Inhalt
Die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich spielt in Alexander Kluges Werk eine wichtige Rolle. Die Judenvernichtung bildet dabei ein gravitatives Zentrum. Die Schwierigkeit, den Holocaust mit den Mitteln der Kunst zu erfassen, liegt aber darin, dass die klassische literarische Form – wie Adorno festgestellt hat – bei Auschwitz nicht greift.
Umso wichtiger, dass man die Erfahrung der eigenen Zeit, der Jetzt-Zeit, immer wieder in diesen geschichtlichen Absturz hineinhält, sie darin »eicht«. Dauerhaft und beharrlich gilt es weiterzuerzählen: vom Versagen der Eliten, von der Rasanz eines behördlich organisierten bösen Willens, von der extremen Seltenheit der Rettung.
»Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter« ist ein Buch über bittere Schicksale, bekannte und unbekannte, aber vor allem auch über Organisationsformen, die Menschen vernichten.Gewidmet sind die 48 Geschichten dem entschlossenen Kämpfer für Gerechtigkeit, Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt des Landes Hessen während der Auschwitzprozesse.
Der Autor:
Alexander Kluge, geboren am 14. Februar 1932, studierte in Marburg und Frankfurt/Main Rechtswissenschaften, Geschichte und Kirchenmusik. Nach seiner Zulassung als Rechtsanwalt absolvierte er ein Volontariat bei dem Filmregisseur Fritz Lang und betätigte sich mit Erfolg als Filmemacher und literarischer Autor. Er erhielt zahlreiche Preise, unter anderem den Deutschen Filmpreis 2008 (Ehrenpreis), den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis.
Meine Meinung:
Klappbroschur, 117 Seiten. Drei Fotos, davon eines Fritz Bauer am seinem Schreibtisch zeigend.
48 Geschichten seien es, sagt der Untertitel, so muss denn wohl die 49. als eine Art Vorwort fungieren. Abschließend eine Widmung und der Index.
Keine Anmerkungen, einige Fußnoten, keine weiterführenden Hinweise.
Der Band ist Fritz Bauer (1903 - 1968) gewidmet, die 49. (und vorangestellte) Geschichte erzählt von seiner Beerdigung. Zu dem großen Juristen könnte man viel erzählen, erwähnen möchte ich nur Stichpunkte: Mitgliedschaft in der SPD seit 1920, 1933 verhaftet, nicht nur deshalb, sondern auch und erst recht, weil er Jude war. Achtmonatige KZ-Haft, 1936 Emigration nach Dänemark und später nach Schweden. Rückkehr nach Deutschland 1949, Eintritt in die Justiz, anfangs Landgerichtsdirektor in Braunschweig, dann Generalstaatsanwalt. 1956 vom hessischen Ministerpräsidenten Zinn „abgeworben“, seitdem hessischer Generalstaatsanwalt in Frankfurt/Main bis 1968. Als Ankläger verantwortlich für einige der großen Nazi-Prozesse, unter anderem dem Remer-Prozess (1952 – in dem rechtskräftig festgestellt wurde, dass der NS-Staat eben kein Rechtsstaat, sondern im Gegenteil ein Unrechtsstaat war und der ebenso rechtskräftig die Legitimation der Widerstandsgruppe um Stauffenberg feststellte) und natürlich dem ersten Auschwitz-Prozess, dem zwei weitere folgten. Auf seine Informationen hin konnte Adolf Eichmann in Argentinien gefasst und in Israel der Prozess gemacht werden.
Zwei Texte mögen die Arbeit und das Wirken Fritz Bauers, seine Rechtsauffassung, was ihn antrieb und die Schwierigkeiten, politisch wie gesellschaftlich, mit denen er zu kämpfen hatte, verdeutlichen:
Ein Text von Frau Dr. Wojak, die auch eine sehr gute Biografie über ihn geschrieben hat, und einer von Georg Bönisch.
48 Geschichten, von Seite 13 bis Seite 111, da bleibt nicht viel Raum für jede einzelne von ihnen. So reichen sie auch von wenigen Sätzen bis zu wenigen Seiten, die längste hat gerade einmal 5 ½ davon. Wie Konzentrate wirken sie, Schlaglichter, Momentaufnahmen fast, eingefangen und hängengeblieben in einem großen Netz, dem der Judenverfolgung. Nicht nur, aber hauptsächlich der durch die Nationalsozialisten. Den Alltag fangen sie ein, den der Opfer, den der Täter. In fast allen: Schrecken, Entsetzen, wo nicht bei den Personen des Textes, so beim Leser. Zeit und Raum zum Aufatmen, zum Luftholen bleibt kaum, für mich allenfalls bei Geschichte 46 (resp. 47), Spinozas Gedanken zu Gut und Böse reflektierend, vielleicht noch bei Geschichte 48 (resp. 49), ein Religionsgespräch zwischen einem protestantischen Pfarrer und einem Rabbi im Jahre 1941 beschreibend, Schuld und Gottes Willen behandelnd.
