber Spaß hat offenkundig niemand. Beim letzten Stück flog die Sonnenbrille ins Publikum, wie mir später erzählt wurde, aber da war ich längst weg. Vorbei an Hangars, in denen DJs vor niemandem auflegen. Einer Halle mit irgendwelchem Kunstzeugs. Verkaufsständen. Werbeständen der Telekom, von Alfa Romeo und solchen Buden. Einem Stand, an dem es Lebkuchenherzen gibt, wie auf einer Kirmes, aber niemand kauft sie.


    Auf der Hauptbühne spielen inzwischen Mia. Die Sängerin mit dem wirklich schlauen Künstlernamen Mieze Katz (früher: nur Mieze) trägt eine Art Korsage und zeigt Mut zur Hässlichkeit, weil ihre Proportionen nicht annähernd zur Kleidung passen. Die gefühlt knapp einen Meter hohe Frau wechselt das Outfit allerdings häufiger, während die gefühlt drei Meter hohen männlichen Menschen in Sanitäterkluft um sie herum so tun, als würde die Luft brennen, wobei sie wie Pubertanden auf einer Klassenfete zappeln. Tatsächlich wippen ein paar Leute im Takt dieser Ostrock-Renaissance mit Popelementen, aber Begeisterung will nicht aufkommen. Ich muss an Nina Hagen denken, die hier so dämlich imitiert wird, und frage mich nicht zum ersten Mal, warum ich überhaupt auf dem Festival bin. Stimmt. Wir wollten mal wieder auf ein Festival gehen, mein Kumpel und ich. Blur sehen. Nur ist mein Kumpel noch nicht da. Ich hole mir das dritte Bier, während "Tanz der Moleküle" erklingt und höchstens zwei, drei Dutzend Leute der Aufforderung folgen, mitzuklatschen. Mir kommt das seltsam vor. Hier sind viele Menschen, die auch gutgelaunt aussehen, aber die Bands mag offenbar keiner so richtig. Ich frage mich, was die Briten und Skandinavier, von denen es augenscheinlich eine große Zahl gibt, von Mia. halten. Mieze Katz. Großer Gott.


    Danach Get Well Soon, wieder im Hangar, also nach dem dritten Kilometer Fußmarsch. Das ist wirklich nette, intelligent arrangierte Popmusik, und Konstantin Gropper hat tolle Einfälle. Die anfangs vielleicht tausendfünfhundert Leute, die in der Halle stehen, reduzieren sich auf die Hälfte während des Auftritts. Hier stimmt nichts. Sehr gewollt, sehr gekünstelt, nicht ganz reizlos zwar, aber auch diese Band wäre eigentlich lieber woanders. Ich kann das verstehen, aber ich habe dafür bezahlt, hier zu sein, während die Herrschaften auf der Bühne Geld bekommen. Ich zucke die Schultern, hole mir ein weiteres Bier (man fragt nicht einmal nach der Pfandmarke) und bemerke, dass ich eine SMS erhalten habe. Gesendet vor einer Stunde. Mein Kumpel ist hier. Aber ich kann leider nicht antworten, weil das Netz überlastet ist. Stattdessen stelle ich mir ein Menü aus Tiefkühlfrühlingsrollen und "Pulled Pork" zusammen. Au weia, schmeckt das schlimm. Leider bin ich hungrig.


    Hauptbühne, Pet Shop Boys. Ich habe keine Ahnung, wer das Line-Up zusammengestellt und die Bands gebucht hat, aber mit der Frische und Modernität, die das Design des Festivals vermitteln soll, hat das musikalische Angebot unterm Strich wenig zu tun. Neil Tennant ist fast sechzig. Ich stelle mich trotzdem vor dem Mischpult auf und harre der Dinge. Die Bühne wird von Werbung für das aktuelle PSB-Album beherrscht, sonst ist da nur ein verkleideter Keyboard-Aufbau zu sehen. Um mich herum einige schwule Pärchen, aber das Publikum ist prinzipiell gut durchgemischt. Immerhin sind viele jetzt hier, weil im Hangar nichts Brauchbares mehr läuft.
    Tennant und Lowe sind die einzigen, die sich heute Abend verspäten. Vielleicht sind sie ein bisschen darüber verschnupft, nicht Headliner zu sein. Für mich gehören sie überhaupt nicht hierher. Sondern auf regenbogenfarbene Ü40-Partys.
    Ich habe schon viel gesehen, und auch viel Mist, aber was jetzt folgt, das sprengt alle Grenzen. Vollplayback, das auch noch ständig aussetzt. Gurkiger Sound, die Amps clippen andauernd. Zwei alte Männer, die sich so viel bewegen wie alte Männer eben, dafür tragen sie absurde Kostüme. Hin und wieder ein paar Tänzer, die ebenfalls seltsame Kostüme tragen. Viel Licht und Laser. Vor allem aber ein beschissener Unlive-Auftritt bei ständig versagender Technik. Nicht einmal die entsprechenden Paare finden Gefallen an ihrer Ballermann-Tuckenmucke, es gibt Buhrufe und Pfiffe. Ich absentiere mich, treffe endlich meinen Kumpel am Bierstand. Wir informieren uns über das Niveau der jeweiligen Fassungslosigkeit. Seine ist fast so groß wie meine. "Go West" ertönt hinter uns aus der Konserve. Zwei oder drei Leute am Rand jubeln, ein paar herumstreunende Menschen machen ein paar Tanzschritte. Kurz darauf ist es vorbei, fast ohne Schlussapplaus.


