Anmerkung: Ja, "Memento" wird als Jugendbuchreihe vermarktet, allerdings halte ich die Romane für Jugendliche nur bedingt geeignet. Deswegen poste ich die Rezension bei der SF, wo diese postapokalyptische Reihe hingehört.
Lübbe Baumhaus (Mai 2013)
Originaltitel: Fuse
Hardcover mit Schutzumschlag
541 Seiten, 16,99 EUR
ISBN: 978-3-8339-0186-7
„Ein zerfetzter Horizont, wie von Krallen zerschlissen – doch die drei Krallenabdrücke sind nur verkrüppelte Bäume. Drei Bäume in einer Reihe, als würden sie den Boden an den Himmel tackern.“ (Seite 7)
Die Welt liegt in Trümmern. Asche verdunkelt den Himmel, weht als Todeshauch durch zerstörte Straßenzüge, lagert sich in den Lungen der Überlebenden ab. Auf Mauerresten sieht man eingebrannte Schatten, in menschlicher Haut glitzern eingeschmolzene Glassplitter und Metallteile. Teilweise sind Menschen auch mit anderen Menschen verschmolzen. So wie die Mütter, deren Kinder auf ewig mit ihnen verbunden sind. Und so wie El Capitán, dessen Bruder Helmud mit ihm verwachsen ist. Der jüngere Bruder wiederholt scheinbar stumpf El Capitáns Worte – manchmal scheint sein Echo aber auch eine Bedeutung zu haben. Nach den Bombenangriffen führte El Capitán die Überlebenden zu einer kleinen Armee zusammen, junge Menschen wurden in diese Truppe hineingezwungen. Cap, wie ihn seine Freunde nennen, hat viel Unrechtes getan, doch seit er Pressia kennt, hat er sich verändert. Er kämpft jetzt für die Überlebenden, ebenso wie Pressia und Bradwell. Auch sie sind verbrannt und missgestaltet: Bradwell ragen drei Vögel aus dem Rücken und Pressia hat anstelle einer Hand einen Puppenkopf. Sie sind die Unglückseligen – doch sie sind menschlicher als jene, die im Kapitol als „Reine“ leben. Ohne Verbrennungen, ohne Verschmelzungen. Mit geschlossenen Augen.
„Die Feuerblume“ erzählt die Geschichte von „Die Überlebenden“ nahtlos weiter: Patridge, der Sohn des Anführers, ist aus dem Kapitol entkommen. Er hat sich in der finsteren Welt außerhalb der schützenden Kuppel durchgeschlagen und seine Schwester Pressia gefunden. Und er hat die Wahrheit über seinen Vater herausgefunden – den größten Massenmörder der Geschichte. Er hat Patridges Bruder getötet. Seine Mutter. Und Abermillionen Menschen. Denn es waren die Menschen aus dem Kapitol, es war sein eigener Vater, der die Bomben fallen ließ. Um die Welt, wie sie war, auszulöschen. Um irgendwann als Reine in ein neues Eden aufzubrechen und die Überlebenden, die Unglückseligen, als Menschen zweiter Klasse für sich arbeiten zu lassen. Nun, da Patridge geflohen ist, schickt das Kapitol Roboterspinnen, die sich an die Überlebenden haften und sie ihn die Luft sprengen. Ein Mädchen wurde von ihnen gereinigt und verbreitet nun die neue Botschaft: „Wir wollen unseren Sohn zurück … Solltet ihr dieser Bitte nicht nachkommen, werden wir die Geiseln umbringen“ - Patridge muss auf diese Erpressung eingehen und kehrt zurück ins Kapitol. Währenddessen suchen Pressia, Bradwell, El Capitán und Helmud weiter nach einer Möglichkeit, das Kapitol zu stürzen …
„Ein vertrauter Geruch steigt Pressia in die Nase: dicht gedrängte Behausungen, Baracken und Hütten mit Planendächern, rauchige Luft und Asche, die fast ununterbrochen vom Himmel fällt wie Puderschnee. Der Geruch ihrer Heimat, ihrer Kindheit, ein scharfer Schwefelgeschmack tief in ihrer Kehle. Es ist nicht falsch, sich danach zurückzusehnen. Auch eine vergiftete, trostlose Kindheit darf man vermissen.“ (Seite 94)
„Memento“ – Der Titel von Julianna Baggotts Trilogie ist ein Mahnmal. Das letzte bisschen Glück in einer Welt, in der es keine Hoffnung zu geben scheint. Die Überlebenden erinnern sich an das Davor, die Bombenangriffe liegen erst wenige Jahre zurück. Ihre Erinnerungen sind den Menschen heilig: Das Frühstück mit der Familie wird zu einem Schatz, der das erstarrte Herz ein klein wenig wärmt. Wird zu purer Verzweiflung, weil alle tot sind. Trotzdem machen die Menschen weiter, überleben in einer Welt, die gestorben ist. Die ermordet wurde. Das Unvorstellbare, dass wenige Menschen sich zu einer selbsternannten Elite aufschwingen und den Rest der Menschheit vernichten, ist eingetreten. Die technischen Möglichkeiten waren da und sie wurden genutzt. Der Massenmord am eigenen Volk spiegelt den Wahnsinn des Krieges – und für Deutsche wohl das Dritte Reich, wo die Ideologie das eigene Volk dahinraffte. Wo der Wahnsinn ein ganzes Land und schließlich einen ganzen Kontinent in an Abgrund riss. Die Parallelen sind beängstigend und machen „Memento“ trotz seines phantastischen Szenarios (Verschmelzungen mit Glas, Plastik, Sand und sogar anderen Menschen) beklemmend realistisch: Es ist keine Fiktion, dass Menschen sich über andere Menschen stellen und sie unterdrücken. Sie umbringen. Es ist keine Fiktion, dass Menschen wegsehen. Und es ist keine Fiktion, dass manche Menschen, die nichts mehr haben, anderen die Hand reichen.
