Über das Buch:
Nach dem Tod ihrer Mutter wächst Romy bei ihren vom Holocaust traumatisierten jüdischen Großeltern auf. Gefangen in diesem Käfig aus Erinnerungen, die nicht ihre eigenen sind, sucht sie nach einem Ausweg. Sie schnüffelt an den Lacken im Keller, probiert die Tabletten der Großmutter und schließlich auch den Stoff, der bereits ihrer Mutter den Tod brachte: Heroin. Romy landet schließlich auf der Straße. Sie lässt sich treiben, verdingt sich eine Weile in Istanbul, bevor sie sich verliebt und das Leben nicht mehr gelb, sondern golden strahlt. Aber auch das goldene Strahlen der Liebe kann die Schatten über Romys Leben nicht vertreiben …
Über die Autorin:
Ramona Ambs, geboren 1974 in Freiburg, studierte Germanistik und Pädagogik an der Universität Heidelberg. Publikation von Gedichten und Essays in verschiedenen Anthologien während des Studiums, seit 2003 freie Journalistin und Autorin. „Die radioaktive Marmelade meiner Großmutter“ ist ihr Debütroman.
Meine Meinung:
Gebundenes Buch, schmal, gerade einmal 126 Seiten.
Vorbemerkung, daran anschließend der Romantext, beginnend mit Kapitel 135. Warum das so ist, wird einleuchtend begründet: Das erste Kapitel sei quasi eine Lüge, es gebe immer schon ein Vorher. Sagt Romy.
Und damit ist man gleich mittendrin, mitten im Roman, mitten in der Buchvorstellung, kein Ausweichen, keine Ablenkung, keine Distanzierung möglich. Nicht für Romy, nicht für mich.
Romy ist Halbwaise, lebt bei ihren Großeltern, den Vater besucht sie dann und wann. So könnte man beginnen, hätte den Anfang geschafft und hätte nicht einmal die halbe Wahrheit gesagt. Romys Mutter starb an einer Überdosis Heroin, ihre Großeltern leben das Leben von Holocaustopfern, können nichts anderes mehr leben. Welcher Weg ist da vorgezeichnet?
Romys „Karriere“ ist nicht einzigartig, aber bedingungslos. Konsequent fast. Mit 12 erste Drogenerfahrungen, mit 13 geht sie Anschaffen, mit 16 nach einer Überdosis Entzug in einer Klinik. Hilft es? In wie vielen Fällen kann es helfen?
Große Liebe, Grove, so heißt er, so nennt sie ihn. So hieß er, so lange er lebte. Zu früh stirbt er, zu früh für sich und für Romy.
Sie schafft die Schule, trotzdem, sie studiert. Und immer wieder: Drogen, Prostitution. Und immer wieder der Versuch, davon loszukommen. Lesen hilft. Zahlen helfen, Geometrie manchmal. Fotografieren hilft – und leitet das Ende ein.
Der Schluss: Ein Schuss, ein goldener. Konsequent, so kommt es mir vor.
Das ist nicht nur Romys Geschichte. Darein verwoben die der Großeltern, die der Mutter, wenigstens in Teilen. Der Holocaust ist immer präsent, er prägt den Alltag, immer noch. Das Jüdisch-Sein, das Anders-Sein wird Romy nicht vorenthalten, sie bekommt es zu spüren, ob es für sie nun eine Rolle spielt oder nicht. Das Leid und das Leiden, beides hört nicht auf, nicht für die Opfergeneration, nicht für die Enkelgeneration.
126 Seiten und ein Leben darin aufgezeichnet. Fast nüchtern, zu nüchtern, distanziert manchmal. „...niemand außer mir leidet“ sagt Romy einmal (Seite 53), es ist das fast Äußerste, was ihr zu entlocken ist. Die Ich-Perspektive, in der dieses Leben erzählt ist, entfaltet eine unglaubliche Sogwirkung. Ein Roman über Sucht, das Suchtpotential entwickeln kann. Ich konnte es jedenfalls nicht mehr aus der Hand legen. Ein Konzentrat, anders kann ich das Erzählte fast nicht bezeichnen.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“. So heißt es. Im Leben und im Sterben, so heißt es auch. Romys Leben hat seine eigene Würde, sie versucht, sie zu behalten, auch wenn es immer weniger wird. Hilft die Distanz zu sich selber, zu den Handlungen, die man – scheinbar – selbstbestimmt vornimmt, um bei sich zu bleiben? Um das eigene Ich immer zu akzeptieren? Keine Fragen für die Allgemeinheit, jeder muss sie für sich beantworten.
„Die radioaktive Marmelade meiner Großmutter“ ist ein Buch voller Traurigkeit, nüchtern, aber kraftvoll und mit überraschenden poetischen Momenten und mit Sätzen, die wunderbar wahrhaftig sind.
Ein großartiges Debüt. Eine Autorin, die eine Menge zu sagen hat. Man wird sie im Auge behalten müssen.
Eine große Leseempfehlung von mir. Auch wenn die Themen so traurig sind. Und auch, wenn Hitler wieder einmal gesiegt hat (Seite 125).
Das Buch gehört zu den diesjährigen Kandidaten für die Hotlist-Kandidaten (unter „Deutschsprachige Erzählungen“ aufgelistet). Daumendrücken soll ja helfen. Also mach ich das mal.
---
Edit hat zu vermerken, dass man aus Träumen keine Worte werden lassen sollte. Drum musste ich leider eine Kleinigkeit berichtigen. Weils Daumendrücken nicht gereicht hat.