Vorneweg ein Warnhinweis:In der Rubrik "Krimi" ist dieses Buch irgendwie nicht so ganz richtig aufgehoben, er könnte genausogut bei den Klassikern stehen. Letztlich habe ich mich aus Gründen der Rezi-Reichweite doch für diese Rubrik entschieden, es wäre schade, wenn dieser tolle Roman bei den Klassikern verschimmeln würde.
Island um 1800. Am Rande einer kleinen Insel am Rande der Welt. Bjarni lebt mit seiner Frau Gudrun auf einem einsamen Hof in den Westfjorden, mit einem Stall voller Kinder, in einer Landschaft, die sich nur mit viel Aufwand den Lebensunterhalt abtrotzen lässt.
Seine beiden ältesten Söhne, seine geliebten Jungbauern, zehn und acht Jahre alt, sind „am Husten“ gestorben, und Bjarni versinkt in tiefe Trauer
Das ändert sich, als Jón und seine schöne Frau Steinunn mit auf den Hof ziehen. Sofort bereiten sich Gerüchte im Dorf über die Zustände in Sjöundá. Als der bärbeißige Jón eines Tages verschwindet, angeblich von den Klippen gestürzt, und kurze Zeit später auch die kränkelnde Gudrun stirbt, ist allen klar: Bjarni und Steinunn unterhalten eine ehebrecherische Beziehung und haben dann gar ihre Ehepartner ins Jenseits befördert, um frei füreinander zu sein.
Ein Gericht soll nun klären, was wirklich geschehen ist, und im Schuldfall die Todesstrafe verhängen.
Die Geschichte erzählt der junge Kaplan der Gemeinde, der anlässlich des Todes seines einzigen Sohnes Rückschau hält und sich dieser lange vergangenen Ereignisse erinnert.
Und das ist, neben dem eigentlichen Kriminalfall, ein ziemlich überraschender Einblick in das Leben einer isländischen Landgemeinde. Das ist keineswegs ein harmonisches Leben in Einklang mit der Natur, zu dem es in späteren Zeiten verklärt wird, sondern ein stetiger Kampf gegen die Natur, voller Entbehrungen und Unwägbarkeiten. Hinzu kommt ein vor-aufklärerisches Gesellschaftsklima, voller Bigotterie, zementierter Hierarchien und Willkür der Obrigkeit: die Reichen und Mächtigen können nahezu unbeschränkt über das Leben derer am unteren Ende der sozialen Leiter verfügen.
Diesen Roman, der auf einer wahren Begebenheit beruht, könnte man durchaus als historischen Kriminalroman bezeichnen, auch wenn dieses Genre bei seiner Entstehung, 1929, noch gar nicht existierte. Doch entgegen unserer Lesegewohnheiten, geht es nicht darum, was denn nun genau geschehen ist, sondern er zeigt vielmehr, dass es so etwas wie die einzige Wahrheit nicht gibt.
Das Gericht, zusammengesetzt aus Dorfhonoratioren, ist vollkommen außerstande, ein auch nur annähernd faires Urteil zu fällen. Selbstherrlichkeit und Engstirnigkeit, ohne auch nur einen Hauch Empathie, rücken die Möglichkeit eines gerechten Urteils in weite Ferne.
Aber auch die Angeklagten machen es uns nicht einfach: sie verstricken sich in Widersprüche, sie halten zusammen und verraten sich doch gegenseitig. Sind sie eigentlich gut, und nur ein bisschen böse, oder doch andersrum? Gunnarsson überlässt dem Leser die Entscheidung, wie er sich überhaupt keinerlei Urteil anmaßt.
Denn auch der Chronist, der Ich-Erzähler Eiúlfur, sitzt zwischen allen Stühlen. Als Geistlicher ist er für das Seelenheil der Angeklagten verantwortlich, als tiefgläubiger Mensch widerstrebt es ihm, andere Menschen in den Tod zu schicken. Andererseits ist er auch Teil der Obrigkeit und so für die Verurteilung zumindest mitverantwortlich.
Die Sprache Gunnarssons ist wunderbar lebendig, oft nachdenklich, aber manchmal auch derb. Probleme bereiteten mir nur die Namen, denn offenbar war die Auswahl im alten Island eher beschränkt, oft tragen verschiedene Menschen den gleichen Namen, was mich manchmal kurz aus dem Konzept brachte. Aber irgendwann war doch recht schnell,von welcher Gudrun nun schon wieder die Rede ist.
Für mich war dieser Roman ein Ausflug in eine völlig fremde Welt, in der immer noch aktuelle Fragen nach Schuld und Sühne, Loyalität in wunderbarerweise behandelt werden.