'Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown' - Seiten 001 - 096

  • Im ersten Abschnitt lernen wir Henry kennen, der unabsichtlich wegen seines verdächtigen Innenlebens auf dem Wiener Flughafen die seit 9/11 verschärft kontrollierenden Sicherheitsorgane in Unruhe versetzt. Zwar tritt die ihn begleitende Schriftstellerin wortgewandt und beherzt für ihn ein (Ministerpräsident/Osama*g*), aber wirklich beruhigen tut ihn das nicht, immerhin war von "aufschneiden" die Rede! Er prostestiert, fleht, aber die beteiligten Menschen hören ihn nicht, nur wir. Und das war bereits die erste Faszination für mich: Mir war, als höre ich ihn wirklich. Ängstlich, natürlich, weise, oft auch etwas fatalistisch, aber nie wirklich böse. Um auf die "Aufschneider" zu warten, wird Henry in einen abgeschlossenen Raum verbracht, ganz allein mit einer nervenden Fliege und einer knisternden Leuchtröhre. Dort erzählt er uns seine Geschichte. Manchmal kann sie einen fast zu Tränen rühren. Was heisst FAST? Sie kann. Punkt. Und dann kommen wieder - zumindest für uns - lustige Szenen, wie zB die des Kennenlernens mit "Tiger". Durchsetzt ist das Ganze mit unglaublich vielen Anmerkungen, denen ein "Auf der Zunge zergehen lassen" angemessen ist.
    Z.B.
    "Wir wissen, dass man Liebe nicht einfach in einem Krieg vernichten kann.
    ...denn die Liebe ist das Wertvollste, was es gibt.
    Die Liebe ... ist nichts, was man sich nehmen kann. Sie kommt zu dir. Sie wird dir geschenkt."
    oder:
    "Wer nicht sprechen kann, wird nicht gehört. Wer nicht gehört wird, kann seine Meinung nicht sagen. Wer seine Meinung nicht sagen kann, stimmt (zumindest augenscheinlich) zu. Ich war ein vermeintlicher Ja-Sager. Dieser Umstand erschien mir von Anfang an als fürchterliche Zwangslage"
    oder:
    "In ihrem Herzen sind alle Erwachsenen Kinder, das weiß ich genau. Die einen mehr, die anderen weniger deutlich. Aber kaum einer steht dazu. Fragen Sie mich nicht, warum."


    EDIT: Das zweite Zitat bzw. dessen Wahrheitsgehalt wurden mir an drei Stellen besonders deutlich:
    1. als Alice Henry auf dem bahnhof verlor und sein Rufen nicht hörte
    2. als die Kinder ihn neu benamsten ("SCROOGE!?")*g*
    3. als er die Vasenangelegenheit nicht aufklären konnte
    (von der Flughafenszene mal ganz abgesehen*g*)

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

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  • Heute morgen habe ich begonnen und ich war von Anfang an „drin“ in der Geschichte. Ich kann mir die Fensterbank vorstellen, auf der Henry sitzt und über sein Leben sinniert und Alice in Kleiderfragen „berät“ (ich musste googeln, was ein „Cloche“ ist – tres chic).



    Er wägt seine Fähigkeiten ab (er kann sehen und hören und denken, er hat einen Namen und eine Freundin) und beschließt, die Nachteile (er kann nicht sprechen und sich nicht bewegen) einfach auszublenden.
    Das „N“, das ich als Ergänzung zum Namen sehr schön fand, ist für Henry eine Schmach. Es bedeutet für ihn eben: nur fast braun zu sein.



    Alice fährt nach London und nimmt Henry mit. Da stellt sich mir die Frage, wollte Alice Henry an die Kinder ihrer Schwester verschenken oder hat sie ihn als Begleiter mitgenommen. Ich glaube, das Letztere! Unter dramatischen Umständen verliert Alice Henry auf dem Bahnhof und Henry kommt in eine neue Familie, die tatsächlich zu seiner Freude Brown heißt.


    Bis hierhin finde ich es wunderbar zu lesen. Leider werde ich wohl nie erfahren, was aus Alice und Cathy geworden ist.


    Ich möchte auch eine Stelle zitieren: „In meiner Schreckstarre hatte ich alles über mich ergehen lassen. Nicht, dass ich mich hätte widersetzen können, aber ich hatte nicht einmal wehrhafte Gedanken.“


    Ich freue mich auf die nächsten Seiten!!! (Ich werde versuchen, langsam zu lesen)


  • Über "Cloche" bin ich auch gestolpert, habe es aber dann doch jedesmal wieder (ich lese es gerade zum 4. Mal und dies nicht deshalb, weil ich es immer noch nicht verstanden habe!!*g*) zu googlen vergessen.
    Die Alice betreffende Überlegung hatte ich auch kurz, vermute aber ebenfalls, dass es ihr ihrem Verehrer gegenüber nur ein wenig peinlich war, zuzugeben, einen Teddy nur als Reisebegleiter mitzunehmen. Obwohl der sie mE eh durchschaut hatte, immerhin beauftragte er Henry ja, auf Alice achtzugeben.
    Was aus Alice und Cathy geworden ist? Das kann ich dir sagen: Für mich hat Alice irgendwann doch noch zu Milton gefunden. Denn es können vielleicht zwei große Lieben in einem Herzen Platz finden. Und dann haben sie, wie der Zufall manchmal so spielt, eines Tages ein neues Mädchen namens Cathy eingestellt.
    Ob sie sich irgendwann mal zufällig über Teddies unterhalten?

