"Lotta Wundertüte" von Sandra Roth

  • Eine Wundertüte ist auch dieses Buch!




    Ich bin immer wieder beruhigt, wenn mich mein erster Eindruck nicht trügt. Wie bei diesem Buch! Die Leseprobe hatte mich schon mehr als neugierig gemacht. Endlich mal ein Sachbuch, ein Erfahrungsbericht, der auch mit Verstand geschrieben ist, und der dennoch nicht zu wenig Stoff zum Nachdenken bietet. Deutschland ist ja spätestens seit Betty Mahmoody in einer wahren Flut von "Betroffenheitsliteratur" untergegangen, wobei leider nur die wenigsten "Betroffenen" auch gute Autoren waren. Ganz anders hier!


    Ich muss noch ein wenig weiter die rein literarischen Vorzüge dieses Buches loben, bevor ich auf den Inhalt eingehe. Also: Sandra Roth ist nicht nur die Mutter des schwerbehinderten kleinen Mädchens, sondern auch Journalistin und freie Autorin. Das merkt man auf jeder Seite! Sie hat das Buch erkennbar "für ihre Leser" geschrieben, hat sich bemüht, es interessant zu gestalten. Die Sprache bewegt sich dabei sehr kunstvoll auf einem schmalen Grat zwischen Bericht, journalistischem Essay und Tagebuch. Wirklich sehr angenehm zu lesen! Und die erzählerischen Mittel, die sie einsetzt, sind gut gewählt und platziert.


    Sie schiebt zum Beispiel immer mal wieder rein reflexive Abschnitte ein, in denen sie Stellung nimmt zu gesellschaftlichen Un-Möglichkeiten. Oder zum Verhalten der Menschen in ihrem Umfeld. Sie bringt außerdem öfters kleine "Vorausdeutungen", was die Spannung erhöht - zum Beispiel, "dies sollte das einzige Mal sein, dass..." oder "wir wussten ja noch nicht, dass...". Und sie springt gelegentlich ein wenig im Zeitstrom vor oder zurück, um später tiefer darauf einzugehen. Das alles hält den Leser wirklich gut bei der Stange! Nicht zu vergessen ist das erfreuliche Ausbleiben von zu viel "Fachchinesisch".


    Nun zum Inhalt! Auch hier wurde ich nicht enttäuscht. Das Buch ist einerseits eine Chronik der ersten drei Jahre mit Lotta; andererseits ist es viel mehr als das. Es ist gleichzeitig Tagebuch und gesellschaftliche Anklage. Es bietet jedem Leser zahlreiche Gelegenheiten, in sich zu gehen und sich zu fragen, wie er sich entschieden hätte. Es entlarvt gekonnt allerlei falsche und wohlmeinende Reaktionen. Und es ist vor allem ein bewegendes Denkmal für Lotta, für die Liebe, die ihre Eltern ihr (trotz allem) entgegen bringen. Diese Liebe ist nicht quietschrosa, eher pastellfarben. Aber deswegen umso überzeugender.


    Mehr möchte ich nicht zum Inhalt sagen, da ich ihn sonst zerreden würde. Ich möchte lediglich noch eine Anmerkung machen - wobei ich betonen möchte, dass dies nicht negativ in meine Wertung eingeht.


    Mir ist aufgefallen, dass Frau Roth gewisse Dinge sehr kunstvoll überspringt und auslässt. Absichtlich? Mir persönlich fehlt zum Beispiel völlig der Grund, die Motivation, warum sie dieses Buch überhaupt geschrieben hat. Wer hatte die Idee dazu? Was ist das "Warum" dahinter? Diente das Verfassen des Buches der seelischen Verarbeitung, oder war von Anfang an eine Veröffentlichung geplant? Und woher nahm sie nur die Zeit - laut Buch hatte sie doch dauernd Termine mit Lotta, und kam zu nichts...? So stellt sie es jedenfalls dar. Und die Geschehnisse im Buch enden, wenn ich mich nicht irre, im Jahr 2012. Wir haben jetzt 2013 - nur ein Jahr für das Abfassen, Redigieren, Lektorieren dieses großartigen Textes? Wie hat das nur geklappt?


    Ich persönlich hätte auch gerne mehr über die eigentliche Geburt, und die erste Zeit danach, erfahren. Nicht aus Voyeurismus, sondern weil ich mir Fragen stelle. Wenn ein Kind eine gefährlich veränderte Ader am Kopf hat, wie kann es dann eine natürliche Geburt überstehen?? Oder war es ein Kaiserschnitt? Wir erfahren es nicht. Außerdem habe ich immer wieder gehört, behinderte Kinder seien in der ersten Zeit nur schwer zu füttern. Hierzu gibt es widersprüchliche Angaben im Buch. Einmal sagt Sandra Roth, ihr Sohn habe interessiert beim Stillen zugeschaut. Dann wieder heißt es, die Ernährung Lottas nach der Geburt sei per Milchpumpe und Fläschchen abgelaufen.


