Dear Nobody - Berlie Doherty (ab ca. 14 J.)

  • OT: Dear Nobody erstmals erschienen 1991



    Chris liebt Helen und Helen Chris über alle Maßen, von Herzen, und bislang ohne Schmerzen. Die Schmerzen finden sich eher im Familienalltag der beiden. Chris lebt mit seinem jüngerem Bruder bei seinem Vater. Seine Mutter hat die drei vor einigen Jahren von einem Tag auf den anderen verlassen. Der Vater spricht nicht darüber, der kleine Bruder kann sich kaum an seine Mutter erinnern. Chris vermißt sie sehr.
    Helen, still und sensibel, leidet unter einer allzu strengen Mutter. Aber die nahe Aussicht auf Veränderungen mildert die Probleme. Helen wie Chris stehen kurz vor dem Abitur, Chris wird danach studieren, Helen ans Konservatorium gehen. Die Zukunft kann beginnen.


    Tatsächlich hat sie schon begonnen, nur völlig anders, als die beiden es sich vorgestellt haben. Helen wird schwanger. Sie wehrt sich zuerst gegen die Erkenntnis, muß sich ihr dann aber doch stellen. Ihren Eltern verschwiegt sie es, wie zunächst auch Chris, statt dessen beginnt sie, an das Ungeborene zu schreiben. „Liebes Niemand’, nennt sie es. In diesen Briefen schreibt sie über alle Ängste, Unsicherheiten, Schwierigkeiten. Sie werden Zeugnisse ihrer Selbstfindung.


    Als Chris von der Schwangerschaft erfährt, ist er sofort bereit, Helen zur Seite zu stehen. Allerdings ist er unfähig, die Worte umzusetzen. Er ist verloren, wird passiv, kapituliert vor dem Problem. Er verbeißt sich in den Gedanken, seine Mutter zu finden und die alte Familienbeziehung wieder aufleben zu lassen. Es gelingt ihm wirklich, seine Mutter zu treffen, seine Erwartungen allerdings erfüllen sich nicht.
    Dann trifft Helen eine Entscheidung, die die Weichen für ihre Lebenswege wiederum neu stellt.


    Diese Buch erschien erstmals 1991 und gewann auch gleich die Carnegie Medal, den englischen Kinder - und Jugendbuchpreis. Das ist verständlich und befremdlich gleichermaßen. Verständlich deswegen, weil Doherty äußerst realistisch das Seelenleben zweier Teenager in einer Extremsituation zeichnet. Helens Entwicklung, ihr ambivalentes Verhältnis zu dem entstehenden Kind, ihre Zukunftsängste und ihre Neuorientierung innerhalb ihrer Familie, ist ein beeindruckendes Porträt einer sehr jungen Frau. Ihr gegenüber steht Chris, ein für sein Alter noch recht kindlicher Achtzehnjähriger, der immer noch unter der Trennung seiner Eltern leidet und deswegen unfähig, über die Gegenwart wie über seine Zukunft Entscheidungen zu treffen.


    Doherty greift verschiedene Probleme zum Thema ‚Familienbeziehungen’ auf und diskutiert sie ausführlich, ehrlich und modern. Umso mehr erschüttert es eine, wenn sie die bis dahin überzeugenden Figur der Helen plötzlich ausscheren läßt. Statt eine Beziehungsgeschichte, die dem ausgehenden 20. Jahrhundert angemessen wäre, dementsprechend zu Ende zu bringen, schwenkt sie um auf ein Märchen von edlem weiblichem Verzicht auf ein Berufsleben zugunsten des Mannes, der damit gleichzeitig aller Verantwortung enthoben wird. Helens Entscheidung wird nicht diskutiert, Chris gütig ins Leben entlassen, damit er erst mal erwachsen wird. Seine neue Freiheit nützt er schon in den Sommerferien nach dem Abitur weidlich aus. Helen konzentriert sich derweil darauf, die Konflikte in ihrer Familie zu kitten. Ihr Musikstudium wird sie irgendwann beginnen. Oder auch nicht, es scheint nicht mehr wichtig zu sein.


    Wie kann man eine so gute Geschichte nur derartig an die Wand fahren!

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Gelesen habe ich diese englische TB-Ausgabe.
    Es empfiehlt sich immer, Doherty im Original zu lesen, weil ihr Sprache präzise und wunderschön ist.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Für ein 1991 erschienenes Buch fand ich die vertretene Ansicht extrem sonderbar, dass eine ungeplante Schwangerschft allein Sache der Frau ist - von Unterhalt für das Kind oder gemeinsamem Sorgerecht gar nicht zu sprechen - und sie sich für die theoretisch denkbare die Karriere des Vaters opfert.


