Fragen an Anne Helene Bubenzer

  • Lieber Maikäfer,


    eine komplexe Frage die du da stellst. Und gar nicht so einfach zu beantworten.
    Ich werde es trotzdem versuchen, mal sehen ob was brauchbares dabei rauskommt...


    Also gleich vorweg, ich hab noch nie einen Krimi geschrieben und weiß ganz genau, dass ich das auch gar nicht könnte, weil mir dazu einfach die kriminelle Phantasie fehlt. Es interessiert mich schlicht und einfach nicht genug. Außerdem gibt es ja schon ausreichend Krimiautoren auf der Welt.


    Was mich allerdings interessiert sind Menschen mit all ihren Facetten, mit ihren guten und schlechten Seiten, Abgründen und Fähigkeiten. Und das war letzlich auch das, was mich an Henrys Geschichte am meisten fasziniert hat - ich hatte die Möglichkeit, viele unterschiedliche Menschenschicksale anzuschauen und darzustellen. Henry ist dabei natürlich eine ideale Figur - denn durch die ihm innewohnende Naivität konnte ich einen Blick auf die Menschen und ihre Geschichte werfen, der einem sonst versagt bleibt. Oder sagen wir, der sonst maximal von einem Kind akzeptiert wird - und wenn das dann schlaue Gedanken denkt, gilt es als altklug und das finden alle doof. Ein Bär darf naiv sein. Und trotzdem weise.


    Was das betrifft, kann man natürlich schon von Handwerk sprechen. Henrys Attribute habe ich bewusst eingesetzt und versucht, seine "Bärigkeit" sowohl gedanklich als auch emotional herauszustellen.
    Was aber die Geschichten der Menschen angeht, die im Buch vorkommen - und letztlich sind es ja ihre Geschichten, um die es geht - Henry bleibt ja trotz allem Beobachter und sieht nur das von der Welt, was sie ihm gestatten zu sehen - ist viel eigene Emotionalität miteingeflossen. Ich glaube, das kann man kaum verhindern (jedenfalls ich nicht). Wenn Emotionen keine hohlen Phrasen sein sollen, wenn sie spürbar und nachvollziehbar sein sollen, muss man die eigene Klaviatur bemühen. Das heißt nicht unbedingt, dass man die Geschichten dazu selbst erlebt haben muss. Das ist letztlich die Kunst der Fiktion: Dass man in der Lage ist die eigene Emotionalität in neuem Gewand erscheinen zu lassen.


    Klingt jetzt vielleicht alles hochgestochen. Ich weiß nicht. Aber wenn du mich fragst, dann liegt für mich die Herausforderung beim Schreiben darin, handwerkliches Können mit eigenen Emotionen zu einer guten Geschichte zu verbinden.


    Ich habe ja viele Jahre als Lektorin gearbeit und unendlich viele Texte redigiert. Man sollte also meinen, dass ich theroetisch in der Lage sein sollte, genau zu sagen, wie ein Text gestrickt sein muss, um zu "funktionieren". Ja, aber in der Praxis sieht es dann eben doch so aus, dass die Worte sich einfach aufs Papier schleichen und das theoretische Wissen plötzlich mehr eine Ahnung ist ...

  • Danke, liebe Anne, dass du dir die Zeit für so eine ausführliche (und auf mich gar nicht hochgestochen wirkende) Antwort genommen hast. So ungefähr hatte ich mir das vorgestellt, oder sagen wir, gewünscht, dass es so sei.
    :anbet :wave

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Zitat

    Original von Abhabe
    Wo wir so viel über Zeit und die Langsamkeit des Bären gesprochen haben: Es ist schon interessant, wie dieses Buch sich über Jahre hinweg hält. Ganz geduldig geht es seinen Weg.


    Was ich daneben ganz erstaunlich finde: Die Bandbreite der Leute, denen man das Buch ans Herz legen kann, ob das nun ein "Ist-doch-alles-doof"-Teenie ist oder eine vielbeschäftigte Hausfrau mit überhaupt keiner Zeit für Bücher, einem Rentner mit zu viel Zeit, sogar jemandem,

    , konnte ich damit eine Freude machen. Das spricht doch für sich! :anbet


  • Ich finde, Du hast das sehr gut hinbekommen. Die Denkweise Henrys ist kindähnlich, wobei die ja auch nicht alle gleich sind. Ich habe Kinder kennen gelernt die sich sehr gut in andere hineinversetzen konnten und andere wieder, die schon im Vorschulalter eine gewisse Kaltschnäuzigkeit entwickelten.


    Hattest Du eine Intention, an wen das Buch gerichtet ist?? Weil ich denke auch, dass man da schon sehr gut mit älteren Kindern (Jugendlichen)lesen könnte aber auch für Großmütter, wie mich :lache geeignet ist.

  • Zitat

    Hattest Du eine Intention, an wen das Buch gerichtet ist?? Weil ich denke auch, dass man da schon sehr gut mit älteren Kindern (Jugendlichen)lesen könnte aber auch für Großmütter, wie mich :lache geeignet ist.


    Lieber Findus.
    Nein, eine bestimmte Zielgruppe hatte ich nicht vor Augen. Ich denke, dass es vielleicht ein sog. All Age Buch ist, außer einem offenen Herz und ein bisschen Neugier braucht man wohl nicht viel mitzubringen ...
    Ein kleines italienisches Mädchen hat mir stolz geschrieben, Henry sei ihr erstes "Erwachsenenbuch" :-) dann hat sie mit ihrem Vater das Projekt gestartet, die Geschichten all der Figuren weiterzuspinnen, die Henry unterwegs verloren hat, weil sie so gerne wissen wollte, wie es ihnen ergangen ist.
    Aber es kam auch ein Brief von einer Dame die weit über achtzig war und sich so lebhaft an ihre Jugend erinnerte - offenbar hat jeder für sich etwas gefunden, das ihn berührt hat!

  • Das ist schön. Ich meine das italienische Mädchen, mir geht es ähnlich wie ihr, ich würde auch gerne wissen, wie es den einzelnen Personen so ergangen ist.
    Aber es ist eben eher ein Episodenroman und da ist Henry´s Reise ist wichtiger als die einzelnen Schicksale zu vervollständigen.


    danke für die Antwort :knuddel1

  • Eben. Henry gab jedem, was er geben konnte. So wie dieses Buch jedem seiner Leser. Die Menschen sollten es daher vielleicht vom Arzt auf Rezept verschrieben bekommen. :-)

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)