Mein persönlicher Höhepunkt bei den Lesungen war jene von Ma Jian, den ich bei der Frankfurter Buchmesse nicht gesehen hatte, als China Gastland war und er vom offiziellen Teil ausgeschlossen war. Seine Werke sind in China seit 1987 verboten, seit 2011 besteht auch ein Einreiseverbot für ihn.
Die 180 Plätze im Lesezelt waren alle besetzt als Ma Jian, seine Ehefrau Flora Drew und die Moderatorin Rosemary Burnett auf die Bühne kamen. Ma Jian selbst sprach durchgängig Chinesisch, seine Frau dolmetschte die gesamte Veranstaltung.
Sein neustes Werk „The Dark Road“ beschäftigt sich mit den Folgen der staatlichen Familienplanung in China, der Titel umschreibt auf Chinesisch auch den Geburtskanal der Frau, für Ma Jian ein ganz besonderer Ort. Meili, die weibliche Hauptfigur steht für die Frauen im sich wandelnden China, die vom Land nach Guangzhou und Shenzhen ziehen, um dort in riesigen Fabriken zu arbeiten, die nach Selbstbestimmung und Freiheit suchen. Sie soll eine äußerst entschlossene Frau sein, die sich mit jeder Faser ihres Körpers gegen die Vorgaben der Regierung wehrt. Ihr Ehemann Kongzi ist ein direkter Nachfahre von Konfuzius (Chinesisch: Kongzi), dessen Charakter komplementär zu dem von Meili angelegt ist. Er repräsentiert die dunklen, konservativen Stimmen, die Druck auf Meili ausüben, einen Stammhalter zu gebären, der den Familiennamen fortführt. Eigentlich dürften Meili und Kongzi keine weiteren Kinder bekommen, denn sie haben bereits eine Tochter.
In den letzten Jahre hat der lange verschmähte Konfuzianismus durch die chinesische Regierung eine Wiederbelebung erfahren, allerdings nach Ma Jians Erfahrungen auf der Grundlage eines nur vagen Verständnisses. Er habe nichts dagegen, dass traditionelles Gedankengut an modernes Denken angepasst wird, wie z.B. in Hinsicht auf die Rechte der Frauen. Traditionen seien wichtig für eine Gesellschaft und könnten Selbstsicherheit geben, so wie er es am Wochenende selbst bei den Highland Games erlebt habe. Es sei jedoch wichtig, diese Traditionen zu verstehen und vernünftig in unsere heutige Zeit zu übernehmen bzw. eben anzupassen.
In jedem alten Volk sei der Glaube an Geister verbreitet gewesen, egal wo auf der Erde und besonders ausgeprägt im alten China. In „The Dark Road“ spricht der Geist des ungeborenen Kindes von Meili. Diese Idee ist tief im chinesischen Glauben verwurzelt, nach dem der Geist eines ungeborenen Kindes bei der Frau bleibt, bis es geboren wird. D.h. bei einer Fehlgeburt oder Abtreibung würde der Geist des Kindes weiterhin bei der Frau verweilen.
Meili flieht immer wieder vor den Behören, drei Schwangerschaften in neun Jahren…. begleitet von der Stimme des ungeborenen Kindes. Auch dies passt zur traditionellen chinesischen Gedankenwelt, in der die Zeit als zyklisch empfunden wird und das Auge des all-sehenden Geistes uns stets beobachtet.
Ma Jian las einen kurzen Abschnitt auf chinesisch aus der in Taiwan erschienen Originalausgabe, dann las Flora Drew eine längere Passage aus der englischen Ausgabe seines neusten Werkes.
