Jenseits der Finsterbach-Brücke - Antonia Michaelis (ab ca. 11 J.)

  • Lasse lebt mit seinem Vater Flint auf dem Norderhof mitten im Norderwald. Sein Leben ist nahezu idyllisch, er besitzt ein Pferd, Westwind, er kann mit Pfeil und Bogen umgehen, darf frei durch den Wald streifen. Die anderen Leute auf dem Hof sind freundlich. Almut, die etwa gleichaltrige Tochter der Köchin, ist eine gute Freundin. Aber Lasse ist nicht ganz glücklich. Ihm fehlt ein Freund. Bloß, woher nehmen?


    Joern lebt in der Schwarzen Stadt. Sie ist genau so, wie ihr Name, düster und schmutzig vom Kohlenstaub. Joern lebt mit seiner Mutter und vier Brüdern in einer winzigen Wohnung, ihr Leben ist bestimmt von der Arbeit in der Fabrik. Das Stadtgebiet endet an einem Wasserlauf in einer Schlucht, gleich dahinter steht eine Mauer. Hinter der Mauer, so heißt es in der Stadt, beginnt ein Sperrgebiet. Joern kennt die Mauer, er radelt oft dorthin. Sein Traum ist es, über die Mauer zu klettern und herauszufinden, wie es auf der anderen Seite aussieht. Eines Tages hilft ihm ein Zufall, er entdeckt ein Loch in der Mauer.
    An eben dem Tag ändert sich etwas auf dem Norderhof. Lasse findet ein totes Lamm. Seine Suche nach dem, der das Lamm getötet hat, führt in bis an die Grenze des Walds. Die Schlucht und die Mauer sind neu für ihn. Richtig aufregend aber wird es, als er jenseits der Schlucht einen Jungen sieht. Die Neugier siegt auf beiden Seiten, der dünne Stamm eines gefällten Baums hilft und gleich darauf steht Joern vor Lasse am Rand des Norderwalds.


    Damit entfaltet sich ein aufregendes, düsteres und verwickeltes Abenteuer, mit so vielen Wendungen, daß es nicht leicht ist, den Überblick zu behalten. Lasse und Joern, den Norderwald und die Schwarze Stadt verbindet weit mehr, als man zunächst denkt. Die Fäden werden nur langsam entwirrt, über die Hälfte der Geschichte tappt man in einem Dunkel, wie es in den Kohleminen unter der Stadt herrscht. Zu den beiden Familien gesellen sich ein Ungeheuer und ein Weißer Ritter im Wald sowie politische Unruhen in der Stadt und das Geheimnis um den Nachtspat. Wer Antonia Michaelis’ Bücher kennt, weiß, daß ihre Geschichten nicht ohne Leid ausgehen. Das Leid gibt es auch hier. Vor allem aber gibt es zahlreiche Fragen, die sich mitunter so schnell auftun, daß man durchaus den Überblick verlieren kann. Den zu behalten ist ohnehin nicht ganz leicht, weil die Autorin doch einige Verstrickungen zu viel eingebaut und zuviele Probleme angerissen hat.


    Die Welt, die geschildert wird, ist eine Fantasy-Märchenwelt mit genügend realistischen Elementen, daß man das Buch über weite Strecken durchaus als Metapher für die Geschichte einer unglücklichen Familie infolge elterlicher Fehlentscheidungen lesen kann. Für kindliche Leserinnen und vor allem Leser - die Geschichte zielt deutlich auf Jungen - ist es vornehmlich eine verwegen konstruierte Abenteuergeschichte. Dem jungen Publikum verdankt das Buch wohl auch den Schluß, der gemessen an der stets lauernden Düsternis zahm und ein bißchen gefühlig erscheint.


    Die Kapitelüberschriften sind mit Vignetten von Constanze Spengler verziert, die jeweils den Norderhof oder die Stadt zeigen, als Vorsatz dient eine schöne, bunte Landkarte. Mit ca. 350 ist das Buch relativ dick, fest gebunden ist es für Kinderhände so eben einigermaßen bequem zu packen, will man es nicht auf einem Tisch auflegen. Ein etwas dünneres Papier hätte hier geholfen. Das Buch ist auch nicht ganz leicht, als Wurfgeschoß gegen eventuell einfallende Ungeheuer wäre es durchaus dienlich. Gut gemachte Bücher sind etwas Schönes, aber es muß doch nicht immer ein Klotz dabei herauskommen.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus