'Vaterland' - Teil 1

  • Oh noch gar niemand da??? :wow Na sowas, Leserundenestarterin war ich auch noch nie!


    Aber das Buch las sich für mein Empfinden wirklich gut. Nur im ersten Kapitel haben mich die vielen Namen und noch mehr die Amtsbezeichnungen im Lesefluss gebremst. Die Bezeichnungen merke ich mir grundsätzlich eh nicht, bei den Namen versuche ich es zumindest, ist ja doch hilfreich wenn ich weiß, wer wer ist :lache.


    Die Krimihandlung beginnt unspektakulär - ein zunächst unbekannter Toter, ohne sichtbare Gewalteinwirkung aus dem Wasser gezogen - klingt (noch) nicht sehr spannend. Wird wohl erst interessant, wenn sich die Brisanz des Todesfalles zeigt.


    Xaver März ist ein typisch zerrissener Krimiheld, geschieden, Probleme mit dem Sohn, kniet sich in Arbeit. Dazu ein Freigeist. Die Jahre auf dem U-Boot haben ihn geprägt und vor der Gesellschaft entfremdet, dazu kommt ein anderes Denken, was sich sehr schön in der Szene mit der jüdischen Familie gezeigt hat. Mich wundert nur, wie er in seiner Stellung kein Parteimitglied sein kann?!


    Besonders gut gefällt mir die Einbeziehung der fiktiven Zeit und der Umgebung in die Handlung. Die Stadtrundfahrt mit den monströsen Bauten in Kapitel 3 genauso wie die Zeitungslektüre in Kapitel 4 zeigen für mich sehr behutsam eingebaut wie das Leben in Harris Großdeutschland aussieht. Die menschenverachtende Ideologie kommt immer wieder durch. Genau diese Atmosphäre habe ich mir erhofft und so bin ich damit mehr als zufrieden! Was mir auch positiv aufgefallen ist, ist die Einbindung tatsächlicher Ereignisse z. B. der Beatles-Auftritt! Grinsen musste ich auch ganz am Anfang bei der Beschreibung der "indianischen Begräbnisstätte". :-]


    Aufgefallen ist mir die Große Reichshalle mit dem eigenen Klima. Kann das so funktionieren - Wolken in einem Gebäude??? Der Wasserdampf müsste doch irgendwo kondensieren und dann höchstens hinabtropfen - aber feiner Regen?

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Zumindest wurde so eine riesige Halle und viele der Bauten ja wirklich geplant. Der berühmte Gigantismus der Nazis. So ein paar Bauten gibt es ja davon sogar heute noch.


    Die Atmosphäre gefällt mir auch richtig gut. Ich habe nur ein paar Probleme, mir diese widerliche System in 1964 vorzustellen. Die Europäische Gemeinschaft gibt es, die Beatles gibt es und und und. Aber es ist schön mit diesen kleinen Randerscheinungen.


    Gewundert habe ich mich über die SA-Nennung. Die ist eigentlich mit dem Röhm-Putsch 1934 fast bedeutungslos geworden. http://de.wikipedia.org/wiki/Sturmabteilung


    Dafür gab es den Josef Bühler wirklich: http://de.wikipedia.org/wiki/Josef_B%C3%BChler


    So, weiter zum zweiten Abschnitt. Den hatte ich heute gleich im Anschluss gelesen ohne anzuhalten (aber ich hatte ohnehin keine Online-Möglichkeit).

  • Das Buch liest sich wirklich relativ flüssig und flott.


    Seite 35, 180.000 Personen in der Halle. Das ist ja wirklich die reinste Gigantomanie! In dem Buch, das ich gerade ausgelesen habe, gab es eine so große Halle. Die faßte gerade mal läppische 35.000 Personen (oder so). Und ich dachte schon, die wäre groß. Wobei das mit dem eigenen Klima ein interessanter Gedanke ist.


    Apropos Gigantomanie: ich weiß, daß eine Breitspur Bahn in den Osten geplant war, welche Spurweite, habe ich vergessen. Schon in Arbeit war eine Riesenlok, nämlich die BR 53. > Hier Informationen und Modellbild <. Gebaut wurde die nie, ein Märklin-Modell gab es vor Jahren davon jedoch trotzdem.


    Nach der Definition (S. 37, gleiches Kapitel) wäre ich auch ein Asozialer, denn ich bin auch überall „Nichtmitglied“.


    Als März die Zeitung durchblättert, empfand ich das als ziemlich gespenstisch. Ob das wirklich so gekommen wäre???


    Zitat

    Original von Lese-rina
    Nur im ersten Kapitel haben mich die vielen Namen und noch mehr die Amtsbezeichnungen im Lesefluss gebremst.


    Stimmt, diese Probleme habe ich auch immer noch (mitten im 2. Abschnitt). Irgendwie tue mich mich damit ziemlich schwer. Ob das nur am Kontrast zum vorherigen Buch (das ich zudem auf Englisch las) liegt?



    Zitat

    Original von xexos
    Gewundert habe ich mich über die SA-Nennung.


    Ich auch. Meine Kenntnisse des Dritten Reiches sind zwar eher rudimentär, aber daß die SA da keine große Rolle mehr spielte, so viel weiß ich immerhin doch. Auch sind mir noch ein paar Kleinigkeiten aufgefallen, zum Beispiel saß im England des Jahres 1964 die gleiche Person auf dem Thron, die dort heute noch sitzt. Nämlich Queen Elizabeth II.


    @ xexos
    Danke für den Link zu Bühler! Da hat Harris ja einiges an historischen Fakten eingearbeitet und entsprechend weiterentwickelt.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von SiCollier
    Auch sind mir noch ein paar Kleinigkeiten aufgefallen, zum Beispiel saß im England des Jahres 1964 die gleiche Person auf dem Thron, die dort heute noch sitzt. Nämlich Queen Elizabeth II.


    Das ist mir auch aufgefallen. Harris spielt hier auch mit der Frage Was wäre wenn ... und lässt Eduard nicht abdanken, sondern mit Wallis auf dem englischen Thron sitzen. Das erklärt auch die fiktiv guten Beziehungen Großdeutschlands zu England, Eduard war ja da auch in Wirklichkeit in der Frage sehr zwiespältig zu sehen (wenn man Wikipedia glauben darf). Trotzdem kann ich mir eine Europäische Gemeinschaft unter diesen Voraussetzungen so gar nicht vorstellen!!! Aber gerade diese Spielerei zwischen Fiktion und Geschichte finde ich so interessant!


    Danke für die interessanten Links! Bei Bühler hätte ich nicht gedacht, dass der historisch ist!

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Ich hab gleich die Anmerkungen des Autors gelesen, die in meiner englischen Ausgabe am Ende stehen. Da erklärt er ganz gut welche Personen geschichtliche sind.


    Im englischen Text fand ich es anfangs störend, dass soviele deutsche Ausdrücke drin sind. Zumindest erklärt er sie, aber für mich störte es anfangs den Lesefluss. Dafür heißt der Protagonist "March". Dachte mir schon, dass es März sein sollte. Frage mich nur welche besondere Bedeutung der Name hat. Sonst hätte er ja auch einen richtigen deutschen Namen wählen können.


    Die Mischung aus realer und erfundener Geschichte find ich sehr interessant und alles in allem auch in sich schlüssig. Die Beatles in Hamburg hatten mich etwas überrascht. Aber da waren sie ja noch am Anfang ihrer Karriere, spätere Auftritte in Nazi Deutschland, wenn allen diese frivole Musik bekannt ist, kann ich mir nicht vorstellen.

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

  • Die Anglifizierung des Namens hat Harris nur für März gemacht. Alle anderen sind auch im englischen Text richtig deutsch. Max Jäger ist kein "Hunter" sondern nur Jaeger.


    Mir fällt zum März nur der Kapp Putsch im März 1920 ein. Damals verloren die Rechten ...

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

  • Zitat

    Original von Beatrix
    Ich hab gleich die Anmerkungen des Autors gelesen, die in meiner englischen Ausgabe am Ende stehen. Da erklärt er ganz gut welche Personen geschichtliche sind.


    Danke für diesen Hinweis! :wave In meiner (deutschsprachigen) Ausgabe finden sich diese Anmerkungen auch. Leider kann ich momentan mit den meisten Genannten noch nicht viel anfangen.


    Die Anglifizierung des einen Namens finde ich auch merkwürdig. Passt dieser fremdländisch klingende Name für ein Buch über Nazi-Deutschland? Vielleicht bekommen wir ja im Lauf der Lektüre eine mögliche Erklärung.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Mit dem Ende des ersten Teils komme ich so langsam in die Stimmung und die Umgebung des Romans rein. Am Anfang habe ich mich damit schwer getan. Dabei ist die Stimmung von Harris wirklich gut aufgebaut worden. Es erscheint einem nur wie eine weit entfernte Welt mit gigantischen Vorstellungen (wenn man an all die Bauten denkt).


    Der Nachname März des Protagonisten hat mich auch gewundert. Am Anfang hatte ich zwischendurch Probleme nicht an den Monat zu denken, wenn ich den Namen lese. Aber das spielt sich mit der Zeit ein. Noch interessanter ist ja, dass er in der englischen Ausgabe auch noch übersetzt wurde.


    Vielleicht hat Beatrix mit ihrer Verbindung recht und der Name soll darauf verweisen, dass März, wie schon so im Text angedeutet, nicht der große überzeugte Nazi ist und einfach auch anders denkt.


    Ich bin auch schon gespannt, wie das mit seinem Sohn weitergeht, der ihn ja hasst (die Szene fand ich richtig traurig) und inwieweit die Gestapo ihm noch Scherereien bereiten wird.

  • Zitat

    Original von Lese-rina
    Das ist mir auch aufgefallen. Harris spielt hier auch mit der Frage Was wäre wenn ... und lässt Eduard nicht abdanken, sondern mit Wallis auf dem englischen Thron sitzen.


    Stimmt, so gesehen hast Du recht.



    Zitat

    Original von Lese-rina
    Trotzdem kann ich mir eine Europäische Gemeinschaft unter diesen Voraussetzungen so gar nicht vorstellen!!!


    Das dann wieder schon, vermutlich in der Art des früheren „Warschauer Pakts“.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von xexos
    Der Name März/March ist sicher kein Zufall. Das einzige was mir einfiel ist die Nähe zu Hitlers Geburtstag im April. Nur, wo ist da die tiefgründige Idee? :gruebel


    "March" ist auch ein Fluss in Tschechien, aber das bringt uns wohl nicht weiter. Oder ganz einfach das englische "marschieren"?

  • Zitat

    Original von Lese-rina


    Das ist mir auch aufgefallen. Harris spielt hier auch mit der Frage Was wäre wenn ... und lässt Eduard nicht abdanken, sondern mit Wallis auf dem englischen Thron sitzen. Das erklärt auch die fiktiv guten Beziehungen Großdeutschlands zu England, Eduard war ja da auch in Wirklichkeit in der Frage sehr zwiespältig zu sehen (wenn man Wikipedia glauben darf).


    Danke für die Hinweise zum britischen Königshaus. Das ist mir gar nicht aufgefallen und hab´s nun erstmal nachgelesen. Witzig, wie Harris mit geschichtlichen Ereignissen und Personen spielt.

  • Auch ich habe gestern Abend den 1. Teil gelesen.


    Mein bisheriger Eindruck ist ganz gut. Ich muss mich natürlich erst noch ein wenig in das Buch hineinfinden und mich auf die fiktive Geschichte einlassen.


    Zitat

    Seite 35, 180.000 Personen in der Halle. Das ist ja wirklich die reinste Gigantomanie! In dem Buch, das ich gerade ausgelesen habe, gab es eine so große Halle. Die faßte gerade mal läppische 35.000 Personen (oder so). Und ich dachte schon, die wäre groß. Wobei das mit dem eigenen Klima ein interessanter Gedanke ist.


    Auch mich haben diese gigantischen Bauwerke fasziniert und noch mehr abgeschreckt. Alleine die Vorstellung, dass kondensierter Atem als Regen auf die Menschen niederfällt *schüttel, wie ekelig ist das*


    Furchtbar fand ich auch diese ewige Selbstbeweihräucherung bei den Stadtrundfahrten. Alles ist noch größer und herrlicher, wie sonstwo auf der Welt. Das graue und miese Regenwetter fand ich sehr stimmungsvoll. Eine schrecklich, unangenehme Vorstellung.


    Interessant finde ich März schon, ich kann ihn noch nicht wirklich einordnen. Ist er nun ein Nazi und hat nur keine Lust auf große Menschenversammlungen (Vereine, Plätze etc.), da er ein Einzelgänger ist. Ist er ein echter Regimegegner... .wahrscheinlich entwickelt er sich dazu. Ich bin gespannt, wie es weitergeht.


    Paule, den Sohn von März ist mit seinen 10 Jahren schon ganz schön Gehirn gewaschen. Mir gefällt der neue Mann an der Seite von März's Ehefrau gar nicht. Armer März, muss schlimm sein vom eigenen Sohn als "Asozialer" beschimpft zu werden - auch wenn man weiß, dass Kinder noch nicht wissen können, was sie damit anrichten. Für den Kleinen ist der Vater eben anders als die anderen und das ist schlimm für ihn.


    Mal sehen, wie es weitergeht.... ganz schön düster das Ganze :lesend

  • Ich bin dann jetzt auch dabei!
    Bin ganz gut reingekommen, auch wenn ich nach dem ersten Abschnitt immer noch nicht weiß, was die nächsten 400 Seiten eigentlich passieren soll. Bisher gefällt mir diese Vermischung der historischen Fakten mit den Was-Wäre-Wenn-Überlegungen..besonders Edward und Wallis auf dem britischen Thron fand ich sehr amüsant. :grin


    Zitat

    Original von Beatrix
    Im englischen Text fand ich es anfangs störend, dass soviele deutsche Ausdrücke drin sind. Zumindest erklärt er sie, aber für mich störte es anfangs den Lesefluss. Dafür heißt der Protagonist "March". Dachte mir schon, dass es März sein sollte. Frage mich nur welche besondere Bedeutung der Name hat. Sonst hätte er ja auch einen richtigen deutschen Namen wählen können.


    Das störte mich zu Beginn auch. Dabei sind es nicht die Personennamen sondern die Berufsbezeichnungen und vor allem die Straßennamen, die mich stolpern lassen. Aber es geht langsam, ich gewöhne mich daran. :-)


    Zitat

    Original von Lese-rina
    Xaver März ist ein typisch zerrissener Krimiheld, geschieden, Probleme mit dem Sohn, kniet sich in Arbeit. Dazu ein Freigeist. Die Jahre auf dem U-Boot haben ihn geprägt und vor der Gesellschaft entfremdet, dazu kommt ein anderes Denken, was sich sehr schön in der Szene mit der jüdischen Familie gezeigt hat. Mich wundert nur, wie er in seiner Stellung kein Parteimitglied sein kann?!


    March ist mir bisher esehr sympathisch, aber wie er sich durchmogelt, ohne irgendwo eingebunden zu sein, verstehe ich auch noch nicht. Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist. Allerdings wurde ja auch schon erwähnt, dass er nicht befördert wird und viel mehr Arbeit verrichtet, als eigentlich notwendig ist.


    Zum Namen: Ich musste an die Ides of March denken, die für Verrat und Umbruch stehen. Vielleicht wird March wegweisend für den Anbruch einer neuen Zeit und bringt den Wandel?
    Iden des März


    Zitat

    Original von pinky75
    Furchtbar fand ich auch diese ewige Selbstbeweihräucherung bei den Stadtrundfahrten. Alles ist noch größer und herrlicher, wie sonstwo auf der Welt. Das graue und miese Regenwetter fand ich sehr stimmungsvoll. Eine schrecklich, unangenehme Vorstellung.


    Jaaaa, das war schrecklich!!! Ich habe nur mit den Augen gerollt und mich gefragt, wie bitter es sein muss, wenn man sich ständig mit anderen misst und alle Errungenschaft an bereits bestehende Bauten angelehnt sind. Nichts ist typisch deutsch, alles ist von irgendwo her abgekupfert. Und das schlimmste ist, dass das niemand außer March zu merken scheint.

  • Zitat

    Original von pinky75
    Interessant finde ich März schon, ich kann ihn noch nicht wirklich einordnen. Ist er nun ein Nazi und hat nur keine Lust auf große Menschenversammlungen (Vereine, Plätze etc.), da er ein Einzelgänger ist. Ist er ein echter Regimegegner... .wahrscheinlich entwickelt er sich dazu.


    Momenten schätze ich ihn nicht so ein. Dann wäre er nicht nach über 30 Jahre Naziherrschaft an dieser Position. Meiner Meinung nach ist er ein Mitläufer, der erst nach und nach drauf kommt, dass hier so einiges schiefläuft. Erste Ansätze gibt es ja, als er nach der Familie Weiß forscht und sich über sie Gedanken macht.


    Zum März ist mir (dank dem Link von Schwarzes Schaf) noch die Märzrevolution eingefallen, bei der es ja (auch) um den Kampf um Freiheit und Demokratie ging. Vielleicht ein Wink in diese Richtung?

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021