    Doch zum Glück gibt es Damon Albarn. Nicht viele Menschen verdienen das Etikett "musikalisches Genie", Albarn jedoch ganz sicher. Wegen Blur. Wegen der Gorillaz. Auch wegen The Good, The Bad & The Queen. Vor allem aber, weil er den egomanen Schafebegattern, die sich Oasis nannten, gezeigt hat, was Britrock sein kann.
    He's got morning glory, and life's a different story.
    Der Auftritt versöhnt mit vielem, fast mit allem. Jung sieht er aus, und er wirkt entspannt, genießt es, hier und vor uns auf der Bühne zu stehen. Einer, der nichts mehr beweisen muss, der es nicht nötig hat, sich zu inszenieren. Er tanzt herum, kommt ins Publikum, dazu spielt eine zehnköpfige Band, nebst Bläsersatz und Background-Vocals. Das Set ist ein Best-of, was wenig wundert, denn das letzte Album von Blur ist vor zehn Jahren erschienen. Alles ist dabei, und es endet - natürlich - mit "Song 2", um kurz vor Mitternacht. It wasn't easy. But nothing is, no.


    Festivals sind Veranstaltungen, bei denen zwanzig Bands spielen, die man nicht mag, vielleicht eine, die man liebt (deshalb geht man hin), und zwei der drei, die man sich mal anhören würde. Neunzig Prozent der Zeit werden von Musikern bestritten, die eigentlich keiner sehen will (was die wiederum ganz genau wissen), aber wenn man nur den Rest zeigen würde, wär's eben kein Festival mehr, sondern ein ganz normaler - verkürzter - Gig mit zwei oder drei Supports. Irgendwo - vermutlich auf Facebook - zieht eine Festivalplakat-Karikatur ihre Kreise, auf der steht als Line-Up: "Eine unbedeutende Band. Noch eine unbedeutende Band. Eine Band, die mal bedeutend war. Newcomer #1. Newcomer #2. ... Newcomer #51. Eine ältere Band, die mal sehr bedeutend war. Noch eine ältere Band, die vielleicht mal sehr bedeutend war. HEADLINER 1, kennen aber nur wenige. HEADLINER 2, wäre woanders Support. HEADLINER 3 - ja, die wollen wir vielleicht sehen." Das trifft den Kern. Selbst bei den ganz großen Festivals, von Hurricane bis Roskilde, muss man sich das Angebot schönsaufen. Was ja auch Spaß machen kann, aber aus dem Alter bin ich einfach raus, außerdem weiß ich inzwischen, dass sich Schönheit und Suff ausschließen.


    Immerhin geht es schnell nach draußen, sogar wohlgeordnet. Mein Kumpel will morgen abermals herkommen, weil er Björk sehen will, was ich, um ehrlich zu sein, nicht ganz verstehe. Wir verabschieden uns, er zwinkert mir zu: "Ich gehe aber erst um halb elf hin." Direkt zum Auftritt von Björk. Gute Idee.


    Siebzig Tacken. Sieben Stunden. Sechs Bier. Fünfmal auf Klo. Eine gute Band.
    Keine schöne Bilanz.

  • Danke für den sehr amüsanten Bericht. :grin Blur sind ja meines Erachtens immer ein gewisses Maß an Strapazen wert. Wobei ich ja finde, dass das Genie des Damon Albarn in der Kombi mit dem des Graham Coxon noch höher zu bewerten ist. Ich hoffe, daher immer noch auf ein neues Album der beiden Querköppe.


    Die Pet Shop Boys waren 2011 schon Support von der Take That Reunion Tour mit Robbie Williams und mein Eindruck damals war exakt der, den Du geschildert hast. Sie liefen allerdings bei mir schon in den 80ern in der Kategorie "Musik, die die Welt nicht braucht". :rolleyes

    With freedom, books, flowers and the moon, who could not be happy? - Oscar Wilde


    :lesend Rock My World - Christine Thomas