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Ah. Die selbsternannte "Stimme der Vernunft" ist da! :grin
    Danke, Herr Beowulf :anbet
    Solche Dinger hatten Fleur Forsyte-Mont und ihre Freundinnen auch auf...

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • ich muss sagen, dass mir der Anfang ziemlich schwer gefallen ist. Ich bin einfach eingeschlafen ;-) und dachte darüber nach, dass das Alice-Kapitel doch ziemlich langweilig ist. Zumindest zu Anfang.
    Dabei hat es auf dem Flughafen so nett angefangen.
    Nun gut, inzwischen bin ich bei Victor und seiner Familie.
    Ich persönlich fand diesen Zusatz Nearly ganz hübsch und Henry hat er doch auch gefallen. Ganz im Gegensatz zu seiner erneuten Namensgebung, tja ist doch recht schwierig, wenn man nicht sprechen kann, hätte er es gekonnt würde die Geschichte eher ins Märchenreich gehören.


    Es tat mir fast leid Alice gehen zu lassen und ich hoffe wirklich, dass Milton bei ihr eine Chance hat.

  • Als ich das Buch zum ersten Mal las, hatte ich mit dem Anfang und den Flughafeneinschüben während der Lebensgeschichte und auch mit den ständig wechselnden Szenarien (und den von diesen quasi bis auf wenige Male zurückgelassenen losen Enden) ebenfalls leichte Probleme. Aber ich bin meistens eine Schnellleserin und kam dann doch gut rein (und inzwischen geniesse ich fast jede Szene). Mit dem Abstand des komplett gelesenen Buches finde ich auch die Einschübe und die "Patchwork"artige Geschichte passend, denn so oder so ähnlich würde es doch tatsächlich geschehen sein können, wenn man sich den "Lebenslauf" eines Teddies von 1921 bis heute vorstellt. Obwohl es natürlich auch welche geben mag, die innerhalb einer Familie weiterverbt worden oder einer Entrümpelungsfirma in die Hände gefallen sind.

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Henry N. Brown wird am 16.Juli 1921 geboren. Er erblickt das Licht der Welt, als ihm das 2. Auge angenäht wird. Im stolzen Alter von 80 Jahren findet sich Henry auf einem Flughafen wieder. Er ist das Gepäckstück einer Schriftstellerin, die durch seine Anwesenheit in Probleme gerät. In Henrys Brust befindet sich nämlich die Liebe, was das Röntgengerät am Airport anzeigt. Geschürt von Terrorängsten beschließen die Flughafenangestellten seine Brust zu öffnen, um sicher zu gehen, daß sich nicht gefährliches in ihm befindet. Wie Bürokratie jedoch oft ist, dauert dieses Unterfangen ewig, muß erst von höherer Stelle genehmigt werden. Diese Zeit des Wartens nutzt Henry um den Lesern seine Lebensgeschichte zu erzählen.


    Gleich nach den ersten Seiten habe ich Henry in mein Herz geschlossen. Seine Geschichte läßt sich wunderbar lesen. Ich bin neugierig auf das, was Henry noch alles erleben wird.

    Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne. (Jean Paul)



  • Mich hat bisher am meisten die Szene auf S. 34 berührt, als Henry unsanft die Bekanntschaft mit dem Tiger macht und er hilflos auf dem Boden liegt, dem Schicksal und guten Willen von Alice ausgeliefert und die zuerst trüben Gedanken, die er sich über sich selbst macht.


    Vor einiger Zeit habe ich "Schmetterling und Taucherglocke" von Bauby gelesen, der Bericht eines Mannes mit dem Locked-In Syndrom und einiges von dem, was Henry so erzählt, erinnert mich an diese Schilderung.

  • Wenige Seiten habe ich erst lesen können, bisher gefällt es mir sehr gut, besonders die Anspielungen. Ob Henry wohl weiß, dass Rita Mae (Seite 24) katzenverrückt ist? Aber na ja, die Erwähnung des Namens lässt ja keine Rückschlüsse zu, wie er zu ihr stehen würde. An unfreundlichen Tagen könnte man sich allerdings vielleicht dazu überreden, sich seiner Meinung über Miss Bennett und Mister Darcy (Seite 38) anzuschließen. :grin

  • Zitat

    Original von Nick



    Ich möchte auch eine Stelle zitieren: „In meiner Schreckstarre hatte ich alles über mich ergehen lassen. Nicht, dass ich mich hätte widersetzen können, aber ich hatte nicht einmal wehrhafte Gedanken.“


    Nun ja, der Teddy drückt sich sehr gewählt aus und gleichzeitig etwas altertümlich. Das hat die Autorin ganz gut hinbekommen.
    Der Stil und vor allem das Tempo wie die Geschichte voranschreitet ist für mich fast zu behäbig, aber Teddies sind ja nicht die Schnellsten :grin