Nachdem Ma Jian den Rohentwurf zu „The Dark Road“ geschrieben hatte, reiste er zur Recherche nach China, dies war noch bevor ein Einreiseverbot für ihn verhängt wurde. Zuerst war es schwierig, Menschen zu finden, die ihm fundierte Auskunft über die negativen Auswirkungen der erzwungenen Ein-Kind-Politik geben konnten bzw. wollten. Seit dem Olympischen Spielen war von der Regierung ein dicker Mantel des Schweigens über dieses Thema gelegt worden. Schließlich wurde er in seiner alten Heimatstadt Shandong fündig und hörte grauenvollen Geschichten über Spätabtreibungen, bei denen der Arzt völlig abgestumpft nur kurz gesagt habe „Schade, war ein Junge“ oder Kinder trotzdem noch stundenlang weiterlebten. Ma Jian hörte nicht „nur“ über solche Ereignisse, sondern sah auch die enorme Umweltverschmutzung, die Lebensbedingungen der Menschen z.B. in Guangxi und in Sichuan, erlebte gewaltsame Demonstrationen gegen die Ein-Kind-Politik bei denen Beamte in Brand gesteckt wurden. Er reiste nach Guiyu, wo er sich als Arbeitssuchender ausgab und Furchtbares sah und hörte. (Electronic Waste in Guiyu, Elektroschrott in Guiyu, Spiegel 10/2013 zu diesem Thema)
Nirgendwo sonst in China gäbe es so viele fehlgebildete Kinder, Fehlgeburten und sei es so schwierig, überhaupt schwanger zu werden. Gleichzeitig würden Frauen im gebärfähigen Alter wie Verbrecherinnen behandelt, sie würden alle drei Monate kontrolliert, ob sie schwanger seien. Nur Reiche könnten sich davon freikaufen und zur Geburt weiterer Kinder ins Ausland reisen. Ma Jian hörte von einem Professor, der durchsetzte, dass seine Frau in China ein zweites Kind zur Welt bringen durfte und daraufhin seinen Arbeitsplatz verlor und eine Strafe in Höhe von 20 Jahresgehältern bezahlen musste.
Eigentlich hatte Ma Jian nach der Geburt seiner ersten beiden Kinder über das Leben an sich schreiben wollen, nachdem es in "Peking-Koma" um den Tod ging. Gleichzeitig konnte er nicht schweigen, angesichts dessen was er in China sah und hörte. Er sieht seine Aufgabe als Schriftsteller darin, Probleme in der Gesellschaft aufzuzeigen. Er freut sich, wenn er hört, dass das Leben seiner noch in China lebenden Geschwister mit der Zeit besser wird und fragt sich, warum sie nicht so zornig über die noch vorhandenen Ungerechtigkeiten dort sind. Die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens hätten ihn zornig gemacht, diesmal sei er jedoch niedergeschlagen gewesen. 60 Millionen Kinder würden in China bei den Großeltern aufwachsen, weil die Eltern sich nicht selbst um sie kümmern könnten, ständig würden Kinder entführt, Kinderhandel sei überall präsent.
Die Gebärmutter sollte der sicherste Platz überhaupt für ein ungeborenes Kind sein, nicht ein Ort der Gefahr vor Menschen, die der Ansicht wären, dass Säuglinge, egal wie alt, vor der Geburt keine Gefühle hätten. Ihm sei bewusst, dass er mit einem Buch nicht die Gesellschaft verändern könne, hoffe jedoch, diese Dinge ins Bewusstsein zu rufen. Auch wenn Ma Jian immer wieder betonte, er sei nicht mehr zornig, waren seine Emotionen deutlich zu spüren und seine Frau musste ihn mehrmals an die eigentlichen Fragen erinnern und ein wenig ausbremsen. Er hoffe, dass China sich mit der Zeit wandeln und auch das Leben in Orten wie Guiyu besser werde.
Das Publikum war gefesselt und als Fragen gestellt werden durften, berichtete ein Frau, dass sie zwei Mädchen aus chinesischen Waisenhäusern adoptiert habe. Ma Jian bedankte sich bei ihr, dass sie den Kindern die Chance auf ein besseres Leben gebe.
Eine sehr bewegende Veranstaltung mit einem interessanten Autor, dessen neustes Werk hoffentlich bald auch auf deutsch erscheint.