    (2006 gelesen)
    Im letzten Schuljahr bereiten sich die 18-jährige Helen und ihr Freund Chris in Gedanken schon auf ihr zukünftiges Studium vor, als Helen entdeckt, dass sie schwanger ist. Chris lebt mit seinem Vater und einem jüngeren Bruder zusammen; die Mutter hat die Familie verlassen und nicht wieder von sich hören lassen.


    Chris hat von Helen einen Stapel Briefe bekommen, den sie an das Ungeborene "Nobody" geschrieben hat. Die Leser erleben so mit ihm gemeinsam aus der Rückschau Helens Situation. Parallel dazu wird der Alltag der beiden Schüler geschildert. Helen will zuerst nicht wahrhaben, dass sie schwanger ist. Sie würde am liebsten den Kopf in den Sand stecken und als behütetes Kind weiter leben "wie früher". Das Verhältnis zwischen Helen und ihrer Mutter ist gespannt. Frau Garton überfährt ihre Tochter mit ihren autoritären Ansichten und einsamen Entscheidungen. Helen erfährt bald, welche Erlebnisse ihre Mutter geprägt haben und spricht sich mit ihr aus.


    Die Leser haben den größten Teil der Handlung den Eindruck, dass nur Frauen schwanger sind und die jungen Väter weiter leben wie bisher. So ist Helen der Meinung, dass sie sich für Chris opfern muss, damit wenigstens er sein Studium beginnen kann. Positiv für Chris ist, dass es ihm gelingt, den Kontakt zu seiner Mutter wieder aufzunehmen. Am Ende erfahren die Leser, wie Chris in den Besitz der gesammelten Briefe an "Nobody" gelangt ist. Einige Ansichten in dem 1991 zuerst in England erschienenen Buch wirken aus heutiger Sicht sehr konservativ, doch es überzeugt durch die offene, sensible Beschreibung des jungen Paares.

  • Ich bin die ganze Zeit schon am Überlegen, ob es über den bloßen Kniff hinaus, daß es den LeserInnen ermöglicht wird, Helens Briefe zu lesen, irgendeinen Grund dafür gibt, daß Doherty ihren Chris diese Briefe lesen läßt. Anfangen kann er sichtlich nichts damit, Konsequenzen ziehen auch nicht. Er ist höchstens noch mehr betroffen.
    :gruebel


    Ich habe zwischendurch völlig vergessen, daß er sie liest. Mir fehlte sein Blick völlig.




    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Sie hat ihn aus Helens Sicht in Gedanken quasi für unfähig erklärt, sich am Wochenende oder in den Semesterferien an der Kinderbetreuung zu beteiligen, braucht ihn als Figur also nicht. Kompromisse werden erst gar nicht gedacht, wie sich Ausbildungen für beide Eltern organisieren lassen. Die Wirkung auf ein Kind muss doch verheerend sein, dem man später erklären wird, dass sein Vater als Achtzehnjähriger Autofahren, Wählen und Kriege hätte führen können, nur aus der Sicht der Mutter kein Kind versorgen. :gruebel

  • Ja, stimmt. Sie schließt ihn aus.
    Letztlich hat auch Helens Figur einen Bruch in sich. Diese seltsame Hinwendung auf die weibliche Familientradition hat so einen erdverbunden-Große-Mutter-heilige-Weiblichkeit-Touch, den ich für Ende 1980er/Anfang 1990er für überholt halte für eine Achtzenhjährige.


    Nun sitze ich da mit einem Jugendroman, den ich wunderbar erzählt und geschrieben finde, aber im letzten Drittel einfach schei.., schlecht, meine ich, gedacht.
    :cry

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Das Buch ist ja üppigst preisgekrönt worden - obwohl es keine Lösung bietet. Ob es allein dafür gepriesen wird, weil Helen sich für das Kind entscheidet?


    Die Autorin war 1991 selbst noch keine 50 Jahre alt - und ihr wäre das Wissen zumutbar gewesen, dass zu der Zeit schon einige Jahre lang Väter bei der Entbindung dabei waren und Babys keinen Schaden erlitten bei der Betreuung durch den Vater.

  • Gute Frage.
    Angeblich war sie ja auch mal Lehrerin.
    :lache


    Ich habe mir die Bücher, die über die Jahre die Carnegie Medal bekommen habe, mal angeguckt, die Titel, meine ich. Ich kann aber nicht feststellen, nach welchen Kriterien sie vergeben wird, abgesehen davon, daß es exzellent erzählte Geschichten sind.
    Die CM für 'Dear Nobody' war auch schon ihre zweite, sie hat in den 1980ern schon mal eine bekommen.


    Ihre Bücher locken mich aber immer noch, ich habe mir mal ihren historischen und die phantastischen notiert. Ich weiß aber nicht, ob die übersetzt wurden.

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    K. Kraus