Wer dieses Buch in die Hand nimmt, sollte sich zuerst darauf gefasst machen, dass es sich komplett anders liest als die zahllosen Regalmeter paranormaler Liebesromane, die sich um Vampire und Werwesen drehen. 'Das Geschenk der Wölfe' ist ein altmodisch geschriebenes Buch (was hier nicht negativ gemeint ist) - die Handlung entwickelt sich langsam und lässt sich viel Zeit, schwelgt über viele Seiten in Beschreibungen und verliert sich immer wieder in philosophischen Betrachtungen und langen Rückblenden. Zum raschen Herunterlesen ist das Buch nicht geeignet, man muss Geduld und Zeit mitbringen.
'Das Geschenk der Wölfe' wird aus der Sicht von Reuben erzählt, einem umfassend gebildeten und aufgrund seines Elternhauses sehr wohlhabenden jungen Intellektuellen, der darunter leidet, dass ihn alle Welt nur wegen seines guten Aussehens zu schätzen scheint. Seinen Job als Reporter verdankt er familiären Beziehungen - allerdings ist er dann überraschend gut darin. Seine Artikel kommen bei der Leserschaft hervorragend an. Reuben ist eingebettet in eine wohlhabende und wohlmeinende große Familie, einem strahlenden Idealbild amerikanischen Großbürgertums. Seine Mutter ist Chirurgin, seine Freundin eine Star-Anwältin, Geld spielt keine Rolle, es ist einfach unbegrenzt vorhanden. Ein perfektes Wohlfühl-Nest, das Reuben jedoch einengt.
Eines Tages soll er über das imposante Herrenhaus Kap Nideck berichten, das abgelegen an der nordkalifornischen Küste inmitten uralter Redwood-Wälder liegt. Die Tochter des Besitzers will es veräußern, nachdem ihr Vater seit 20 Jahren verschollen ist. Reuben verliebt sich sofort in das Haus, das zudem vollgestopft ist mit alten Sammlungen und Bibliotheken, und will es selbst kaufen. Doch bei einem Einbruch wird die Frau getötet und Reuben verletzt; ein mysteriöses Raubtier rettet ihm das Leben, indem es die Einbrecher niedermetzelt. Auch Reuben wird von ihm gebissen.
Danach geschieht etwas Seltsames mit ihm. Seine Sinne werden um ein Vielfaches schärfer, seine Wunden verheilen mit übernatürlicher Geschwindigkeit und bei Nacht verwandelt er sich in eine unnatürlich starke Wolfskreatur, die das Böse in anderen Menschen riechen kann. Doch damit fangen seine Probleme erst an.
Denn wie kann er seine Veränderungen seiner Familie erklären? Wer war die Bestie, deren Biss ihn infizierte? Und gibt es noch andere wie ihn? Während er auf der Suche nach Antworten die Geheimnisse von Kap Nideck erforscht, gerät die halbe Welt in Hysterie über den geheimnisvollen 'Wolfsmann' - über den ausgerechnet Reuben als Reporter berichten soll...
Anne Rice gehörte für viele Jahre zu meinen Lieblingsautorinnen; zuletzt hatte ich sie allerdings etwas aus den Augen verloren. Mit 'Geschenk der Wölfe', einem dicken Wälzer, legt sie den ersten Teil einer neuen Serie vor.
Ich bin zwiegespalten, was dieses Buch angeht. Einerseits hat es viel Tiefgang und setzt einen angenehmen Kontrapunkt in diesem Genre. Der weitschweifig beschreibende Stil und der halb-auktoriale Erzähler, der immer ein Stück über dem Geschehen zu schweben scheint, lesen sich oft beschwerlich. Man fühlt sich häufig verlockt, ein paar Seiten einfach zu überblättern und quer zu lesen. Ein Mittendrin-Gefühl kommt selten auf. Andererseits bleibt das Buch danach länger im Kopf hängen, man beschäftigt sich auch noch im Anschluss mit dem Geschehen. Die Beschreibungen, auch wenn sie sich ziehen, sind wunderbar farbig und malen ein prachtvolles Gemälde des alten Anwesens mit seinen Mysterien. Der moralische Konflikt, den Reuben als Wolfsmensch mit sich selbst austrägt (oder auch nicht austrägt) ist eine erfrischende Abwechslung von den typischen Klischees des Genres. Anne Rices Sprache ist melodisch und schön zu lesen.
Ein Wort noch zu erotischen und Gewaltszenen, die bei anderen Kritiken häufig als sehr unangenehm beschrieben werden: Das kann ich so nicht nachvollziehen. Erfreulicherweise geht Anne Rice nicht ins Detail, sondern blendet frühzeitig aus. Wer allerdings Pinup-Erotik wie in den meisten ParanormalRomance-Titeln erwartet, dürfte bitter enttäuscht werden. Es gibt sie schlicht nicht.
'Das Geschenk der Wölfe' ist nicht das Meisterwerk, das ich mir als Fan von Anne Rices Vampirbüchern erhofft hatte, dafür sind das Verhältnis aus Handlung und Beschreibung / Weltbetrachtung zu unausgewogen, die Charaktere zu fern, der Ton zu distanziert und der Spannungsbogen zu flach. Alles in allem ist es aber ein lesenswerter Roman, der jedoch nicht jedem gefallen dürfte.