Kurzbeschreibung:
"Leben retten durch Organspende" so der Aufruf vieler Werbebroschüren in Arztpraxen und Apotheken. Doch der Hirntod - Voraussetzung für die Entnahme von transplantierbaren Organen ist in der Fachwelt keineswegs allgemein akzeptiert.
Anna Bergmann und Ulrike Baureithel blicken mit diesem Buch hinter die Kulissen der Organspende. Anhand von Gesprächen mit Ärzten, Pflegepersonal und Organempfängern zeichnet sich eines deutlich ab: Der Mensch muß das "neue Leben" durch die Organtransplantation mehr als teuer bezahlen.
Dieses Buch ist ein eindringlicher Appell gegen die zunehmende Technisierung und Entmenschlichung medizinischer Praxis, die mit der Fragmentierung des Menschen in brauchbare Organe vor allem eins aufs Spiel setzt: die Würde des Todes.
über die Autorinnen:
Anna Bergmann forscht am Kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin und lehrt als Gastprofessorin für Kukturwissenschaft an der Universität Graz, Österreich.
Ulrike Baureithel arbeitete unter anderem als Wissenschaftsredakteurin und ist freie Journalistin in Berlin.
Meine Meinung:
Dieses Buch war für mich in manchen Teilen wirklich nur sehr schwer zu lesen, weil es Themen anspricht, denen man sich eigentlich lieber entzieht und obwohl mich die Themen Sterben und Organspende seit einigen Jahren bedingt durch meine ehrenamtliche Tätigkeit in der Begleitung sterbender Menschen ohnehin sehr berühren, haben mich die Schilderungen teils sehr mitgenommen. Dieses Buch ist nichts für sensible Gemüter! Dennoch sollte man es lesen, wenn man sich umfassend mit dem Thema beschäftigen möchte, denn es lässt alle Beteiligten zu Wort kommen. Und damit auseinandersetzen sollte man sich spätestens, seit die Krankenkassen und manche Einwohnermeldeämter Informationsmaterial zum Thema Organspende austeilen und um eine Entscheidung bitten.
Die beiden Autorinnen haben mit ihrem Buch, das als Wissenschaftsbuch des Jahres 2000 ausgezeichnet wurde, sehr umfassende Informationen zusammengetragen. Sie sprachen mit Transplantationsmedizinern, Angehörigen von Organspendern und Organempfängern, mit Pflegepersonal, mit Psychologen und Ethikern. Alle kamen in diesem Buch zu Wort. Ihre teils schonungslosen Statements waren es, die mich das Buch zeitweise aus der Hand legen ließen.
Der Untertitel „Das Dilemma der Organspende“ lässt es schon vermuten - es ist ein vielschichtiges Thema. Aber der Reihe nach:
Das Buch ist unterteilt in 7 Hauptkapitel
Wie ein Spender entsteht
Tod ist immer eine Definitionssache - die Praxis der Hirntoddiagnostik
die intensivmedizinische Vorbereitung eines Spenders
ergebnisoffener Auftrag - das Gespräch mit den Angehörigen
vom Hirntod zum totalen Tod: die Organentnahme
Das „neue“ Leben mit dem „neuen“ Organ
Spendebereitschaft: „Das ist eine mentale Geschichte“
und einen Ausblick.
Angehängt sind noch Anmerkungen, ein Literaturverzeichnis, ein Glossar und biografische Hinweise zu den interviewten Personen, die ich sehr hilfreich fand.
Man muss das Buch im Kontext zu seiner Entstehungszeit lesen. Ich hatte die 1. Auflage aus dem Jahr 1999; es gab noch eine 2. Auflage im Jahr 2001. Somit ist das Buch um die Zeit des Erlasses des Transplantationsgesetzes (1997) entstanden. Eine Neuauflage ist nicht in Sicht.
Die gesetzlichen Grundlagen haben sich seit 1997 nicht wesentlich geändert. Voraussetzung für die Entnahme von Organen ist nach den Vorschriften des Transplantationsgesetzes neben dem Vorliegen eines Organspendeausweises oder der Zustimmung der Angehörigen zur Entnahme der Hirntod des Patienten. Das dürfte schon den meisten potentiellen Organspendern nicht ganz geläufig sein, denn im amtlichen Organspendeausweis der Stiftung Organspende steht nichts von Hirntod, sondern dort willigt der mögliche Spender in eine Organentnahme nach seinem Tod ein. Der Unterschied ist jedoch gravierend.
Organe aus Leichen sind nicht übertragbar, die entnommen Organe müssen lebensfrisch sein. Lebenden Menschen darf man jedoch keine Organe entnehmen, deshalb standen die Mediziner zu Beginn der Transplantationsmedizin vor einem ziemlichen Dilemma. Die Spender müssen so tot wie nötig und so lebendig wie möglich sein, um die relativ kurze Zeitspanne der Verwendbarkeit der Organe auszunutzen. Um Mediziner nicht dem Vorwurf des Tötens auszusetzen, wurde der Hirntod als Tod des Menschen definiert.
Jahrhundertelang galten sichere Todeszeichen: Stillstand des Herzens und der Atmung, Leichenblässe, Totenstarre, Totenflecke und beginnende Verwesungsprozesse. Diese Zeichen sind bei hirntoten Menschen allesamt nicht vorhanden. Hirntote Patienten erwecken eher den Eindruck von Komapatienten, sie sind zwar ohne Bewusstsein, jedoch warm, durchblutet; durch apparateunterstützte Technik schlägt das Herz und der Stoffwechsel funktioniert. Hirntote Männer können eine Errektion bekommen und hirntote Frauen können Kinder austragen. Nach der seit 1997 gesetzlich festgeschriebenen Definition gilt ein Mensch als hirntot, wenn der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstammes nach Regeln, die dem Stand der Wissenschaft entsprechen, festgestellt worden ist. Diese Regeln bestimmt nicht das Gesetz, sondern werden durch die Bundesärztekammer fortgeschrieben. Die Autorinnen belegen durch die vielschichtigen Interviews, dass gerade der Stand der Wissenschaft auf sehr wackeligem Boden steht. Zunehmend wird auch von wissenschaftlicher Seite angezweifelt, dass das Hirntodkonzept heute noch haltbar ist. Es gibt Verfechter, die weiter am Hirntodkonzept festhalten, aber ebenso namhafte Kritiker, die den Tod des Menschen anhand dieser Kriterien anzweifeln.
Verwundern mag auch, dass der (gesetzliche) Todeszeitpunkt durchaus variabel ist. Nach Beendigung der Hirntodfeststellung gilt der Mensch vor dem Gesetz als verstorben. Das Gesetz erfordert eine zweimalige Hirntoddiagnostik von zwei voneinander unabhängigen in der Diagnostik erfahrenen Ärzten. Aber wann genau ist der Mensch jetzt tot? Am Ende der ersten oder der zweiten Untersuchung? Was ist, wenn am Wochenende kein erfahrener Hirntoddiagnostiker erreichbar ist, oder zur Diagnose erforderliche Gerätschaften erst herangeschafft werden müssen?
Untermauert werden die Zweifel durch die Aussagen des Pflegepersonals, das den längsten und intensivsten Kontakt zu den hirntoten Patienten hat. Nach deren Empfinden ist der Patient erst am Ende der Explantation "richtig" tot, wenn der Herzschlag infolge der Explantation des Organs oder nach der völligen Ausblutung des Körpers aussetzt. Dann verwandelt sich der Mensch vor den Augen des OP-Personals, die oft als letzte den OP verlassen, von einem Moment in den anderen in eine wirkliche Leiche - mit allen bekannten Todesanzeichen.
Diesem Personenkreis unter den Interviewten fiel es ausnahmslos schwer, die Hirntoten als Verstorbene wahrzunehmen. Sie sind es, die im Rahmen der Pflege und der Umlagerung Widerstände bei den Patienten wahrnehmen, die nicht zum deklarierten Leichenstatus passen. Es erschreckt Intensiv- und OP-Pfleger, wenn der Patient, der zur Explantation auf den OP-Tisch gelegt wird, mit plötzlichen Bewegungen reagiert. Nicht selten beobachten sie starke Lebenszeichen bei den vermeintlich Toten. Im Augenblick des Aufschneidens des Körpers vom Brust- bis zum Schambein reagieren die Spender nicht selten mit einen plötzlichen Anstieg von Blutdruck und Puls, Hautrötungen, und mit Schwitzen, manchmal mit Bewegungen - allesamt Reaktionen, die bei einem Lebenden unzweifelhaft als Schmerzreaktionen gelten. Dabei dürfte ein Toter keine Schmerzen mehr haben. Die Befürworter der Hirntotdiagnostik erklären das mit spinalen Reflexen - Restreaktionen des Rückenmarks. Um solche irritierenden Reaktionen auszuschließen, verabreichen einige Anästhesisten Muskelrelaxantien und/oder Narkotika. Eine Narkose für eine Leiche? Für Angehörige, die nach der Explantation noch einmal Abschied von ihren Verstorbenen nehmen möchten, ist der Blick in den oftmals verzerrten und entstellten Gesichtsausdruck ihrer Angehörigen viel eher ein Zeichen, das der Hirntote doch noch ein Restempfinden hat. Eins, das Mediziner, die mit Elektroden, die bis zu einer Tiefe von 4 cm im Gewebe nach Hirnströmen suchen, aufgrund fehlender EEG-Ausschläge bestreiten.
Die Methodik der Hirntoddiagnostik ist jedoch weitaus umfangreicher, die Autorinnen gehen auf die einzelnen Schritte ausführlich ein. Eine Aufzählung würde hier jedoch den Rahmen sprengen, sie erwähnen aber durchaus auch kritische Stimmen namhafter Neurologen, dass einige dieser Untersuchungsmethoden den Hirntod erst auslösen können, wenn man dieses Untersuchung bei komatösen Patienten durchführt. Dazu zählen der Apnoetest und die Angiografie.