  • Genau, damals ging vieles noch nicht so schnell wie heute. Und je näher wir dem Zweiten Weltkrieg kommen, desto mehr geht an "Idyllischem" verloren.
    Abgesehen davon, selbst in einem Action-Krimi rasen die Polizeiautos nicht rundumdieUhr mit jaulenden Sirenen herum - ganz zu schweigen vom realen Leben. :wave

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Schön, dass es losgeht und noch viel schöner, dass Du, liebe Anne Bubenzer, dabei bist!
    Mir hat der erste Teil auch sehr gut gefallen, man kann sich die Aufs und Abs im Gefühlsleben des kleinen, fast-braunen Teddybären so richtig vorstellen. Besonders mochte ich immer jene Stellen, an denen wir an seinen Philosophien, wie er sich die Welt zurechtzulegen versucht, folgen können. Ich sage nur "Paddington" oder "Brown".
    Schade, dass er so unsanft von Alice getrennt wurde, aber wer weiß, ob allein die Beziehung Alice-Henry das ganze Buch getragen hätte. Leo hat ihn sehr enttäuscht. Aber wie sagt er selbst: Das Herz eines Bären ist eben doch größer als sein Verstand. :-)

    Mögen wir uns auf der Lichtung am Ende des Pfades wiedersehen, wenn alle Welten enden. (Der Turm, S. King)


    Wir fächern die Zeit auf, so gut wir können, aber letztlich nimmt die Welt sie wieder ganz zurück. (Wolfsmond, S. King)


    Roland Deschain

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Findus - und die Zeit war auch etwas geruhsamer. Ich bin gespannt, ob sich das Tempo im Lauf des Buchs verändert.


    Mir gefällt auch gut, dass auch die Ungerechtigkeit und Ungleichheit in der "guten Gesellschaft" angesprochen wird. Es bewahrt das Buch davor, gar zu idyllisch zu werden.


    Es ging ja vor allem in der "Guten" Gesellschaft ungerecht zu. Sie hielten sich doch alle füe ertwas BESSERES.
    Die Besser Gestellten hatten doch überhaupt keine Ahnung, wie die downstairs zu kämpfen hatten.


    Und ich glaube nicht, dass die damalige Zeit in den Augen derer, die damals lebten geruhsamer war. Das kommt uns nur im Rückblick so vor.
    Ich möchte nur gerne wissen, was Leo geritten hat, Cathy derart zu drangsalieren und dann nicht zu seiner Tat zu stehen. Die Erziehung sollte doch ein Garant sein, sich anders zu verhalten und die alten Muster zu verlassen, was der Vater doch immer betont. Vor allem, dass die Eltern trotz besseren Wissens Cathy die Schuld geben und sie dafür bezahlen lassen. Es sind doch erwachsene Menschen mit einem eigenen Urteilsvermögen. Da wollen sie so aufgeklärt sein und wenn es drauf ankommt sind sie feige, das passt für mich überhaupt nicht.

  • Das passt m.E. sehr gut. Der Druck der Gesellschaft als Erwartungshaltung hat eben viel zu sagen. es gibt Dinge die "man" nicht macht. Das war damals nicht anders als heute- auch wenn den Begriff political corectness noch keiner kannte.

  • Ich glaube auch, dass die damaligen Leute ihre Zeit nicht als geruhsam empfunden haben, aber aus unserer Sicht war sie es mE tatsächlich. Allein das Verbreiten von Nachrichten ist, obwohl Telegramm etc schon erfunden waren, doch viel langsamer gegangen als das Twittern, Mailen etc von heute. Und das Reisen von damals. Trotz Fliegereianfängen doch nicht zu vergleichen.
    Wer upstairs und wer downstairs war, erlebe ich immer wieder unterschiedlich. Mal heisst es, downstairs sei die Küche und seien auch die Zimmer der Diener. Dann wieder heisst es, upstairs, da, wo man Treppen steigen müsse, eng unter dem Dach, wären die Kämmerchen der dienstbaren Geister gewesen.
    Was die Cathy-Frage angeht: Leo war in den Flegeljahren. Er wollte Macht ausüben und vielleicht sogar ein wenig Eifersucht überspielen. Die Reaktion der Eltern halte auch ich für falsch, aber aus ihrer Sicht verständlich. Trotz aller sozialer Einstellung - das Gesicht musste gewahrt werden.

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Ich denke, da hat Beo ganz recht - die gesellschaftlichen Zwänge können wir uns kaum mehr vorstellen. Da wurden auch persönliche Überzeugungen über Bord geworfen.


    Und Leo hat die Ungleichheit ja jeden Tag erlebt. Denn selbst wenn die Dienstboten in dieser Familie vermutlich recht gut behandelt wurden - von Gleichheit, auf Augenhöhe miteinander stehen, davon war man weit entfernt.
    Kinder schauen sich das ab, was man tut, nicht das, was man als Ideal verkündet.
    Und vielleicht hatte er ja auch einen Hang zu Grausamkeit?