OT: Dear Nobody erstmals erschienen 1991
Chris liebt Helen und Helen Chris über alle Maßen, von Herzen, und bislang ohne Schmerzen. Die Schmerzen finden sich eher im Familienalltag der beiden. Chris lebt mit seinem jüngerem Bruder bei seinem Vater. Seine Mutter hat die drei vor einigen Jahren von einem Tag auf den anderen verlassen. Der Vater spricht nicht darüber, der kleine Bruder kann sich kaum an seine Mutter erinnern. Chris vermißt sie sehr.
Helen, still und sensibel, leidet unter einer allzu strengen Mutter. Aber die nahe Aussicht auf Veränderungen mildert die Probleme. Helen wie Chris stehen kurz vor dem Abitur, Chris wird danach studieren, Helen ans Konservatorium gehen. Die Zukunft kann beginnen.
Tatsächlich hat sie schon begonnen, nur völlig anders, als die beiden es sich vorgestellt haben. Helen wird schwanger. Sie wehrt sich zuerst gegen die Erkenntnis, muß sich ihr dann aber doch stellen. Ihren Eltern verschwiegt sie es, wie zunächst auch Chris, statt dessen beginnt sie, an das Ungeborene zu schreiben. „Liebes Niemand’, nennt sie es. In diesen Briefen schreibt sie über alle Ängste, Unsicherheiten, Schwierigkeiten. Sie werden Zeugnisse ihrer Selbstfindung.
Als Chris von der Schwangerschaft erfährt, ist er sofort bereit, Helen zur Seite zu stehen. Allerdings ist er unfähig, die Worte umzusetzen. Er ist verloren, wird passiv, kapituliert vor dem Problem. Er verbeißt sich in den Gedanken, seine Mutter zu finden und die alte Familienbeziehung wieder aufleben zu lassen. Es gelingt ihm wirklich, seine Mutter zu treffen, seine Erwartungen allerdings erfüllen sich nicht.
Dann trifft Helen eine Entscheidung, die die Weichen für ihre Lebenswege wiederum neu stellt.
Diese Buch erschien erstmals 1991 und gewann auch gleich die Carnegie Medal, den englischen Kinder - und Jugendbuchpreis. Das ist verständlich und befremdlich gleichermaßen. Verständlich deswegen, weil Doherty äußerst realistisch das Seelenleben zweier Teenager in einer Extremsituation zeichnet. Helens Entwicklung, ihr ambivalentes Verhältnis zu dem entstehenden Kind, ihre Zukunftsängste und ihre Neuorientierung innerhalb ihrer Familie, ist ein beeindruckendes Porträt einer sehr jungen Frau. Ihr gegenüber steht Chris, ein für sein Alter noch recht kindlicher Achtzehnjähriger, der immer noch unter der Trennung seiner Eltern leidet und deswegen unfähig, über die Gegenwart wie über seine Zukunft Entscheidungen zu treffen.
Doherty greift verschiedene Probleme zum Thema ‚Familienbeziehungen’ auf und diskutiert sie ausführlich, ehrlich und modern. Umso mehr erschüttert es eine, wenn sie die bis dahin überzeugenden Figur der Helen plötzlich ausscheren läßt. Statt eine Beziehungsgeschichte, die dem ausgehenden 20. Jahrhundert angemessen wäre, dementsprechend zu Ende zu bringen, schwenkt sie um auf ein Märchen von edlem weiblichem Verzicht auf ein Berufsleben zugunsten des Mannes, der damit gleichzeitig aller Verantwortung enthoben wird. Helens Entscheidung wird nicht diskutiert, Chris gütig ins Leben entlassen, damit er erst mal erwachsen wird. Seine neue Freiheit nützt er schon in den Sommerferien nach dem Abitur weidlich aus. Helen konzentriert sich derweil darauf, die Konflikte in ihrer Familie zu kitten. Ihr Musikstudium wird sie irgendwann beginnen. Oder auch nicht, es scheint nicht mehr wichtig zu sein.
Wie kann man eine so gute Geschichte nur derartig an die Wand fahren!