Verlöschen

  • Die alte Frau richtete ihre trüben Augen auf das Foto ihrer fünf Kinder. Der Schmerz in ihrem Rücken, an dem sich ein Dekubitus gebildet hatte, war trotz der Liegehilfen kaum zu ertragen. Durch den hochgestellten Kopfteil des Bettes, der ihr eigentlich das Atmen erleichtern sollte, rutschte ihr kraftloser Körper immer weiter nach unten, so dass ihre kalten Füße gegen die untere Begrenzung stießen. Schwäche machte es ihr unmöglich, sich selbst wieder in eine bequemere Position zu bewegen. Und so lag sie, wie ein kleines, dreiunddreißig Kilo schweres Bündel, unbequem zusammengestaucht in der Mitte ihres Schlafplatzes. Aber ihre Persönlichkeit war geschult im Ertragen von Widrigkeiten, dafür hatte das Leben gesorgt.


    Um sich abzulenken schaute sie auf ihre Kinder und besuchte sie in Gedanken. Liebevoll erinnerte sie sich an Geburtstage und besondere Charaktermerkmale. An schöne Zeiten. An Schwierigkeiten. An die Armut der Nachkriegsjahre und die Kraft ihrer eigenen Jugend. Wie eine kleine Sonne wärmten die Gedanken sie innerlich. Sie entspannte sich und schlief mit einem Lächeln auf den blassen Lippen ein.


    Als sie wieder erwachte, war einer ihrer Söhne gekommen. Sie erkannte, dass er sie besorgt ansah und überlegte, wie sie ihm die Sorgen erleichtern könnte. Wenn nur ihre Stimme funktionieren würde! „Gut!“ krächzte sie. „Es geht mir gut!“ Ihr Sohn half ihr, sich bequemer hinzulegen. Liebevoll. „Wie gut, dass ich nicht in ein Heim musste!“ Vom Umbetten erschöpft schloss sie die Augen.


    Beim nächsten Erwachen war der Hals kratzig und trocken. Ihre Jüngste stand am Bett. Sie sprach leise zu ihr und hatte ihre Hände mit den eigenen verschränkt. „Was ist denn das? Ich bin doch noch hier!“ „Unsere Hände“, antwortete die Tochter.


    Ein Lied kam ihr in den Sinn, und sie begann zu singen. „So nimm denn meine Hände“, erklang ihre kraftlose Stimme, die einmal voll Schönheit gewesen war. Den Geschwistern stiegen Tränen in die Augen. „Ich hole die Mundharmonika“, sagte der Sohn.


    Zeit verging. Der Sohn kehrte wieder und spielte „Nehmt Abschied Brüder“. Wenn nur ihre Mundhöhle nicht so trocken wäre. Sie räusperte sich. „Eis“, sagte sie mühsam. „Zitroneneis in der Waffel mit Sahne.“ Ihre beiden Kinder sahen sich fassungslos an. „Du möchtest wirklich ein Eis?“ „Kein Problem“, antwortete der Sohn. Das Eis war wunderbar.


    Erschöpft war sie eingeschlafen, und geweckt wurde sie wieder durch Schmerzen. So konnte es nicht weitergehen! „Ich habe keine Kraft mehr“, dachte sie erstaunt. Sie streichelte die Hände ihrer traurigen Tochter und versuchte, zu trösten. Wieder schmerzte ihr Hals. „Dunkelbier, bitte.“ Der Schmerz musste sich doch irgendwie besänftigen lassen!
    Um siebzehn Uhr machte der Arzt Visite. Bisher hatte sie angebotene Hilfen fast immer abgelehnt, aber nun umklammerte sie seine Hände. „Ich kann nicht mehr, Herr Doktor.“


    Als die Schmerzen leichter wurden, schlief sie dankbar ein. „Sie ist ein ungewöhnlicher Mensch“, sagte der Arzt zu den Kindern. „Es ist einzig ihr Wille, der sie so lange am Leben gehalten hat. Ihr Körper ist bereits weitergegangen.“ Ihr Ältester traf ein.