    Ich möchte diese Dinge, wie gesagt, einfach nur als "Anmerkungen" stehen lassen. Mir hat das Buch dennoch überaus gut gefallen! Schon lange war ich von einem Sachbuch nicht mehr so gefesselt, und im Innersten angesprochen. Dies ist ein Buch, das ich bedenkenlos weiterempfehlen - und erneut lesen! - würde.

    Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit. (Karl Valentin)

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  • Titel: Jeder muss seine eigenen Entscheidungen treffen...


    Dieses wundervolle Sachbuch wurde mir empfohlen und nach dem Lesen des Buches möchte ich diese Lektüre auch wirklich nicht mehr missen.


    Doch worum geht es genau:


    Sandra Roth ist Mutter eines gesunden Jungen und ist im Herbst 2009 schwanger mit Wunschkind Nummer 2. Doch dann die böse Nachricht: Etwas stimmt nicht mit dem ungeborenen Kind. Voraussichtlich wird es behindert sein, doch entscheidet man sich im neunten Monat wirklich noch für eine Abtreibung?


    Frau Roth entscheidet sich für die Geburt ihrer Tochter und lässt uns an dem Alltag mit einem behinderten Kind teilhaben. Offen und ehrlich schildert sie hier, dass es eben nicht nur schöne Momente gibt und man oft am Zweifeln ist, ob die getroffene Entscheidung auch wirklich die richtige war, denn in den ersten Lebensmonaten heißt es für Lotta erst einmal nur kämpfen ums Überleben. Die Autorin berichtet von starrenden Passanten, notwendigen Therapien, Alltagsproblemen und den regelmäßigen Kämpfen mit Ämtern, um Fördermittel und Unterstützung zu bekommen. Auch die Belastung der Beziehung der Eltern wird hier beleuchtet.


    Das Buch rüttelt wach und bringt einen als Leser reichlich ins Grübeln, denn man stellt sich bald selbst Fragen. Wie hätte ich entschieden? Starre ich auch behinderte Mitmenschen an? Warum ist behindert sein nicht normal, wenn jeder 10. Deutsche davon betroffen ist? Wieso sind andere Länder bei Integration und Inklusion deutlich fortschrittlicher als wir?


    Das Buch hat mich wirklich sehr berührt und ich bin der Autorin unheimlich dankbar dafür, denn es ist sicher nicht leicht über etwas zu schreiben, das das eigene Leben komplett umgekrempelt hat.


    Fazit: Ein Buch, das in meinen Augen jeder gelesen haben sollte, es rüttelt wach und regt zum Nachdenken an. Ich kann nur meine absolute Leseempfehlung aussprechen und bin immer noch sehr bewegt...


    Bewertung: 10/ 10 Eulenpunkten

  • Ich schließe mich den begeisterten Rezis an. :write
    Wirklich ein berührendes und fesselndes Buch. Sandra Roth erzählt die Geschichte ihrer behinderten Tochter offen und sie lässt den Leser an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben. Sie berichtet nicht nur von der Beziehung zu ihrer Tochter, sondern auch von den Kontakten zu Ärzten, Therapeuten, Erziehern, Verwandten, Freunden und Bekannten. Diese Begegnungen fand ich besonders interessant, haben sie mich doch immer wieder zum Nachdenken gebracht, wie wir mit behinderten Menschen umgehen.
    Lottas Krankheit schildert sie mit einer angenehmen Dosis Fachwissen, genau so viel, dass man als Laie versteht, um was es geht, aber nicht mehr.
    Ihre Angst und Sorge um Lotta fand ich genauso berührend wie die Freude über kleine Fortschritte.
    Ein lesenswertes Buch! 10 Punkte!

  • Die Situation ein behindertes Kind zu haben, wird hier nicht dramatisiert, sie wird aber auch nicht schön geredet. Sandra Roth hat einen Humor, der mir gut gefällt. Er ähnelt meinen eigenen Humor.


    Ich habe selber einen behinderten Sohn. Während des Lesens kamen bei mir immer wieder Erinnerungen hoch. Und das, obwohl mein Sohn nicht so schlimm behindert ist wie Lotta und er mittlerweile auch schon erwachsen ist. Und auch sonst führen Sandra Roth und ich zwei völlig unterschiedliche Leben. Aber trotzdem kamen mir einige Dinge bekannt vor. Wo ich dachte: "Genauso erging es mir damals auch" oder "Zum Glück liegt das schon lange hinter mir".


    Ich würde mich echt freuen, wenn Sandra Roth eine Fortsetzung schreiben würde.


    10 Punkte