Alles kommt vor: Unter anderem eine Mutter, die um ihr Kind kämpft, Massenerschießungen, wobei aber auf den Feierabend zu achten ist, gute und schlechte, sprich schlampige, weil Zuständigkeitsbereiche überschneidende Organisation, der Vernichtungswille, Beschaffung und Einsatz von Zwangsarbeitern, die Notwendigkeit, die Hinrichtungsstätten und Lagermöglichkeiten für die Ermordeten „ansprechend“ durch Architekten gestalten zu lassen, die Erfindung einer Knochenmühle und ihr Ge- bzw. Missbrauch. Handlungsorte: Stätten, an denen Juden verfolgt, misshandelt, deportiert, getötet wurden, wie Budapest, Nizza, Rom, Deutschland natürlich.
Das kommt alles so nüchtern daher, so scheinbar sachlich, fast bar jeden Gefühls. Nur manchmal bricht da etwas aus der Reihe, kommt eine Frage auf, eine Bemerkung, die den fast dokumentarischen Charakter durchbricht, kleine Details, die man allzu leicht überliest, nicht als das wahrnimmt, was sie eigentlich sind, nämlich Wertungen, Positionierungen - wenn beispielsweise die Frage gestellt wird, was ein Eingreifen zugunsten eines jüdischen Deportierten einem hochrangigen Vertreter seines Berufsstandes gekostet hätte, wenn erwähnt wird, was einem Gemeindevorsteher nie wieder passierte, nachdem der Golem ihn überführte.
Die Texte sprechen und widerspiegeln die Schuld, die der aktiven und der Schreibtischtäter, die derer, die wegschauten, auch die der Alliierten. Sie sprechen von Hierarchien und Denkmustern bei den Nazis, davon, wie Holocaust theoretisch und praktisch funktionierte. Sie zeigen mir auch die kleinen Gesten der Hilfe und Hilfsbereitschaft, die sich trotz allem immer finden ließen und lassen. Kluge bietet mir als Leser kaum Hilfe, überlässt die Wertung mir, macht mich zu mehr als nur zu einem Leser, er überlässt erst recht das Urteil mir. Das gelingt – wenigstens in meinem Fall – gerade durch diese nüchterne, so konzentrierte Darstellung, mein Fokus ist auf den Text, den „Fall“ gerichtet, eine Neutralität meinerseits ist kaum möglich. Kluge macht mich überspitzt gesagt zum Ankläger und Richter in einer Person.
Für mich verweist dieser Band mit seinen wie Dokumente daherkommenden Geschichten auf die Arbeit Fritz Bauers. Fast jeder Text könnte Ausgangspunkt für eine Ermittlung, Grundlage für eine Anklage sein. Be- und Entlastendes wird verzeichnet, Fakten registriert, Täter und Zeugen sowie Opfer benannt. Sie verdeutlichen aber auch, mit welchen Schwierigkeiten Fritz Bauer und sein Anklägerteam zu kämpfen hatten: Vor Gericht werden die Täter später sagen, sie hätten ja einen Eid geschworen, sie wären ja „nur“ Befehlsempfänger gewesen. Schuld könnten sie deshalb ja gar nicht auf sich geladen haben. Es wird Stimmen – viele, politische, gesellschaftliche, kirchliche - geben, die an einer Aufarbeitung der NS-Verbrechen nicht gelegen sein wird, weil das Erinnerung daran auch das Erinnern an die eigene Schuld, das eigene Schweigen einschließt. Die Frage nach dem „Wie war das möglich“ können auch diese Texte nicht bis ins Letzte beantworten; es bleibt die Aufgabe des Erinnerns, um eine Wiederholung verhindern zu helfen, auch, wenn sich Fritz Bauers Wort, dass monströse Verbrechen die Eigenschaft hätten, für ihre Wiederholung zu sorgen, sobald sie in die Welt treten, allzu oft zu bewahrheiten scheint. Geschichte ist Wiederholung lautet ein anderes Wort, das mir nicht aus dem Kopf geht; von wem im Detail stammt, habe ich leider vergessen. Mir kam beim Lesen oft die auf CD-ROM und DVD festgehaltene Dokumentation des Auschwitz-Prozesses in den Sinn. Viele Texte hätten auch dort verzeichnet sein können.
Mir ist bewusst, dass ich weder dem Thema noch dem Buch mit meinen (dürftigen) Mitteln gerecht werden kann. Eine Vorstellung dieses Werkes wage ich trotzdem und möchte sie mit zwei Empfehlungen verbinden: Der, es zu lesen, und der, es langsam zu lesen. Das hat wenig mit Genuss zu tun, sondern ich habe die Erfahrung gemacht, dass seine Wirkung dadurch gesteigert wird, dass die Vernetzungen innerhalb der Texte besser zutage treten.
Alexander Kluges Buch hat mich beeindruckt, weil es auf fast extreme und minimalistische Art und Weise den ganz alltäglichen Schrecken, das Grauen des nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungswahns darstellt.
Meine Verneigung gilt – immer wieder – Fritz Bauer.
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