    Sonntagnachts um zwei Uhr, als ihr Enkel das Zimmer betrat, atmete sie zum letzten Mal

    Wissen Sie, Intelligenz ist ein Rasiermesser: Man kann sie sinnvoll nutzen, sich damit aber ebenso gut auch die Gurgel durchschneiden. Im Grunde ihres Wesens ist sie ungesund. Lem


    The farther one travels, the less one knows. George Harrison

  • Ich finde deinen Text gelungen, Holle. Er wirkt authentisch. Und sehr schön finde ich, dass die Kinder da sind, als die alte Frau kurz vor dem Streben Sterben ist, dass sie nicht alleine ist. Und dass sie sich Zitroneneis in der Waffel mit Sahne wünscht und es bekommt, und danach Dunkelbier.
    Nur diese beiden Dinge, das sagt schon so viel... ein schöner, verdichteter Text.


    Nur im letzten Satz würde ich nicht schreiben "Sonntagnachts...", sondern "Sonntagnacht....". Denn sonntagnachts impliziert etwas, was sich (regelmäßig) wiederholt, also "immer sonntagnachts" - was hier nicht passt.


    Edit sagt: Was für ein seltsamer Fehler... Streben und Sterben. Hm, eher Gegensätze, oder doch nicht?

  • Holle, das berührt mich und gefällt mir gut, aber sprachlich würde ich noch ein wenig feilen, Du springst in den Tempi herum und ich finde auf jeden Fall, dass es das Kopfteil ist.


    Ich melde mich hier selten zu Wort, wenn ich auch eine Menge lese, aber das verdient es in meinen Augen, dass Du daran noch arbeitest!

    :lesend Anthony Ryan - Das Heer des weißen Drachen; Navid Kermani - Ungläubiges Staunen
    :zuhoer Tad Williams - Der Abschiedsstein

  • Danke, dass ihr diese Geschichte wohlwollend gelesen habt, Seelensplitter, ginger ale und Caia! Dankeschön auch für eure Anmerkungen, wie sie besser gestaltet werden könnte!


    Diese kleine Geschichte habe ich Mitte Juli unmittelbar nach dem Tod der Frau nach den erzählten Erinnerungen der Kinder aufgeschrieben. In dieser Zeit habe ich parallel noch über Möglichkeiten der Umsetzung des Schreibwettbewerbs-Themas "Abseits" nachgedacht.


    Die Erzählung wurde im Laufe der Folgezeit noch durch Details ergänzt und vor zwei Wochen auf der Urnenbeisetzung vorgetragen. Die Familie hatte sich die Zusammenfassung des letzten Tages der Mutter als Beitrag zur Beerdigung gewünscht. Die vorgetragene Version war länger und ausgefeilter als diese hier, die 500 Worte lang ist, wie die Geschichten unseres Schreibwettbewerbs.

    Wissen Sie, Intelligenz ist ein Rasiermesser: Man kann sie sinnvoll nutzen, sich damit aber ebenso gut auch die Gurgel durchschneiden. Im Grunde ihres Wesens ist sie ungesund. Lem


    The farther one travels, the less one knows. George Harrison

  • Danke für diese Geschichte. Eine ergreifende Geschichte. Man spürt die Liebe die in dieser Familie innewohnt.

    Man muß noch Chaos in sich haben um einen tanzenden Stern gebären zu können - frei nach Nietzsche
    Werd verrückt sooft du willst aber werd nicht ohnmächtig - frei nach Jane Austen - Mansfield Park

  • Vielen Dank für eure Kommentare, arter und WaterPixie


    Ich habe mich bemüht, bei der Wiedergabe so sachlich wie möglich zu bleiben, und dennoch waren (und sind auch hier bei euch) die Reaktionen auf die Erzählung empathisch und emotional. Diese Echos berühren mich wiederum sehr.


    Es war eine Wohltat für die alte Frau, dass sie von Menschen umgeben war, die ihr nahestanden, sie ernst nahmen, auf sie eingingen und sie auf diese Weise bis zuletzt in ihrem So-Sein wertschätzten.


    Es hat ihr auch gut getan, auf ihre vertrauten Möbel, Gardinen und Familienfotos schauen zu können. So hat sie bis zuletzt nicht realisiert, dass sie - entgegen ihrer Annahme - doch in einem Pflegeheim war. Dennoch war ihr Verstand mit wenigen Einschränkungen bis zuletzt sehr scharf.

    Wissen Sie, Intelligenz ist ein Rasiermesser: Man kann sie sinnvoll nutzen, sich damit aber ebenso gut auch die Gurgel durchschneiden. Im Grunde ihres Wesens ist sie ungesund. Lem


    The farther one travels, the less one knows. George Harrison

  • Danke, ihr wohlwollenden Büchereulen, für´s Lesen und Kommentieren!
    Einen erquicklichen Sonntag wünscht
    Holle

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