Interessant sind die Ausführungen der Autorinnen über die unterschiedlichen Ansichten zur Organspende zwischen Ärzten und Pflegepersonal. Erstere stehen doch großteils hinter dieser Therapie, während die Angehörigen der Pflegeberufe - insbesondere die Intensivpflegekräfte auf neurologischen Stationen der Organspende häufig sehr ablehnend gegenüberstehen. Manchmal wird den Pflegern von einigen Ärzten einfach die erforderliche Kompetenz abgesprochen; sie verfügten über unzureichendes Wissen, um über Hirntod und Organspende hinreichend urteilen zu können. Die Autorinnen haben einen anderen Erklärungsansatz. Pfleger verbringen sehr viel Zeit mit Hirntoten, nehmen die Patienten als Ganzes wahr. Ärzte - speziell Transplantationsmediziner - sehen den Spender erstmals auf dem OP-Tisch, abgedeckt, nur mit Blick auf das einzelne Organ, welches sie entnehmen, um dann dem nächsten Team Platz zu machen, das das nächste Organ entnimmt. Der Spender wird nur sehr partiell wahrgenommen, der Fokus der Explanteure liegt nicht auf dem Menschen auf dem OP-Tisch, sondern auf dem Organ, das einem Empfänger zu einer besseren Lebensqualität verhelfen soll.
Die Transplantation ist eine Heilmethode, deren Erfolg unverzichtbar an den Tod anderer Menschen gekoppelt ist. Ein knappes Angebot bei gleichzeitig immer höherer Nachfrage bestimmt den Druck, der auf der Organbeschaffung lastet. Ein würdevoller Umgang mit den Verstorbenen, wie es das Gesetz fordert, bleibt da entschieden auf der Strecke. Hinzu kommt, dass die Werbung um Organspende nicht nur mit dem glücklichen Ausgang für die Empfänger wirbt, sondern gleichzeitig eine Erwartungshaltung schürt, die langsam, aber unmerklich in eine soziale Spendeverpflichtung mündet. Wirklich unlautere Werbung pro Organspende suggeriert, dass jeden Tag Menschen auf der Warteliste für ein Organ sterben, weil nicht genügend Spenderorgane zur Verfügung stehen. Dabei wird die Kausalität zynisch verkehrt. Die Menschen sterben an ihrem schweren Organversagen, nicht an mangelnder Spenderbereitschaft!
Nicht nur der Mythos vom vitalen jungen Unfallopfer als Organspender, sondern auch der vom glücklichen Organempfänger am Beginn eines neuen Lebens ist häufig weit von der Realität entfernt. Die Autorinnen gehen sehr ausführlich auf die Folgen einer im besten Fall erfolgreichen Transplantation ein. Die Empfänger sind nach Erhalt eines Organs nicht gesund, sie tauschen nur die Symptome und bleiben zeitlebens schwerkranke Patienten mit eingeschränkter Lebenserwartung. Die Haltbarkeit der Ersatzorgane ist endlich und erfordert häufig eine mehrmalige Transplantation.
Fazit:
Es wird deutlich, dass die Autorinnen dem Hirntodkonzept als Voraussetzungen für eine Organspende kritisch gegenüberstehen. Sie unterscheiden zwischen lebenden, hirntoten und toten Menschen. Hirntote Menschen sind ihrer Ansicht nach keine Toten, sondern sterbende Menschen. Sterbende Menschen aber bedürfen in höchstem Maße des Schutzes und der liebevollen Begleitung in der empfindlichsten Phase ihres Lebens. Eine würdevolles Sterben ist auf dem OP-Tisch zwischen 10 - 20 Personen, die in Zeitnot ihre Organe entnehmen, nicht möglich.
Das deckt sich mit meinen ganz persönlichen Erfahrungen. Für mich ist der Tod kein Zeitpunkt, sondern ein Prozess, der sich über Stunden bis Tage hinziehen kann. Die Tatsache, dass sterbende Menschen nicht mehr mit ihrer Umwelt interagieren können, ist kein Indiz dafür, dass kein Bewusstsein mehr vorhanden ist, nur weil wir es nicht wahrnehmen. Für mich ist der Körper nicht zerlegbar in seine Bestandteile, sondern eine Einheit aus Körper, Geist und Seele, die sich im Sterbeprozess vom Körper löst. Diesen Prozess möchte ich für mich persönlich ungestört verbringen. Das schließt die Organspende, aber auch den Empfang von Organen für mich aus. Das aber muss für andere nicht auch so gelten. Man muss sich nur beizeiten eine Meinung darüber bilden, schon allein, um seine Angehörigen nicht mit der unsäglichen Last einer derartigen Entscheidung zu belasten.
Allen, die der irrigen Vorstellung anhängen, dass bei potentiellen Organspendern die lebenserhaltenden Maschinen vorschnell abgestellt werden, sei gesagt, dass das Gegenteil der Fall ist. Der Sterbeprozess wird so lange aufgehalten, bis das letzte brauchbare Organ explantiert ist. Das kann insgesamt einige Tage dauern. Sollte das Herz sich dieser Prozedur verweigern, wird es auch schon mal mit Defibrillatoren wieder zum Schlagen gebracht.
edit: ein kleiner Logikfehler hat sich eingeschlichen, den musste ich beseitigen.