Pressia, Bradwell und El Capitán leben in einer Welt, in der sie nur gemeinsam noch eine Chance haben. In der Menschen und Tiere mit dem Boden verschmolzen sind und sich in bizarre Kreaturen verwandelt haben. Die drei leben in einer trostlosen Welt, in der sie dennoch kleine Hoffnungsschimmer finden und in der sie sich ihre Menschlichkeit bewahren. Vor allem Bradwell, der unablässig nach der Wahrheit sucht, verschließt niemals die Augen: Er sieht sie an, all die missgebildeten Menschen, ihre Narben, ihre Verstümmelungen, ihre Verschmelzungen. Er ist stolz auf seine Narben. Auch El Capitán lernt allmählich, seinen mit ihm verschmolzenen Bruder zu akzeptieren, in ihm mehr zu sehen als eine schwachsinnige Last. Pressia hingegen tut sich mit ihrer verlorenen Hand schwer - und mit den Brandnarben. Im Gegensatz zu den anderen erinnert sie sich nicht an das Davor, ab und an tauchen jedoch flüchtige Eindrücke aus ihrem Unterbewusstsein auf. Schreckliche Bilder. Pressia hat alle verloren, die sie geliebt hat. Und jetzt empfindet sie etwas für Bradwell. Ihre Liebe ist zugleich einfach und kompliziert. Sie ist glaubwürdig in einer Welt, in der alles verbrannt ist. Zart, unbeholfen, verzweifelt – und stark.
„Jetzt habe ich das Gefühl, dass wir nicht füreinander geschaffen sind, sondern dass wir uns gegenseitig erschaffen, dass wir uns gegenseitig zu den Menschen machen, die wir sind. Verstehst du das?“ (Seite 356)
Die Jugendbuchelemente wirkten in „Die Überlebenden“ noch deplatziert, fügen sich jedoch in „Die Feuerblume“ wesentlich besser in die düstere Geschichte ein. Die Charaktere sind dem Leser ans Herz gewachsen und während dem Lesen fällt auf, wie viel vom Auftakt der Trilogie im Kopf hängen geblieben ist. Von der ersten Seite an ist man wieder mittendrin in dieser zerstörten Welt, die Julianna Baggott mit ihrem schlichten Stil gekonnt umschreibt. Ihre verstörende Poesie erinnert an Cormac McCarthys „Die Straße“ und oftmals muss der Leser einen dicken Kloß im Hals schlucken, bevor er weiterlesen kann. Diese Tiefe macht „Memento“ jedoch für die jugendliche Zielgruppe schwierig, denn entweder haben die jungen Leser noch nicht die Reife für einen solchen Roman oder ihnen fehlt noch die emotionale Festigkeit. Was Menschen hier anderen Menschen antun, ist unvorstellbar und gleichzeitig Realität. Man denke daran, was im Dritten Reich passiert ist. Man denke daran, was gerade in Syrien passiert.
Man stelle sich vor, was alles passieren könnte, wenn die Menschen die technischen Möglichkeiten aus „Memento“ hätten. Auch diejenigen, die sich im Kapitol in Sicherheit, leiden. Sie schweigen die Wahrheit tot, während sie unter der Kuppel gefangen sind und niemals den Himmel sehen. Nicht sehen (wollen), was ihre Anführer getan haben. Sobald jemand verhaltensauffällig wird, verschwindet er im Therapiezentrum und wird einer Gehirnwäsche unterzogen. Die eigenen Kinder werden instrumentalisiert, sie werden verhaltenscodiert. Damit sie gute, reine Menschen sind. Damit sie für das Kapitol zu technisch verbesserten Spezialkräften werden, die die Unglückseligen jagen. Der Wahnsinn scheint keine Grenzen zu kennen. Und auch wenn alles doch ziemlich phantastisch (und somit unrealistisch) ist, stimmt dieser Wahnsinn nachdenklich. Die Wahrheiten von „Memento“ liest man zwischen den Zeilen, in einfachen Worten, die plötzlich die Welt bedeuten.
Fazit
In „Memento – Die Feuerblume“ ist es Julianna Baggott gelungen, die Jugendbuchelemente mit ihrem finsteren Szenario in Einklang zu bringen. Kaum eine Dystopie geht so weit: Die Welt wurde ermordet. Menschen haben andere Menschen zum Sterben zurückgelassen und sehen weg. Was hier in einen phantastischen Rahmen gespannt wird, ist ein Spiegel realer Kriege und Verbrechen, aber auch ein Spiegel der Hoffnung und Menschlichkeit. Die Charaktere sind durchweg glaubwürdig und dem Leser unfassbar nah, sie kämpfen um ihr Recht zu leben und um die Wahrheit. Ein Roman, der unter die Haut geht und den Leser sprachlos innehalten lässt. Verstörend und zutiefst berührend.